Protokoll der Sitzung vom 17.11.2006

Wer wie ich oder Johannes Gerlach im Herbst 1989 „Stasi in die Produktion!“ gefordert hat, der möge sich doch jetzt bitte fragen, ob es dann richtig ist, dass 18 oder 20 Jahre später der Pförtner in einem sächsischen Rathaus noch überprüft wird.

Gegen die von der NPD geforderte Verlängerung der Regelüberprüfung spricht aber auch die natürlicherweise abnehmende Relevanz solcher Überprüfungen, wie die geringe Zahl neuer Hinweise in den letzten Jahren zeigt. Nicht zuletzt die Ergebnisse der Rechtsprechung zeigen die Gefahr, dass zunehmend ein Symbol bedient wird, welches praktisch folgenlos bleibt. Am besten hat diese neue Situation in Bezug auf die ehemaligen Stasimitarbeiter kürzlich Richard Schröder in die Worte gefasst: „Wir gehen anders mit euch um, als ihr mit uns umgegangen seid, nämlich rechtsstaatlich.“

Meine Damen und Herren! Wir müssen aber auch die Vorbehalte und die Sorgen der Verfolgten sehr ernst nehmen. Deshalb haben die Regierungskoalition und die GRÜNEN im Bundestag einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Übergang von der massenhaften Regelüberprüfung zur Überprüfung in ausgewählten Verdachtsfällen für Personen an besonders sensiblen Stellen und in herausgehobenen Funktionen und Ämtern vorsieht. Unsere Frakti

on sieht in diesem Entwurf nach wie vor einen angemessenen Kompromiss zwischen den widerstrebenden Interessen.

Wer in diesem Zusammenhang von einem Schlussstrich spricht, hat einfach Unrecht. Das Ende der Regelüberprüfung ist kein Ende der Aufarbeitung. Die zeitgeschichtliche Aufarbeitung durch Forschung, durch politische Bildung muss nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt werden. Auch die Medien werden ihre wichtige Wächterrolle behalten. Damit wird die öffentliche Auseinandersetzung mit der SED-Diktatur verstärkt und bereichert werden. Dabei sollte aber fast 17 Jahre nach dem Herbst 1989 weniger die Tatsache der Verstrickung in die Stasimachenschaften im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen stehen, sondern vielmehr die Frage des kritischen und offenen Umgangs damit.

Die DDR-Opposition hat einst das Prinzip „Leben in der Wahrheit“ vertreten. Wir halten dieses Prinzip auch heute noch für einen angemessenen Maßstab für eine solche Diskussion. Allerdings ist es ein moralischer Maßstab, der sich nicht in juristische Kategorien fassen lässt. Das Agieren der NPD und ihr Antrag stehen einem solchen Prinzip diametral entgegen. Der Antrag ist deshalb abzulehnen.

(Beifall bei den GRÜNEN, der CDU, der SPD und der FDP)

Wird weiterhin das Wort gewünscht? – Herr Schiemann, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es dieses Antrages der NPD-Fraktion nicht bedarf, und schließe mich im Großen und Ganzen dem, was die anderen Fraktionen vorgetragen haben, an.

Ich möchte aber, was den Inhalt betrifft, Sie dennoch alle noch einmal daran erinnern, dass die Diskussion, die derzeit im Deutschen Bundestag stattfindet, natürlich von einer Verlängerung der Regelanfrage ausgeht und ich durchaus alle demokratischen Kräfte auch im Deutschen Bundestag bestärken möchte, weiterhin auf diesem Weg zu bleiben.

Ich kann alle hier im Sächsischen Landtag vertretenen Fraktionen nur daran erinnern, dass der Artikel 119 uns geradezu verpflichtet, zu diesem Thema zu stehen; und deshalb braucht es dieses Antrages der NPD-Fraktion überhaupt nicht.

(Beifall bei der CDU, der SPD und der FDP)

Noch zur Diskussion? – Herr Dr. Müller, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Auch wenn man zu dem Rechtsverständnis neigt, dass der IM-Frage ein Verjährungsrecht zugebilligt werden sollte, wird man deshalb nicht automa

tisch der Meinung sein, dass es in Bezug auf diese eine öffentliche Schweigepflicht gibt. Genau das wäre aber der Fall, wenn die Novelle des Stasigesetzes, so wie der Bundestagsentwurf es derzeit vorsieht, durchkäme.

Es gibt bereits rechtspolitische Initiativen, die die frühere Systemverbundenheit einem Tabu unterstellen wollen. Gegen solche Tendenzen laufen insbesondere auch die ehemaligen DDR-Bürgerrechtler Sturm; denn am Ende können schließlich sie es sein, die mit zivil- und strafrechtlichen Prozessen oder Schadenersatzforderungen überzogen würden, wenn sie auf das von konkreten Personen begangene konkrete Unrecht aufmerksam machen wollen. Da ist zu hinterfragen, ob wir das wirklich wollen.

Die Bürgerrechtler haben allerdings sicherlich noch viel stärker den Kopf geschüttelt, als sie am 13. November 2006 die Tageszeitung „Die Welt“ aufschlugen und lesen konnten, dass das Kanzleramt bei der Arbeit an der Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes einen schweren Fehler gemacht hatte und der Bundestag nur deshalb auf die derzeitige falsche Spur geführt wurde.

Die Turbulenzen gehen auf eine verfassungsrechtliche Fehleinschätzung der von CDU-Staatsminister Bernd Neumann geleiteten Abteilung für Kultur und Medien zurück, von der der nun vorliegende Gesetzentwurf des Bundestages maßgeblich beeinflusst wurde. In dem betreffenden Vermerk von Ende Oktober hieß es, dass eine uneingeschränkte Fortführung der sogenannten Regelanfrage als verfassungswidrig zu bewerten sei, da die bisher vorgesehene Frist von 15 Jahren ab Inkrafttreten des Stasi-Unterlagen-Gesetzes im Hinblick auf das Rechtsstaatsprinzip und den Verjährungsgrundsatz als die längstmögliche anzusehen sei.

Einen Tag nach dieser Bewertung kam dann plötzlich das Bundesjustizministerium von Brigitte Zypries zu einer völlig anderen Einschätzung und befand, dass die Ausführungen zu den Tilgungsfristen inhaltlich nicht korrekt sind und eine Fristverlängerung um fünf Jahre sehr wohl verfassungsrechtlich zulässig sei.

Daraufhin wiederum räumte die Abteilung für Kultur und Medien ein, dass damit bislang anderslautende Äußerungen überholt seien. Dieser Vorgang zeigt, dass der aktuell vorliegende Gesetzentwurf des Bundestages auf einer falschen Entscheidungsgrundlage beruhte und somit selbst falsch ist.

Der Gesetzentwurf muss also selbstverständlich einer gründlichen Revision unterzogen werden. Dies ist auch deshalb dringend notwendig, da nach Angaben der Birthler-Behörde beispielsweise die Erschließung der sportpolitischen Unterlagen der Stasi erst 2011 abgeschlossen sein wird.

Ich möchte noch einmal herausstellen, was mein Fraktionskollege Apfel schon sagte: Durch die Rosenholz-Datei eröffnet sich zudem nun die Möglichkeit, endlich auch die Zuträger des Stasistaates aus den westdeutschen Bundesländern aufzudecken. Dies ist dem Antragsteller, der

NPD-Fraktion, schon ein besonderes Bedürfnis, da sich eben jene Zuträger im Westen – ohne dass sie dem direkten Druck des DDR-Systems ausgesetzt waren – freiwillig dem Denunziantentum verpflichteten.

Offenkundige Verfahrensfehler haben somit bisher verhindert, dass die strittige Materie, also die Novellierung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes, im Vorfeld gründlich beraten und dann in einer der Problematik angemessenen Gesetzesform vorgebracht wurde. Wir hoffen, dass dies in den kurzen Fristen, die noch möglich sind, gelingt.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der NPD)

Wird von der Staatsregierung das Wort gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Damit kann ich Sie gleich zum Schlusswort aufrufen. NPD-Fraktion; Herr Apfel, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! „Die Akten gehören uns.“ Nichts hat sich daran geändert, seit mit diesem Ruf die Zentralen der Stasi von Bürgern gestürmt wurden.

(Zuruf des Abg. Johannes Lichdi, GRÜNE – Weitere Zurufe – Unruhe)

16 Jahre nach der Wiedervereinigung ist es viel zu früh, das Thema Stasi ins Archiv zu verbannen. Der Rechtsstaat ist am Stasi-Elend gescheitert; selbst Spitzel Erich Mielke wurde wegen Mordes an zwei Polizeibeamten im Jahre 1931 verurteilt, nicht aber für seine Verbrechen an einem ganzen Volk.

Umso wichtiger bleibt deshalb die politische und historische Aufarbeitung des Repressionsapparates. Irgendwann wird die Stasi Geschichte sein, aber nicht jetzt – nicht, solange Ex-Stasioffiziere Rente genießen, während ihre Opfer um Wiedergutmachung kämpfen; nicht, solange diese ehemaligen Spitzel ihre Opfer sogar noch lauthals krakeelend verhöhnen, wie erst im März in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen geschehen; nicht, solange sich Politiker vor Gerichten von ihrer StasiZusammenarbeit reinwaschen lassen können.

Wenn alle Stasi- und SED-Seilschaften an der Mär von den tapferen Tschekisten im Dienste des Volkes stricken, muss man diesen Leuten mit der historischen Wahrheit begegnen.

Meine Damen und Herren! Das, was ich bislang in diesem Redebeitrag gesagt habe, ist eigentlich ein Zitat, nämlich von Holger Zastrow, der in der nationalkonservativen Wochenzeitung „Junge Freiheit“ vom 26. Mai 2006 mit nahezu diesen Worten zur Auflösung der Birthler-Behörde Stellung nahm – immerhin in der „Jungen Freiheit“.

(Oh-Rufe von einigen Abgeordneten)

Herr Zastrow, ich muss schon sagen, Sie liegen richtig; aber Ihre rechten Umtriebe überraschen mich dann doch ein wenig.

Meine Damen und Herren, es soll kein Schlussstrich unter die deutsche Geschichte gezogen werden, heißt es immer wieder. Das muss dann aber auch beinhalten, dass kein Schlussstrich unter das Unrecht in der DDR gezogen werden darf. Der Staat darf sich nicht dem Verdacht aussetzen, dass man die Großen aus dem Zentralkomitee laufen lässt, dafür aber die kleinen IMs der Stasi gehängt werden.

Aber darum geht es beim Stasi-Unterlagen-Gesetz auch gar nicht. Es geht darum, dass umfangreiche Aktenbestände noch gar nicht gesichtet wurden. Es geht darum, dass ein handwerklich schlechter Gesetzentwurf die Täter privilegieren und ihre früheren Opfer der Gefahr einer Flut von zivilrechtlichen Klagen und Schadenersatzprozessen aussetzen würde. Es geht darum, dass eine Verlängerung der Regelanfrage um fünf Jahre verfassungsrechtlich problematisch und problemlos möglich ist.

Der NPD-Fraktion geht es vor allem darum – um es noch einmal deutlich herauszustellen –, die westdeutschen Bundesländer aufzufordern, ähnliche rechtliche Grundlagen für eine Regelanfrage zu schaffen, wie sie hierzulande bestehen. Denn während in der DDR zweifelsohne viele Menschen oftmals erst durch Zwang und Erpressung zur Stasimitarbeit gezwungen wurden, wurden im liberalen Westdeutschland Stasispitzeltätigkeiten aus reiner Charakterlumperei betrieben.

Bitte zum Ende kommen.

Dieser Zustand ist für die NPD unerträglich und wir fordern die Staatsregierung auf, bei den westdeutschen Bundesländern für ein Ende dieses Zustandes zu sorgen.

Meine Damen und Herren, bei einem Besuch in der Gedenkstätte für die Opfer der SED-Diktatur in Berlin forderte Bundespräsident Köhler, dass die Erinnerung an erlittenes Unrecht nicht verblassen dürfe.

Herr Apfel, bitte zum Ende kommen!

– Ich bin sofort fertig.

In das Gästebuch der Gedenkstätte schrieb er: „Gerechtigkeit zu schaffen braucht einen langen Atem.“ Mit der Verabschiedung der vorliegenden Erklärung könnte der Landtag demonstrieren, dass er diesen langen Atem hat.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der NPD)

Meine Damen und Herren! Ich lasse abstimmen über die Drucksache 4/6889. Wer die Zustimmung geben will, den bitte ich um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich der Stimme? – Bei einigen Stimmen dafür ist eine sehr große Mehrheit gegen diesen Antrag. Damit ist er nicht beschlossen und der Tagesordnungspunkt beendet.

Ich rufe auf den

Tagesordnungspunkt 6

Mehrwertsteuererhöhung rückgängig machen