Protokoll der Sitzung vom 10.12.2004

Der Industrieumsatz Sachsens erreichte im September einen neuen Spitzenwert unter den monatlich überhaupt registrierten Ergebnissen. Sowohl im Export als auch im Inland konnten Geschäfte bisher noch nicht erreichter Größenordnung realisiert werden. Um diese Zahlen beneiden uns sehr viele Länder. Wir sind stolz auf sie. Die Zahlen sind uns aber auch Mahnung. Sie mahnen uns, an unserem klaren wirtschaftspolitischen Kurs festzuhalten; denn der Weg zur absoluten Spitze – Herr Jurk, darin stimme ich mit Ihnen überein – ist noch weit. Die Grundlagen für die heutigen Ergebnisse haben wir vor zwölf, vor acht bzw. vor vier Jahren gelegt. Abgeordnete hatten ihre Hände im Spiel, die Staatsminister, Wirtschaftsförderer der Landkreise und Gemeinden ebenso wie manch tabakschnupfender Abteilungsleiter im Wirtschaftsministerium und natürlich die vielen Unternehmer mit ihren guten Ideen und motivierten Belegschaften.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bitte schön.

Herr Lehmann, Sie sprechen die ganze Zeit von Wirtschaftswachstum. Geben Sie mir Recht, dass Wirtschaftswachstum nicht zwangsläufig mit Arbeitslosigkeitsabbau einhergeht; denn das ist eigentlich das Thema, das die Bürger vor Ort am meisten interessiert?

Herzlichen Dank für Ihre Frage. – Sie müssen dort ganz exakt sein. Wirtschaftswachstum ist die erste Stufe. Sie kann in der ersten Phase „Jobless growth“ sein, also ohne Zuwachs von Arbeitsplätzen vor sich gehen, aber sie wird irgendwann – und ich hoffe, möglichst bald, denn die Zeichen sind klar – zu mehr Jobs führen. Würde die Wirtschaft nicht wachsen, hätten wir überhaupt keine Hoffnung, dass irgendwann in Sachsen mehr Arbeitsplätze zur Verfügung stehen. Aber dass es jetzt so ist, macht mich und meine Fraktion bzw. die Koalition sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind.

(Prof. Dr. Peter Porsch, PDS: Haben Sie gelesen, was Herr Biedenkopf geschrieben hat?)

In zehn Jahren, Herr Porsch, werden die Früchte der Bäume reifen, die wir heute pflanzen. Das sollten wir uns – nicht nur in Bezug auf die vor uns stehenden Haushaltsverhandlungen – ganz dick hinter die Ohren schreiben.

Der Wille, wirtschaftlich wieder Spitze werden zu wollen, muss sich auch in unseren öffentlichen Debatten – etwa in den aktuellen Runden – widerspiegeln. Ich bin dankbar, dass wir trotz aller Differenzen in Details in vielen Dingen übereinstimmen. Ich danke Herrn Weichert für seine Worte, und ich danke auch Herrn Morlok, der – etwas verklausuliert – das Richtige gemeint hat. Herr Nolle wird sicher noch in seinem zweiten Teil das sagen, was er für richtig hält. Was ich aber nicht für richtig halten kann, ist das, was Herr Hilker vorgetragen hat. Herr Petzold, mit Ihren Weltuntergangsszenarien nationalistischer Art werden Sie niemals erfolgreich sein!

(Beifall der Abg. Dr. Gisela Schwarz, SPD)

Nicht kommunistische, naive Drogendebatten oder braune Selbstbespiegelungen bringen uns voran, sondern allein der Wille, auch in Zeiten knapper Kassen wirtschaftlich und politisch klaren Kurs zu halten.

(Beifall bei der CDU)

Die Welt sieht mehr denn je auf uns, darum ist die heutige Debatte für uns notwendig und sehr, sehr gut investierte Zeit.

(Beifall bei der CDU und der SPD)

Ich frage die Fraktion der SPD. – Bitte, Herr Nolle.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren der demokratischen Parteien! Ich freue mich natürlich wie alle über die vielen positiven Zahlen, die wir in Sachsen zu vermelden haben. Das ist ein großer Erfolg, das ist richtig. Aber ich glaube, dass wir trotzdem darauf hinweisen müssen, dass Wachstum allein kein ausreichender Indikator für die Wohlfahrt eines Landes ist. Wenn wir feststellen, dass die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, und wenn wir feststellen, dass die Schere zwischen Arm und Reich gravierend auseinander geht, dann reicht es eben nicht, dass wir uns über Wachstum unterhalten, sondern wir müssen auch schauen, was dahinter liegt. Im Koalitionsvertrag, meine Damen und Herren, zwischen Christ- und Sozialdemokraten heißt es auf Seite 3: „Wachstum und Nachhaltigkeit sind keine Gegensätze.“ Wie wir alle wissen, findet die Zeit des Aufbauwachstums in Ostdeutschland durch den Auslauf des Solidarpaktes II im Jahre 2019 ein definitives Ende. Dieses Wachstum ist – darin hat Herr Morlok völlig Recht – zuerst ein durch Milliardentransfer geliehenes Wachstum. Wie das Flutgeld-Wachstum von 2003, wird und wurde es durch die Solidarität Gesamtdeutschlands finanziert. Das sollte man immer dazusagen, wenn man es mit anderen Ländern vergleicht, die diesen Milliardentransfer nicht erhalten haben. Das Ende dieser Entwicklung ist also gewissermaßen nach 2019 in Sicht – und dann?

Aufgabe von Politik ist es – so meine ich –, künftig stärker den Weg zu mehr Nachhaltigkeit der sächsischen Wirtschaft zu gehen, zu einem dynamischen Bestandswachstum, zu einer Wirtschaft, die durch Entwicklung – wie Bestandssicherung – gekennzeichnet ist, in der der Klassenerhalt auf den vorderen Plätzen ebenso wichtig ist wie der begehrte Aufstieg. Es muss ein Weg sein zu einer Gesellschaft, meine Damen und Herren, in der es einen ständigen Austausch von Alt und Neu gibt, in der die nachhaltige Konsolidierung und Stabilität unserer Unternehmen und damit die Sicherheit der sozialen Lebensgrundlagen unserer Menschen zu einem Wesensmerkmal wird. Diese Sicherheit ist ein entscheidender Produktivitätsfaktor. Sie ist für die Zukunft nicht gewährleistet. Damit infrage gestellt ist die wesentliche Grundlage unserer sozialen Marktwirtschaft.

„Das als neoliberales Programm getarnte Trommelfeuer auf den Sozialstaat ist von ergreifender Banalität“, sagt Norbert Blüm, und weiter: „Dessen Credo lässt sich auf Dogmen reduzieren, die selbst ein Papagei verkünden kann, wenn er zwei Worte auswendig lernt, nämlich: Kostensenkung und Deregulierung.“

(Beifall bei der FDP)

Ich halte es für eine eklatante Fehldiagnose der Bierdeckelstrategen, unseren Sozialstaat ausschließlich als Kostenfaktor und Wachstumsbremse und nicht als wichtigen Produktivitätsfaktor zu erkennen.

Meine Damen und Herren! Nicht die Polizei und nicht die Justiz waren jahrzehntelanger Garant des inneren Friedens in diesem Land. Nicht Strafrechtsparagrafen und nicht Sicherheitspakete haben für unsere innere Sicherheit gesorgt. Garant für den inneren Frieden in diesem Land war der Sozialstaat.

(Beifall bei der SPD, der PDS und der FDP)

Er war das Fundament der Prosperität, er war die Geschäftsgrundlage für gute Geschäfte, er verband politische Moral und ökonomischen Erfolg. Er hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich. Seine Sicherheit für die Menschen war ein zentraler Produktivitätsfaktor. Deshalb müssen wir auch immer danach fragen, wie es – bei allem Wachstum – den Menschen geht.

(Beifall bei der SPD und der CDU)

Meine Damen und Herren! Der Sozialstaat braucht neue Kraft. Er braucht eine Therapie, vielleicht eine Generalüberholung – auf jeden Fall Stärkung und nicht Abwicklung.

(Zuruf des Abg. Dr. André Hahn, PDS)

Aber unsere Gesellschaft wird von mehr zusammengehalten als nur von der Summe der Betriebswirtschaften, so wichtig Betriebswirtschaften auch sind. Das fällt mir ein, wenn so viel von Wachstum die Rede ist, was so wenig erklärt. Vielleicht denke ich an dieser Stelle auch sehr konservativ, wenn ich mit Kant frage: „Was ist der Mensch?“, und dann seine Antwort zitiere: „Würde hat keinen Preis. Alles andere in der Welt hat einen Preis, nur der Mensch hat Würde. Nicht die Vernunft unterscheidet den Menschen von anderen Lebewesen, sondern seine Autonomiefähigkeit und seine Würde.“ Meine Damen und Herren! Ich stimme Friedhelm Hengsbach, dem führenden Vertreter der christlichen Soziallehre und Professor für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik aus Frankfurt, zu, wenn er in seinem vor wenigen Tagen erschienenen Buch „Das Reformspektakel“ sagt: „Kern jeder Wirtschaft und jeder Gesellschaft bleibt der Mensch. Ökonomie und Wachstum ist nicht alles. Marktregeln sind vom Menschen gemacht und nach gesellschaftlichen Maßstäben zu beurteilen.“ Bei allem Lob für die Entwicklung der sächsischen Wirtschaft: Bloßes Wachstumsdenken, meine Damen und Herren, greift zu kurz. Es beschreibt nicht den Weg in eine Gesellschaft, in der es einen ständigen Austausch von Alt und Neu gibt, – –

Zum Schluss kommen!

– wo es um nachhaltige Konsolidierung und Stabilität unserer Unternehmen geht, um Nachhaltigkeit, die allein die Sicherheit der sozialen Lebensgrundlagen unserer Menschen begründen kann. Kurt Biedenkopf forderte dafür vor einigen Tagen einen Paradigmenwechsel im Denken. „Wir können uns dabei“, sagte er – und ich komme jetzt zum Schluss –, „auf die Kräfte stützen, deren Wachstum weder zeitlichen noch räumlichen Grenzen unterliegt, auf die geistigen, politischen, kulturellen, wissenschaftlichen, religiösen“ – und ich füge hinzu: weltanschaulichen – „Kräfte der Menschen, kurz, auf ihre Erkenntnisfähigkeit stützen.“

Schlusssatz jetzt!

Volle Zustimmung in diesem Sinne! Ich glaube, nur in diesem Sinne sind Wachstum und Entwicklung unbegrenzt. „Alles hat seinen Preis, nur der

Mensch hat Würde.“ Das sollte man beim Geschäftemachen nicht vergessen. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD, der PDS, den GRÜNEN und vereinzelt bei der CDU)

Ich erteile der Fraktion der PDS das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte ein Thema ansprechen, das in dieser Aktuellen Debatte meines Erachtens noch zu kurz gekommen ist. Die aktuelle Situation erscheint auf den ersten Blick positiv. Die Presse meldet: Sachsen bei Lehrstellen im Osten vorn! – Wer aber einen weiteren Blick wagt, der wird feststellen, dass die Lage auf dem Ausbildungsmarkt bei weitem nicht so positiv ist, wie sie scheint, und dass die Lehrstellenlücke eben doch wächst. Wir haben in Sachsen folgendes Problem: Auf der einen Seite gibt es ein Wirtschaftswachstum, auf der anderen Seite ergibt sich daraus weder für Arbeitswillige noch für Ausbildungswillige eine bessere Situation; denn das Wirtschaftswachstum bedingt nicht zwangsläufig auch die Erhöhung der Anzahl der Arbeits- und Ausbildungsplätze. Trotz des nationalen Ausbildungspakts sind zum 31. Oktober noch über 2 600 junge Menschen nicht in Ausbildung vermittelt. Auch das hier angepriesene Wirtschaftswachstum kann darüber nicht hinweghelfen; denn es betrifft vor allem kapitalintensive Industrien – wie schon erwähnt –,

(Zuruf des Abg. Heinz Lehmann, CDU)

wie die Mikroelektronik oder die Automobilbranche. Ihnen ist das Wirtschaftswachstum zu verdanken. Aber das schlägt sich keinesfalls in einer analogen Steigerung der Beschäftigung nieder.

Auf der anderen Seite werden vom Freistaat Sachsen mehrere hundert Millionen Euro in Überbrückungsmaßnahmen investiert, ohne wirkliche Ergebnisse zu erzielen. Zweck dessen scheint offensichtlich zu sein, junge Menschen zwar von der Straße, also auch aus der Statistik zu holen, ohne sie jedoch anschließend wirklich in Arbeit oder in Ausbildung zu bringen. Die Förderpolitik des Freistaates ist keineswegs zukunftsorientiert, sondern nur darauf bedacht, Jugendliche in Maßnahmen, wie zum Beispiel das berufsvorbereitende Jahr, zu bringen, Maßnahmen, die ursprünglich dazu gedacht waren, benachteiligten Menschen den Einstieg ins Berufsleben zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Hier ist zu sagen, dass auf alle Fälle das duale Prinzip zu verteidigen ist. Wenn es aufgrund des Ausbildungsplatzmangels nötig wird, andere Maßnahmen, zum Beispiel die überbetriebliche Ausbildung, hinzuzuziehen, dann muss das Niveau, dann muss der Bildungsstandard gehalten werden. Das Gleiche gilt natürlich auch für die vollzeitschulische Ausbildung.

Meines Erachtens fehlt ein schlüssiges Gesamtkonzept völlig, ein Konzept, das das Zusammengehen von Wirtschaftsförderung und Ausbildungsförderung regelt, um

uns vor dem bevorstehenden Fachkräftemangel zu bewahren bzw. ihn wenigstens abzumildern.

(Beifall bei der PDS)

Also muss der Ansatz ein anderer sein: Es müssen vor allem die kleinen und mittelständischen Betriebe integriert werden, um eine wirkliche Verbesserung auf dem Lehrstellenmarkt zu erzielen. Dies ist nur durch Kooperation und regionale Vernetzung dieser Betriebe, der Arbeitsagenturen, der Kammern und der Regionalschulämter möglich.

Einen erheblichen Bedarf bei der Orientierung und der Berufsvorbereitung sollten aber auch die Mittelschulen abdecken. Die jetzt mühsam erarbeiteten Standortvorteile können nur optimal genutzt werden, wenn auch genügend Fachkräfte vorhanden sind.

(Beifall bei der PDS)

Sie, die Fachkräfte nämlich, sind diejenigen, die die eigentlichen Leistungen erbringen, sind diejenigen, die die Innovation tragen und damit wiederum neue Arbeitsplätze schaffen können.

Apropos Fachkräfte, Herr Jurk: Ihr Vorgänger, Herr Gillo, hat im Mai 2004 zusammen mit dem Kolloquium für Ausbildung und Fachkräfte einen Ideenwettbewerb ausgeschrieben. Dieser lief bis zum 22. September. Wie ich gehört habe, fand die Auszeichnung der Gewinner wie angekündigt im Oktober statt und diese waren Ausbildungsnetzwerke. Nun ist es an Ihnen, Konsequenzen daraus zu ziehen und dort weiterführende Arbeit zu leisten.

Mein Fazit kann hier also nur folgendes sein:

Erstens. Wir benötigen ressortübergreifende Maßnahmen, ein Hand-in-Hand-Gehen der Ministerien für Wirtschaft, für Kultus, für Landwirtschaft und für Wissenschaft. Nur ein integratives Konzept kann hier wirklich Ausbildungsplätze schaffen und so auch dem mittelfristig bevorstehenden Fachkräftemangel entgegenwirken.

Zweitens. Die Schaffung eines Zukunftsforums ist notwendig, eines Gremiums von Experten, wie zum Beispiel Volkswirten, Zukunftsforschern, aber auch Akteuren der Ausbildung, die sich zusammensetzen und den realen Bedarf an Fachkräften und damit den Ausbildungsbedarf ermitteln, und zwar branchenweise; denn nur so kann ein zeitnahes Reagieren auf wirtschaftliche Entwicklungen und eine schnelle Reaktion auf geänderte Anforderungen an bestimmte Berufe und Berufsbilder gewährleistet werden.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die sächsischen Jugendlichen verdienen eine wirkliche Chance und zukunftsfähige Berufe. Deshalb lassen Sie uns dieses Projekt „Zukunftsforum“ angehen und, Herr Jurk, ich hoffe, dass ein neuer Minister auch neue Wege beschreiten kann.

(Beifall bei der PDS)