Protokoll der Sitzung vom 21.06.2006

(Zuruf des Abg. Dr. Fritz Hähle, CDU)

Tatsächlich ist die Zahl der Bedarfsgemeinschaften deutlich höher als prognostiziert. Auch damit hat Herr Brangs Recht. Aber warum?

Zum einen fielen Partnereinkommen und Vermögen in den Bedarfsgemeinschaften deutlich niedriger aus, als man es erwartet hatte.

Zum Zweiten fielen weniger Menschen als erwartet wegen Erwerbsunfähigkeit unter das SGB XII.

Vor allem sind die Bedarfsgemeinschaften aber viel größer, als es erwartet wurde. Sie haben nämlich schlicht mehr Kinder. Allein aus diesem Grund erhalten schon 600 000 zusätzliche Personen ALG II. Das überlegen Sie sich vor der Debatte, die wir in Sachsen verstärkt führen, dass wir ein kinderfreundliches Land sein wollen.

Knapp 900 000 Menschen müssen ergänzend zu ihrem Erwerbseinkommen ALG II beantragen – vermutlich nicht wenige deshalb, weil ihr Einkommen nicht für die Kinder reicht. Das ist eine Folge der Niedriglohnpolitik.

Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt und damit auch die Vermittlung verliefen zum anderen weit weniger positiv, als dies erwartet wurde.

Verlassen wir Hartz IV und lenken den Blick auf den Siebenten Familienbericht! Die Kinderarmut liegt in Deutschland mit rund 10 % mehr als doppelt so hoch wie in Schweden – 2,4 % – oder Finnland – 3,2 % – oder Dänemark – 4 %. Der Anteil der Kinderarmutsquote ist in Deutschland nach Angaben der OECD in den letzten 15 Jahren deutlich gestiegen, wobei der Anteil der Kinder an der Gesamtarmutsquote im europäischen Vergleich auffallend hoch ist. Kinderarmut aber – und da sind sich alle Fachleute einig – ist nicht nur für die betroffenen Kinder und ihre Entwicklungschancen katastrophal; Kinderarmut ist auch für die Gesellschaft auf lange Sicht teuer.

Meine Damen und Herren der Koalition! Dass die Optimierungsgesetze nicht bei der Arbeitsvermittlung und den Eingliederungsverträgen, kurz, auf der Seite des Förderns optimieren, sondern bei den Leistungen kürzen, wird uns alle teuer zu stehen kommen.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, Linksfraktion.PDS)

Gibt es aus den Fraktionen noch Redebedarf? – Linksfraktion.PDS, Frau Lay.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Prof. Schneider, ich bin stolz darauf, dass die Linksfraktion.PDS noch einen gesunden Reflex hat, dagegen anzugehen, wenn Sozialabbau und Abbau von Bürgerrechten in diesem Land geschehen.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Dass Sie diesen Reflex nicht mehr haben, dass auch die SPD diesen Reflex nicht mehr hat, das sollte Ihnen zu denken geben. Vielleicht sollten Sie mal zum Arzt gehen.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion.PDS – Zuruf des Abg. Volker Bandmann, CDU)

Meine Damen und Herren! Die Linksfraktion.PDS hat so manchen Anlauf genommen, um die Hartz-Gesetze zu modifizieren. Wir haben beantragt, dieses Gesetz zu verhindern. Das haben Sie abgelehnt. Wir haben zahlreiche Anträge eingebracht, um bestimmte Dinge zu ändern. Das haben Sie auch abgelehnt. Wir haben eingefordert, die vorhandenen Spielräume auszunutzen. Das haben Sie abgelehnt. Sie haben sogar abgelehnt, eine Bilanz vorzulegen, wenigstens einmal zu dokumentieren, was die Hartz-Gesetze in Sachsen eigentlich gebracht haben. Auch das haben Sie abgelehnt.

Jetzt können Sie Ihre Zwischenfrage stellen.

Gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Bitte schön.

Frau Präsidentin, ich möchte diese Äußerung von Frau Lay, diese persönliche Verunglimpfung, in allerschärfster Form zurückweisen.

(Beifall bei der CDU – Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Eine persönliche Erklärung ist nur nach der Tagesordnung möglich! Die war illegal!)

Das war zwar keine Zwischenfrage, ich möchte aber, wenn es gestattet ist, trotzdem darauf antworten: Ich bin in Ihrem Bild geblieben. Sie haben das Bild von Reflexen aufgemacht und in diesem Bild habe ich mich rhetorisch bewegt.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Ich wollte Sie nicht persönlich beleidigen. Aber Ihre rhetorische Figur aufzugreifen, das, dachte ich, sollte mir gestattet sein.

Sie haben auch alle konstruktiven Änderungsvorschläge der Linksfraktion.PDS abgelehnt, auch den Änderungsvorschlag auf der vorletzten Sitzung, beispielsweise ein Programm gegen Langzeitarbeitslosigkeit in Sachsen aufzulegen. Wenn Sie hier sagen, die ESF-Gelder würden zielgenau eingesetzt, dann muss ich Sie fragen, woher Sie dieses Wissen nehmen. Wenn Sie die Kleinen Anfragen von Frau Mattern und mir lesen würden, dann würden Sie feststellen, dass der Staatsregierung überhaupt keine relevanten Zahlen darüber vorliegen, wofür dieses Geld eingesetzt wird und wie viele Arbeitsplätze damit geschaffen werden.

Meine Damen und Herren! Was wir hier beantragen, ist im Grunde nur, eine weitere Verschärfung der HartzGesetze abzulehnen, der Hartz-Gesetze, die Ihre Partei im Bundestag mit verabschiedet hat. Es war doch Ihr Gesetz, das zu der jetzigen Situation geführt hat, und die von der großen Koalition vorgenommenen Änderungen verschärfen den autoritären Charakter der Hartz-Gesetze. Das möchte ich Ihnen an einigen Stellen belegen:

Nehmen wir zum Beispiel die Sofortangebote, die denjenigen unterbreitet werden sollen, die ALG II beantragen. Es geht Ihnen gar nicht darum, die Vermittlung in Arbeit zu verbessern. Nein, die Einführung dieser Sofortangebote wurde explizit mit der abschreckenden Wirkung begründet. Das unterstellt also erneut, dass es sich bei Arbeitslosen um Sozialschmarotzer handeln würde, was nachweislich falsch ist.

(Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS: Ein Skandal, wenn man das behauptet!)

Die Rede vom angeblichen Leistungsmissbrauch halte ich für eine Mär. Herr Kollege Pellmann hat schon einige Zahlen genannt. Auch bei Beibehaltung des bisherigen Systems wäre der Kostenanstieg fast genauso hoch gewesen, und das, was es jetzt mit der Hartz-IV-Regelung mehr kostet, ist auf Änderungen beim Rentenrecht zu

rückzuführen. Es ist außerdem darauf zurückzuführen, dass man jetzt schneller in das ALG II rutscht. Volkswirtschaftlich gesehen kann ich hier keine Kostenexplosion erkennen.

Oder nehmen wir die Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, ganz frisch auf den Tisch gekommen. Die Bundesagentur berechnet aufgrund eines Datenabgleichs doch sage und schreibe einen Leistungsmissbrauch von 0,8 %. Entschuldigen Sie, ein Leistungsmissbrauch von 0,8 % kann nun wirklich nicht die Zuspitzung der Debatte auf den angeblichen Leistungsmissbrauch rechtfertigen. Ich halte die Rede vom Leistungsmissbrauch und von Sozialschmarotzern für eine Scheindebatte. Sie soll nur vom Versagen der Politik ablenken und sonst gar nichts.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Deswegen wird auch die Verschärfung der Sanktionen nichts bringen, meine Damen und Herren, einmal davon abgesehen, dass nach meinem Verständnis eine Grundsicherung eine Grundsicherung ist, die jedem Menschen qua Mensch-Sein zusteht, und nicht etwa eine freiwillige Leistung, über die die Arbeitsverwaltung frei verfügen kann. Nach dem Motto „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ soll zukünftig die Arbeitsverwaltung darüber entscheiden dürfen.

Mit Grundrechten hat es bei diesem Optimierungsgesetz insgesamt nicht viel auf sich. Da gibt es noch die so genannte Residenzpflicht, die jetzt auch für Arbeitslose eingeführt werden soll. Das heißt, Langzeitarbeitslose müssen sich jetzt jedes Mal abmelden, wenn sie ihren Wohnort verlassen, ganz so, als würde es sich bei ihnen um Strafgefangene im Freigang handeln.

(Kerstin Köditz, Linksfraktion.PDS: Oder Asylbewerber!)

Das ist eine Kriminalisierung von Erwerbslosen und das ist auch das Grundproblem dieses Gesetzes.

Der absurdeste Vorschlag ist zweifellos die Umkehr der Beweislast bei eheähnlichen Gemeinschaften. Will heißen: Wer in einer WG wohnt, muss zukünftig nachweisen, dass er mit seinen WG-Mitbewohnern kein Verhältnis hat. Das ist nun wirklich des Wahnsinns fette Beute, wenn ich das mal so sagen darf.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Vor allem öffnet es Tür und Tor für Schnüffeleien in Deutschlands Schlafzimmern. Das kann doch nicht wirklich gewollt sein.

(Zuruf des Abg. Prof. Dr. Peter Porsch, Linksfraktion.PDS)

Die Welt ist bunter geworden, meine Damen und Herren. Das ist auch gut so. Selbst Herr Schneider hat sich ja vorhin gegen eine Diskriminierung von Lesben und Schwulen ausgesprochen.

(Beifall des Abg. Jürgen Gansel, NPD)

Deshalb kann die einzige Antwort auf die Pluralisierung der Lebensformen nur eine individuelle Grundsicherung statt dieser Verschärfung der mittelalterlichen Sippenhaft in Form der Bedarfsgemeinschaft sein.

(Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Mit dieser Regelung – Herr Brangs ist schon nicht mehr bei uns; ach, da ist er gerade – zur Verschärfung der Bedarfsgemeinschaften, Herr Brangs, werden Sie auch nicht den Missbrauch bekämpfen. Sie werden höchstens dafür sorgen, dass noch mehr Paare auseinander ziehen. Insofern kann man das Hartz-IV-Optimierungsgesetz als ein regelrechtes staatliches Trennungsprogramm bezeichnen.

(Vereinzelt Beifall bei der Linksfraktion.PDS)

Meine Damen und Herren, vielleicht können Sie sich wenigstens für den Vorschlag erwärmen, dass die Gelder für den so genannten Außendienst – besser wäre vielleicht Spitzeldienst – zukünftig besser eingesetzt wären, wenn man die individuelle Vermittlung verbessern würde. Leider werden wir dafür in Zukunft weniger Geld haben, denn immerhin sollen 1,1 Milliarden Euro, die mal für Arbeitsmarktpolitik, für Projekte und Maßnahmen vorgesehen waren, in Zukunft eingespart werden. So viel also, verehrter Herr Kollege Brangs von der SPD, zu den angeblichen Verbesserungen bei der Vermittlung.

Meine Damen und Herren! Der Grundfehler von Hartz IV war nicht, dass zu wenig gefordert wurde, sondern dass zu wenig gefördert wurde. Sie reformieren die Hartz-Gesetze in die falsche Richtung. Genau das ist das Problem.

Anstatt in Vermittlung und in Arbeit zu investieren, investieren Sie in mehr Repressionen. Ich möchte bei der heutigen Abstimmung sehen, ob insbesondere die Mitglieder der SPD-Fraktion dieses – so möchte ich es einmal bezeichnen – größte Sozialabbauprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik und weitere massive Einschnitte in Grund- und Freiheitsrechte tatsächlich unterstützen.