Wenn wir uns die Realität einmal anschauen, dann sind die Anreize schon jetzt etwas schwierig. Wir waren in diesem Sommer mit unserem Wirtschaftsarbeitskreis der Fraktion bei einigen Unternehmen zu Gast, unter anderem bei einem in der Sächsischen Schweiz. Der Unternehmer hat sich vorgestellt: ein mittelständisches Unternehmen im Automobilzulieferbereich, kein Billigheimer, sondern einer, der ganz ordentlich bezahlt, mehrere Hundert Beschäftigte hat. Er hat 30 Leute gesucht und sich an die Arbeitsagentur gewandt. Die Arbeitsagentur hat 70 Leute eingeladen und man hat die Arbeit vorgestellt. Es war eine einfache, sitzende Tätigkeit – einen Knopf drücken –; Vorbildung brauchte man dafür keine.
Das Erste, was der Unternehmer gefragt hat: Wer fühlt sich gesundheitlich nicht in der Lage, diese Arbeit auszuführen? Es hat sich einer gemeldet – 69 sind verblieben. Die Arbeitsagentur hat dann gesagt: Wenn Sie den Job nicht annehmen, gibt es keine Sanktionen. Die nächste Frage war: Wer möchte denn den Job machen? Nun raten Sie einmal, wie viele davon übrig geblieben sind: neun. Nun müssen Sie es einmal dem Unternehmer, aber bitte auch den anderen erklären, die in dem Unternehmen arbeiten, wieso sie Sozialabgaben bezahlen. Ich glaube,
dass sie sich benachteiligt fühlen und sich fragen, wieso sie früh aufstehen. Deswegen ist es wichtig, die Balance zu halten. Jemand, der nicht arbeitet, der keinen Job findet – was ohne Frage passieren kann, das ist zum Teil auch Schicksal –, der darf nicht durch das soziale Netz fallen, der darf nicht abrutschen. Aber es muss auch immer der Anreiz da sein, sich wirklich um Arbeit zu bemühen, und dabei spielen die finanziellen Anreize schon eine große Rolle. Ihr Anreiz, den Sie geben wollen, würde dazu führen, dass man sich nicht mehr um Arbeit kümmert. Dessen bin ich mir hundertprozentig sicher.
Kommen wir zu einem anderen Punkt, weil es eine Forderung an das Haus war – schon längere Zeit, fraktionsübergreifend aufgestellt –, dass wir kindgerechte Hartz-IV-Sätze wollen. Bisher hat man sich ja am Erwachsenen orientiert und davon nach Prozentsätzen das abgeleitet – meinetwegen 67 % –, was ein Kind bekommt.
Herr Krauß, Sie wissen doch genauso gut wie ich, dass der Begriff Lohnabstandsgebot, den Frau von der Leyen immer so wunderbar im Fernsehen zeigt, mit der Entstehung von Hartz IV entstanden ist. Sie wissen, dass Hartz IV die Grundlage für eine große Veränderung am Arbeitsmarkt war. Ist Ihnen bewusst, dass der Niedriglohnsektor, der in Deutschland stärker ist als in den meisten anderen Ländern, mit Hartz IV in dieser Schärfe überhaupt erst geschaffen worden ist? Ist Ihnen das bewusst?
Ich weiß nicht, ob wir diesbezüglich einer Meinung sind. Wir müssen einmal etwas differenzieren: Wenn jemand allein lebend ist, dann entspricht Hartz IV ungefähr einem Stundenlohn von 4,90 Euro. Nun kann man sagen, wenn es einen Mindestlohn gäbe – die CDU ist ja für branchenspezifische Mindestlöhne, die wir mit der FDP in der jetzigen Regierungskoalition eingeführt haben, zum Beispiel im Abfallgewerbe –, würde das dazu führen, dass der Lohnabstand gewahrt wäre, wenn man ihn bei etwa 7,50 Euro ansiedeln würde.
Wenn wir nun aber einmal das andere Beispiel durchrechnen und jemanden nehmen, der verheiratet ist und zwei Kinder hat – die Frau ist arbeitslos, er ist arbeitslos –, dann lohnt sich die Arbeitsaufnahme für ihn erst, wenn er mehr als 9,30 Euro verdient, denn das andere bekommt er
automatisch vom Staat. Da entstehen nicht unbedingt die Anreize dafür, dass jemand für vielleicht 8,50 Euro, den der DGB als flächendeckenden Mindestlohn fordert, arbeiten geht.
Lassen Sie mich zu den kindgerechten Hartz-IV-Sätzen zurückkehren. Wir haben gesagt, es gibt manche Dinge, die wir mehr berechnet haben wollten. Bei den Hartz-IVSätzen für Kinder, die wir in der Vergangenheit hatten, war der Schulbedarf so nicht abgebildet. Es waren andere Dinge dabei, zum Beispiel anteilig Ausgaben für Alkohol und Zigaretten, die ein Kind auch nicht unbedingt braucht. Insofern hat es sich als sinnvoll erwiesen, diesen Hartz-IV-Kindersatz neu zu berechnen; und es ist in Ordnung, wie er errechnet wurde.
Man hat neben diesen Regelleistungen ein Bildungspaket aus Sachleistungen zusammengebunden und ich kann für mich feststellen, es ist keine Streichholzschachtelgröße, Herr Kollege Pellmann, sondern es ist schon ein wenig mehr.
Ich will einmal erläutern, was alles drin ist – das passt in eine Streichholzschachtel nicht hinein. Wenn ich an den Zugang zum Verein denke im Bereich Sport, Spiel, Kultur oder Geselligkeit, Ferienfreizeiten, außerschulische Bildung, die man Kindern von Hartz-IV-Empfängern mit einem Jahresbeitrag von 120 Euro zugänglich machen will – dafür kann man sich natürlich in einem Sportverein engagieren. Es gab schon vorher viele, die das getan haben, auch wenn wenig Geld zur Verfügung stand; aber dies ist schon ein sehr schöner Anreiz, um die Möglichkeiten von außerschulischer Bildung zu nutzen.
Wir haben das Paket für Schulmaterial – 100 Euro pro Jahr; es ist nicht ganz neu, wir führen es fort –, aber das ist auch eine beachtliche Summe, die zu den Hartz-IVSätzen dazukommt. Wir haben außerdem Zuschüsse für Schul- und Kita-Ausflüge von 30 Euro im Jahr. Auch das will ich erwähnen, Kollege Pellmann, weil es vielleicht in Ihrer Rede missverständlich war: Es sind Zuschüsse für Mittagessen in Schule und Kita von zwei Euro geplant, die eigentlich ausreichend sind. Wenn also ein Kind im Arbeitslosengeld-II-Haushalt lebt, dann wird das Mittagessen bezahlt.
Es gibt noch einige andere Dinge, die ohnehin gezahlt werden. Der Kindergartenplatz für diese Familien ist in Sachsen kostenlos – sie bezahlen überhaupt nichts.
Die Lehrbücher sind kostenlos bei uns im Freistaat Sachsen, und es kommt das Schulmaterial dazu, womit man sicherlich die Übungshefte abdecken kann.
Lassen Sie mich zum Schluss kommen. Wir halten die Neuberechnung der Hartz-IV-Sätze so, wie sie vorgenommen worden ist, für in Ordnung. Wir sind gegen exorbitante Steigerungen der Hartz-IV-Sätze, weil sich dann Arbeit nicht mehr lohnen würde. Aus diesen Gründen werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der Linksfraktion bezieht sich auf die Neuberechnung der Regelleistungen nach dem SGB II. Wir befassen uns also aus aktuellem Anlass einmal mehr mit den sogenannten Hartz-IVGesetzen. Ich möchte jetzt, was meine Vorredner umfassend erläutert haben, nicht noch einmal wiederholen, aber auf ein paar Punkte aus meiner Sicht eingehen und diese etwas grundsätzlicher unterlegen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei wichtige Feststellungen getroffen. Ich will sie noch einmal erwähnen, weil die Vorredner nicht darauf eingegangen sind: erstens die grundsätzliche Feststellung zur Ermittlung des Bedarfs und zur Ausgestaltung des Leistungsanspruches für Erwachsene und Kinder und zweitens die Einführung von Sonderbedarfen, die früher einmalige Hilfen genannt wurden. Festgelegt wurde in dem Gerichtsurteil auch, was der Anspruch bzw. der Bezug für die Neuermittlung der Regelsätze sein muss. Die Berechnungsgrundlage für das Existenzminimum, so heißt es, muss die soziale Wirklichkeit erfassen. Das bedeutet, auch gesellschaftlicher Wandel und neue Bedarfe müssen einbezogen werden. Die Anspruchsgrundlage richtet sich nach Artikel 1 Grundgesetz und nach dem Sozialstaatsprinzip. Das ist die Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft. Wir haben über Teilhabe vorhin schon in Bezug auf eine andere Bevölkerungsgruppe gesprochen.
Damit hat das Gericht eindeutig festgestellt, dass nicht das Lohnabstandsgebot nach unten neu zu definieren ist, sondern dass Mindestlöhne aus dieser Sicht unausweichlich und notwendig sind, um dem Anspruch an das Grundgesetz und das Sozialstaatsprinzip gerecht zu werden. Ich verstehe auch, dass es zuweilen ein bisschen kompliziert und mühsam ist, sich von gut funktionierenden und altbekannten Sprüchen, die an Stammtischen gut kommen, langsam zu verabschieden, aber es ist wirklich an der Zeit, zumal das höchste Gericht in Deutschland diesen Auftrag gegeben hat.
Der Spruch, dass sich Arbeit nicht mehr lohnen würde, wenn wir die Leistungen nach SGB II anheben, ist ein alter Zopf, der abgeschnitten gehört, und zwar sofort.
Er dient aber derzeit dazu, das eigentliche Interesse an der Reform ein bisschen zu verschleiern, nämlich die Reform als Spartopf für den Haushalt zu benutzen und eben nicht die Bedürfnisse der Menschen aus diesen Anforderungen heraus in den Vordergrund zu rücken. Ob sich Arbeit lohnt, entscheidet sich nicht an der Höhe des Existenzminimums. Das hat das Bundesverfassungsgericht festgelegt. Ob sich Arbeit lohnt, ergibt sich aus dem vorherrschenden Lohnniveau. Das können wir über Mindestlöhne beeinflussen.
In dem nun vorgelegten Gesetzentwurf der Bundesregierung sind gleich mehrere der von mir genannten Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes unzureichend beantwortet und zumindest fraglich. Ist der nun berechnete Regelsatz wirklich die Grundlage für Anschluss und Teilhabe an der Mehrheitsgesellschaft, wie ich es gerade ausgeführt habe? Daran bestehen ein paar Zweifel. Ich werde nachher noch ein Beispiel bringen. Sind die ärmsten Bevölkerungsteile – Herr Krauß hat es ausgeführt –, die zur Berechnung herangezogen wurden, dafür wirklich die richtige Orientierungsgruppe? Aus einem Fünftel sind 15 % geworden. Das ergibt schon mal einen Unterschied von 17 Euro, bezogen auf den Regelsatz. Und man kann die Frage stellen: Sind diese 15 % nicht bereits von der gesellschaftlichen Entwicklung abgekoppelt?
Mein nächster Punkt ist das Lohnabstandsgebot. Das eigentliche Mindestlohngebot, das sich aus dem Urteil ergibt, wird nach wie vor ignoriert. Die vorgesehenen Sachleistungen für Kinder führen auch nicht zu dem vom Verfassungsgericht vorgegebenen Ziel der Teilhabe, weil diese, verstärkt durch das Gutscheinmodell, wiederum zur Stigmatisierung führt. Das hat das Bundesverfassungsgericht ebenfalls verurteilt.
Zum Antrag der LINKEN muss ich aber auch sagen, dass das Abzielen auf 420 Euro bedeutet, dem nur eine andere Summe entgegenzustellen, auch wieder sehr einseitig das Urteil interpretiert und die Aussagekraft zum Gesetzentwurf der Bundesregierung einschränkt, weil wir wieder nur über die Höhe reden und nicht über das Grundsätzliche, was damit zusammenhängt. Ich kann es aber verstehen. Solange die Berechnung der Bundesregierung so intransparent ist – bisher hat nur eine kleine Anzahl von Wissenschaftlern wirklich Zugang –, ist es nachvollziehbar, aber nicht zielführend, auf eine von der Parität berechnete Grundlage zurückzugreifen.
Es geht in der Debatte nicht darum, einfach eine andere Summe in den Raum zu werfen und zu schätzen, wie hoch der Bedarf sein könnte. Das hat der Bundesgesetzgeber getan, und wir kritisieren es. Außerdem steht hinter der Summe ein Fragezeichen. Herr Pellmann hat schon darauf hingewiesen. Er hat in den vergangenen Debatten immer von 500 Euro gesprochen. Ich werfe noch eine
Zahl hinein: warum nicht 535 Euro? Das ist die Zahl, die an Ausgaben bei den ärmsten 15 % der Haushalte in Deutschland herausgekommen ist. 535 Euro. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich vom Gericht zugebilligt bekommen, Abzüge vornehmen zu dürfen. Er hat das in Höhe von 32 % getan und 171 Euro von diesen Ausgaben abgezogen und es stellt sich die Frage, ob diese Abzüge wirklich sachgerecht sind.
Ich möchte als Beispiel die Ausgaben für Mobilität nennen. Das ist im Regelsatz eine hohe Summe von 23 Euro für Erwachsene und 12 Euro für Kinder. Die tatsächliche Ausgabe belief sich auf 60 und 30 Euro. Es wurden Kosten für Benzin und den Unterhalt eines Fahrzeuges abgezogen. Das geht an der Lebenswirklichkeit von Familien, gerade im ländlichen Raum, vorbei und entspricht deshalb nicht dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes. Das bedeutet gerade in Sachsen, dass Familien im ländlichen Raum abgekoppelt werden. Wenn wir noch einbeziehen, welche Angebote wir wegen Kürzungen im Freistaat einschränken, wird es für Kinder im ländlichen Raum schwierig sein, die Angebote, die sie über Gutscheine wahrnehmen könnten, mit irgendwelchen Verkehrsmitteln zu erreichen.
Ich muss noch ein Wort zu den plakativen Abzügen bei Tabak- und Alkoholausgaben sagen. Ich habe schon darauf gewartet, dass Herr Krauß das Beispiel bringt. Ich erinnere mich deutlich an eine Debatte zum Nichtraucherschutz, in der gesagt wurde, Rauchen gehört zur grundsätzlichen Kultur in dieser Gesellschaft. Das Bundesverfassungsgericht hat eindeutig festgestellt, Teilhabe an Kultur muss auch für Leistungsempfänger nach SGB II zugänglich sein. Das ist ein wunderbares Beispiel, wie Sie einfach, ohne sachlich begründen zu können, Stammtischparolen bedienen. Das funktioniert ja leider sehr gut.
Völlig unbeantwortet blieb bisher die Frage nach der Wiedereinführung von Härtefallregelungen. Das Urteil des Gerichtes hat das Prinzip der individuellen Bedarfsdeckung stärken wollen und deshalb ausdrücklich neben der pauschalierten Leistung auch noch auf einmalige Geld- und Sachleistungen verwiesen. Dazu findet sich ebenfalls nichts Neues.
Ich verweise darauf, dass Sachsen als Bundesland in absoluten Zahlen die zweithöchste Bezieherzahl von SGB-II- und SGB-XII-Leistungen hat. Das heißt, für die sächsische Bevölkerung ist es maßgeblich wichtig, dass dieses Gesetz nachgebessert wird. Hier müssen Sie im Interesse aller sächsischen Bürgerinnen und Bürger tätig werden. Der Antrag der LINKEN dient auf jeden Fall dazu, dieses Erfordernis deutlich zu machen. Allerdings halten wir den Weg, einer Methodenkritik damit zu begegnen, einfach eine andere Summe ohne Grundlage dagegenzustellen, nicht für zielführend. Deshalb werden wir dem Antrag auch nicht zustimmen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Anlass der Neuberechnungen, auf die sich der Antrag bezieht, war das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Februar dieses Jahres. Der O-Ton des Gerichtes war, dass die Regelsätze zu korrigieren seien, da ihre Höhe – damals von SPD und GRÜNEN festgelegt und dann an die Rentenentwicklung angeglichen – ins Blaue hinein geschätzt wurde. Das Gericht forderte verlässliche Rohdaten, schlüssige und detaillierte Berechnungen sowie die Darlegung von Entscheidungswegen. Die Höhe der Regelsätze beanstandeten die Karlsruher Richter ausdrücklich nicht.
Dass die Linksfraktion mit ihrer Forderung nach 420 Euro oder gar die SPD-Fraktion in der letzten Woche mit 502 Euro – heute sind noch einmal neue Zahlen vorgebracht worden – diesem Urteil nicht im Ansatz nachkommen, ist wohl unbestritten. Der Vorschlag der LINKEN ist unplausibel und der Vorschlag der SPD-Fraktion mal wieder willkürlich. Zudem frage ich mich, warum gerade zu SPD-Regierungszeiten die Regelsätze nicht auf das Niveau erhöht wurden, das sie heute fordern. Das wäre doch mal was gewesen.