Umso wichtiger ist es, der Berufsorientierung noch viel mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken, und das gerade vor dem hier zu Recht beschriebenen demografischen Wandel, was leider viele Unternehmen noch nicht ausreichend beachten.
Was tun wir im Wirtschaftsministerium dazu? Zum einen fördern wir Unternehmen, die genau dieses Problem erkannt haben, nämlich dass sie auf junge Leute zugehen und ihnen die Anforderungen und Chancen erklären müssen, statt immer nur über die mangelnde Ausbildungsreife zu klagen. Das Interesse an unserem Ende 2004 eingeführten Förderschwerpunkt ist groß. Seit Ende 2004 wurden 31 Projekte mit 3 051 Teilnehmern gefördert. Insgesamt wurden dafür mehr als eine halbe Million Euro bewilligt. Wir hoffen, bis Jahresende die Zahl verdoppeln zu können. Zudem haben 25 % der im vorigen Jahr zum Ideenwettbewerb „Fachkräftenetzwerke für die sächsische Wirtschaft“ eingereichten Projekte den wesentlichen Schwerpunkt auf Berufsorientierung gelegt. Auch solche Kooperationen wollen wir weiter fördern.
Wir werden im März 2006 das Projekt „Woche der offenen Unternehmen“ sachsenweit durchführen. Dies ist eine hervorragende Kooperationsleistung mit verschiedenen Regionalinitiativen, dem Staatsministerium für Kultus und den Arbeitsagenturen, für die ich allen Partnern sehr dankbar bin. Im fünften Jahr des Bestehens wurde aus einer kleinen Regionalinitiative im Chemnitzer Raum eine Aktion, in der 9 000 Schülerinnen und Schüler 460 Unternehmen besuchten und mit Unternehmern, Geschäftsführern oder Ausbildern über dort zu erlernende Berufe und Berufschancen gesprochen haben. In manchen Landkreisen wurden schon rund 80 % aller Mittelschüler der Klassenstufe 7 erreicht. Es besteht sicher Konsens, dass dies nicht ausreicht.
Wir im Wirtschaftsministerium wollen deshalb unsere Arbeit durch folgende Förderschwerpunkte ausweiten und verstärken:
1. eine Arbeitsgruppe aus Kultusministerium, Wirtschaftsministerium, Sozialministerium, Kammern und Arbeitsverwaltung, die den Versuch unternehmen soll, sich auf ein gemeinsames anerkanntes Verfahren für einen Kompetenztest zu einigen, der allen Schülern zur Verfügung stehen soll, möglichst bereits in der 7. oder 8. Klasse. Aus dem bisher Gesagten geht hervor, wo wir das für ganz besonders wichtig halten.
2. Wir brauchen ein stärkeres Engagement der Wirtschaft bei der Bereitstellung von Schülerpraktika. Wir prüfen, ob wir das zukünftig durch eine Praktikumsbörse wirkungsvoll unterstützen können.
3. Wir brauchen schnellere und bessere Informationen über gute Projekte der Berufsorientierung. Diese wollen wir für den Transfer aufbereiten lassen.
4. Wir wollen weitere Lernpartnerschaften zwischen Schulen und Unternehmen möglichst flächendeckend initiieren und dies mit beauftragten Experten fachlich unterstützen.
Ich bin dankbar, dass dieses so wichtige Thema hier aufmerksam beobachtet und intensiv begleitet wird. Ich halte den Antrag für sehr geeignet und gut, dass wir darüber sprechen. Ich bin mir sicher, dass wir in diesem Jahr ein deutliches Stück vorankommen werden.
Meine Damen und Herren! Die Aussprache ist damit beendet. Wir kommen jetzt zu den Schlussworten. Ich erteile Herrn Brangs für die Koalition das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach meinem Empfinden haben wir durchaus eine konstruktive Debatte erlebt. Auf die Ausnahme hat Herr Minister Flath schon eine klare Aussage getroffen.
Im Kern ging es mit dem Antrag um die Frage der Berufsorientierung. Ich selbst habe mit meinem Wortbeitrag den Zusammenhang zwischen Berufsorientierung und Ausbildungsplatzsituation in Sachsen hergestellt. Der eigentliche Anlass war, die Berufsorientierung und vor allem auch das eigenverantwortliche Lernen zu schärfen, damit wir in diesen Bereichen auch die Rolle der Schule hinterfragen und beleuchten können. Nicht umsonst hat sich gerade die Koalition im Rahmen der Koalitionsvereinbarung darauf verständigt, dass wir im Rahmen von Modellprojekten so genanntes produktives Lernen praktizieren wollen. Das ist auch richtig so.
Ich glaube aber auch, dass es notwendig ist, dass wir dem Antrag trotzdem die Zustimmung erteilen und ihn nicht für erledigt erklären, auch wenn ich hier im Rund schon gehört habe, dass das eigentlich der Anlass sei. Ich glaube, dass wir damit aber der Bedeutung des Themas nicht gerecht werden, denn wir brauchen nach Analyse und Bericht vor allem ganz konkrete Handlungsfelder und Handlungsaufgaben, die es uns als Parlament ermöglichen, die Situation insgesamt zu verbessern. Deshalb bitte ich um Zustimmung zum Antrag der Koalition.
Meine Damen und Herren! Ich stelle nun die Drucksache 4/2603 zur Abstimmung und bitte bei Zustimmung um Ihr Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Bei einer großen Anzahl von Stimmenthaltungen ist der Drucksache zugestimmt. Der Tagesordnungspunkt 4 ist damit beendet.
Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Die Reihenfolge: die Antragstellerin Linksfraktion.PDS, danach CDU, SPD, NPD, FDP, GRÜNE und die Staatsregierung.
Die Debatte ist eröffnet. Ich bitte, dass die Linksfraktion.PDS das Wort nimmt. Herr Prof. Porsch, bitte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Diskussion in der vergangenen Zeit um meine Person war durchaus geeignet, bei mir einmal die Frage aufkommen zu lassen, wie ich eigentlich heiße, wer ich eigentlich bin und über welchen Menschen hier gesprochen wird. Aber wie immer in diesem Lande, wenn Unsicherheit aufkommt, „Bild“, „Bild am Sonntag“ und auch die anderen großen Magazine helfen. In zweiseitigen Anzeigen sprang mich von dort in den Ausgaben der letzten Woche vor blutorangenem Hintergrund die Feststellung an: „Du bist Max Schmeling!“ Es wird mir auch gesagt, warum. Gestatten Sie, dass ich zitiere: „Alle sagen, dass du keine Chance hast? Keiner aus deiner Familie hat es geschafft zu studieren? Niemand aus deiner Gegend hat jemals erfolgreich ein Geschäft eröffnet? Aber was hat das mit dir zu tun? Max Schmeling wurde schon vor dem Kampf gegen Joe Louis zum Verlierer erklärt. In der zwölften Runde ging Louis k.o. Der Einzige, der über deinen Weg entscheidet, bist du. Box dich durch und werde ein Champion! Du bist Deutschland.“
Aber ich bin auch Skeptiker und so tun sich neue Fragen auf: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Wie viele K.-o.-Geschlagene müssen eigentlich den Weg eines Erfolgreichen säumen?
Dass Sie es bis jetzt nicht gemerkt haben, Herr Gillo, spricht gegen Sie. Das muss ich einmal sagen.
Angesichts dieser Fragen ist man schon froh, wenn ein, wie es sich selbst nennt, modernes Nachrichtenmagazin auf der Titelseite zwar propagiert „Werden Sie Egoist!“, dem jedoch wenigstens die Fußnote hinzufügt „aber ein netter“.
Die eingangs zitierte Annonce wirft nicht nur Fragen auf, sondern enthält auch eine eklatante, aber weit verbreitete Unwahrheit, sozusagen die Lebenslüge dieser Gesellschaft. Sie suggeriert, – und Herr Gillo, jetzt werden Sie merken, dass ich beim Thema bin –, soziale Herkunft,
Milieus seien ohne Bedeutung für den eigenen Erfolg in der Gesellschaft. Was mit Einzelfällen unter Umständen als wahr belegbar wäre, wird statistisch jederzeit als dicker Selbstbetrug entlarvt.
Der Boxsport, ja, der braucht vornehmlich Boxer, die sich durchsetzen können, möglichst durch K.o. Das kennzeichnet dort den Erfolg und die Erfolgreichen. Daneben braucht es noch der Trainer und einiger Wasserträger. Was aber für den Boxsport gilt, sollte auf die Gesellschaft nicht übertragbar sein. Gesellschaft braucht die gleichberechtigte, wenn auch konfliktäre, weil im Unterschiedlichen begründete Vielfalt von Talenten, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kompetenzen. Gesellschaft braucht das Miteinander von weiblichen und männlichen Wissenschaftlern, Unternehmern, Facharbeitern, Künstlern, Sportlern, ja, sogar Politikern. Sie braucht die Träumer und sie braucht die Tatmenschen. Gesellschaft braucht friedliche demokratische Konfliktaustragung und Konfliktbewältigung und keine K.-o.-Mentalität.
Gesellschaft heißt Gesellschaft, weil Zusammenleben und Zusammenwirken, ja, Überleben trotz aller Unterschiede und wegen aller Unterschiede der Menschen am Ende nur gemeinsam geht, sozusagen in Geselligkeit und nicht im gnadenlosen Gegeneinander bis zum K.o. der Vielen und dem Sieg der Einzelnen. Ich will mich gar nicht so weit versteigen und Sie darauf hinweisen, dass im Wort Gesellschaft historisch sogar die Bedeutung Liebe steckt. Dass Gesellschaft und Gesellen ursprünglich jene meint, die in einem Saal – auch das gehört zur Wortfamilie – gemeinsam schlafen, also auf gegenseitige Rücksicht angewiesen sind, sollte schon angemerkt sein.
Das alles sagt sich natürlich gut – die Wirklichkeit ist leider nicht so. Es dominiert wider alle Vernunft das vielfältige und für allzu viele zerstörerische Gegeneinander. Es liegt eben nicht allein am Einzelnen, ob er oder sie gewinnt oder verliert. Milieus des Erfolgs produzieren üblicherweise Erfolg. Milieus der Unterprivilegierung und der Inferiorität produzieren ständig neue Unterprivilegierung und neue Inferiorität. Kurzum, soziale Herkunft bestimmt durchaus und oft unentrinnbar über den Lebensweg, über Erfolg und Misserfolg in der Gesellschaft. Die Sache ist subtil, weil sie sich nicht unmittelbar und bewusst gelenkt durchsetzt, sondern über komplizierte und verdeckte Mechanismen der Reproduktion von sozialer Ungleichheit. Der Gesellschaft gehen dadurch, weitgehend unbemerkt, viele unbekannte Talente und mögliche Leistungen verloren. Das ist Fakt. Wie viele es wirklich sind, lässt sich nicht feststellen.
Soweit die Schule hier in der Pflicht des Ausgleichs und der Kompensation ist, haben wir darüber schon oft in
diesem Hohen Hause über alle Legislaturen hinweg gesprochen. Es wurde auch eine Menge Positives auf den Weg gebracht – das will ich wirklich ausdrücklich anerkennen –, auch von der Staatsregierung, und auch dazu gab es Debatten. Nur, an der Wirklichkeit hat das kaum etwas geändert. Das heißt, mehr und neue Anstrengungen sind nötig. Ich freue mich zum Beispiel über Bibliotheken, auch an Schulen, wenn sie gut ausgestattet sind. Aber wer liest die Bücher? Meist jene, die von zu Hause her den Umgang mit Büchern gewohnt sind. Wer keine Bücher kennt, geht normalerweise auch nicht in die Bibliothek. Das ist das eigentliche Problem. Das Problem, dass soziale Herkunft massiv über Schulerfolg entscheidet, ist Lehrerinnen und Lehrern durchaus bewusst. Wissenschaftlich begründete Konzepte zur Überwindung der sozialen Barriere in und mit Hilfe der Schule sind jedoch weitgehend unbekannt.
Vor allem in den Förderschulen für Lernbehinderte ist das Problem täglich und dramatisch evident. Lösen kann die Förderschule jedoch kaum etwas. Im Grund ist sie auch nicht für soziale Reparaturen da, sondern für die Förderung von Schülerinnen und Schülern mit anderen als sozialen Behinderungen. Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass soziale Herkunft, Sprachverhalten und Schulerfolg in einem engen Zusammenhang stehen.
In der Bundesrepublik der siebziger Jahre spielte dies in der akademischen Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern eine große Rolle. Schulkonzepte waren vor allem für den Deutschunterricht darauf abgestellt. Das ist fast alles wieder verschüttet, spielt in der Ausbildung höchstens eine marginale Rolle, ist oft vom Zufall abhängig. Stattdessen werden Deutschlehrer zum Beispiel mit hochgestochenen Grammatiktheorien zugeschüttet. Sprache im sozialen Kontext wird auf das Situative und Funktionale reduziert. Welcher und welche Studierende kennt heute noch Begriffe wie emanzipatorischen oder kompensatorischen Sprachunterricht? Welche Rolle spielt das Problem des Zusammenhangs von sozialer Herkunft, Sprachverhalten und Schulerfolg heute in der Forschung? Eben weil wir die Konzepte der sechziger und siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts nicht mehr übernehmen können, wäre die Förderung einschlägiger Forschung und die Übertragung ihrer Ergebnisse in die Lehre bitter nötig.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, keiner und keine von uns ist Max Schmeling, und Deutschland kann nicht nach dem Prinzip Max Schmeling funktionieren. Übrigens hat Max Schmeling im Rückkampf gegen Joe Louis doch noch Dresche bezogen und ist auch k.o. geschlagen worden. Wie drängend die Förderung sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher nötig ist und wie wenig wir gerade in der Schule darauf vorbereitet und dazu in der Lage sind, wird Ihnen dann meine Kollegin Frau Falken in ihrem Beitrag noch weiter darlegen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Im Ergebnis der viel diskutierten Pisa-Studie wurde Sachsen ein gutes Gesamtergebnis bei gleichzeitiger ausgewogener Verteilung der Bildungschancen bescheinigt.
Wörtlich, meine Damen und Herren, Herr Kollege Hahn, war nachzulesen: „Überdurchschnittliche Lesekompetenz bei gleichzeitig unterdurchschnittlicher sozialer Disparität wird in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen erreicht.“
Herr Kollege Hahn, wenn Sie eine Frage haben, gehen Sie ans Mikrofon! „Als Markierland kann Sachsen benannt werden, in dem beide Parameter tendenziell zur Balance gebracht werden.“
Meine Damen und Herren, die Studie hat zudem ausgewiesen, dass weder die soziale Lage noch die kulturelle Distanz primär, wohlgemerkt primär, für Disparitäten im Bildungsbereich verantwortlich sind. Mir scheint diese Feststellung besonders wichtig im Blick auf die Ausführungen, die wir gerade gehört haben. Für früh differenzierende, gegliederte Bildungssysteme – –