Protokoll der Sitzung vom 04.11.2010

Sie haben über weite Strecken sozialpolitisch argumentiert. Die Konvention sagt, dass das nicht mehr in diesem Sinne stattfinden soll. Die Konvention sagt, Menschen mit Behinderung sind keine Patientinnen und Patienten, sie sind Bürgerinnen und Bürger. Das kam in Ihrem Beitrag überhaupt nicht zum Ausdruck. Bei der Arbeitsmarktpolitik haben Sie sich auf das Thema Werkstätten für Menschen mit Behinderung beschränkt und darauf, dass irgendwelche Werkstätten saniert werden. Ich schätze die Arbeit, die in diesen Werkstätten stattfindet, sehr, aber ich kann Ihnen auch sagen: Der Weg in eine inklusive Gesellschaft führt nicht über die Sanierung von Parallelstrukturen.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD und den LINKEN – Beifall bei den GRÜNEN)

Sie haben also immer noch keinen Handlungsbedarf erkannt – das hat auch Kollegin Herrmann festgestellt –, dabei steht die Verfassungswirklichkeit in Sachsen in einem ganz deutlichen Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention. Besonders deutlich – und das ist auch schon mehrfach angeklungen – lässt sich dies im Bereich der Schulen erkennen. Wir sind hier ganz weit von einem inklusiven Schulsystem entfernt – so weit, dass der Freistaat Sachsen in diesem Zusammenhang auch in der Kultusministerkonferenz schon mehrfach negativ aufgefallen ist.

(Sebastian Fischer, CDU, meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Gestatten Sie eine Zwischenfrage von Herrn Fischer?

Ja, natürlich.

Frau Kollegin, Sie sprachen eben von Behindertenwerkstätten als Parallelstrukturen. Ist Ihnen bekannt, dass wir viele erfolgreiche Behindertenwerkstätten im Freistaat Sachsen haben, die nachgefragte und gut verkaufte Produkte herstellen?

(Lachen bei der SPD)

Es freut mich, dass das auch bei Ihnen angekommen ist, Herr Fischer. Natürlich ist mir das bekannt, und es steht in keinem Widerspruch zu dem, was ich erzählt habe.

(Vereinzelt Beifall bei der SPD)

Ich fahre fort mit dem Thema Schule, bei dem ich inzwischen angekommen war. Ich habe aufmerksam die zwölf Thesen der CDU-Fraktion zu einem differenzierten Schulsystem gelesen. Darin schreiben Sie: „Das Wohl von Kindern mit und ohne Behinderung muss gleichermaßen berücksichtigt werden.“ Das ist genau richtig, denn nicht nur Kinder mit Behinderung haben das Recht, mit Kindern ohne Behinderung gemeinsam zu lernen. Es ist auch genau umgekehrt der Fall, dass Kinder, die nicht behindert sind, ein Recht darauf haben, mit Kindern mit Behin

derung aufzuwachsen und mit ihnen sozialisiert zu werden. Wenn wir das nicht machen und nicht gewährleisten, enthalten wir unseren Kindern eine ganz wichtige Erfahrung vor, nämlich dass es normal ist, verschieden zu sein.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Des Weiteren las ich in Ihren zwölf Thesen den schönen Satz oder die Frage, je nachdem, ob Sie es noch mit Leben füllen wollen: Kein Abschluss ohne Anschluss. Das ist genau richtig. Dazu frage ich Sie: Sind Sie sich eigentlich im Klaren, dass wir mit den Abschlüssen, die wir im Moment an Förderschulen haben, überhaupt niemandem eine Perspektive bieten? Diese Abschlüsse sind nämlich eine Exklusion auf dem ersten Arbeitsmarkt. Wer einen solchen Abschluss an einer Förderschule erwirbt, wird niemals eine Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt zu landen.

(Beifall bei der SPD)

Das sind jetzt nur zwei Beispiele dafür, dass es in Sachsen tatsächlich einen großen Handlungsbedarf gibt.

Wir haben schon festgestellt, dass die Staatsregierung hier nicht ausreichend Handlungsbedarf sieht. Deswegen haben wir auch etwas vorbereitet, nämlich unseren Entschließungsantrag. Sie sind herzlich eingeladen, da mitzumachen. Wir haben ihn absichtlich moderat gehalten, was die Feststellung Ihrer bisherigen Aktivitäten angeht, damit Sie sich nicht so schwertun, ihm zuzustimmen.

Ganz kurz zu den Inhalten unseres Entschließungsantrages. Dieser enthält unter anderem folgende Forderungen:

Erstens. Die Änderung der Sächsischen Bauordnung, insbesondere § 50. Herr Wehner ist vorhin schon darauf eingegangen.

Zweitens. Maßnahmen zur Inklusion an Schulen, die ein gemeinsames Lernen ermöglichen.

Drittens. Eine Verbesserung der Mobilitätsangebote im öffentlichen Personennahverkehr. Es kann doch zum Beispiel nicht sein, dass in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen nicht einmal in die Lage versetzt werden, mit dem Zug von Bischofswerda nach Dresden zu fahren, das ist ein Unding.

Viertens. Eine Weiterentwicklung der kulturellen Angebote hinsichtlich der Bedarfe von Menschen mit Behinderung, zum Beispiel Induktionsschleifen in Kultureinrichtungen.

Das alles sind Maßnahmen, die die Lebensqualität von Menschen mit Behinderung in Sachsen erheblich erhöhen könnten.

Meine Damen und Herren der Regierungsfraktionen! Sie feiern in diesen Wochen – und dies zu Recht – vielerorts die Errungenschaften der friedlichen Revolution. Eine wesentliche Errungenschaft ist die Tatsache, dass wir heute in einem Rechtsstaat leben, der Menschenrechte achtet. Ruhen Sie sich darauf bitte nicht aus. Das Respek

tieren und Umsetzen von rechtlich bindenden Dokumenten der Vereinten Nationen sollte sowohl für die CDU als auch für die FDP in diesem Hause selbstverständlich sein. Das gilt natürlich auch für die UN-Konvention.

Der Kollege Schreiber hatte unlängst einmal in einer Debatte aus der UN-Menschenrechtskonvention zitiert. Das hat mich sehr gefreut. Die Behindertenrechtskonvention basiert ja auf der Menschenrechtskonvention und ich glaube, diese Menschenrechte zu achten sollte für alle Demokratinnen und Demokraten in diesem Hause eine Ehrensache sein.

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und den GRÜNEN)

Herr Bandmann, eine Kurzintervention.

Frau Präsidentin! Ich möchte noch mit einer Kurzintervention darauf reagieren. Ich unterstreiche zunächst, dass Herr Vizepräsident Wehner hier eine sehr differenzierte Darstellung der Situation geschildert hat, und bedanke mich dafür.

Bei dem, was Frau Kliese hier behauptet hat und in der Art und Weise, wie sie es vorgetragen und formuliert hat, muss man annehmen, dass sie offensichtlich eine Monopolwahrheit zu diesem Thema besitzt. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass ich persönlich seit 20 Jahren Mitglied der Lebenshilfe in Görlitz bin und auch über viele Jahre in diesem Verein immer wieder mitgeholfen habe, dass sich für Menschen mit Behinderung – genau, wie es Herr Vizepräsident Wehner und auch Herr Krasselt angesprochen haben – die Situation verbessert hat. Man erlebt, mit welcher Freude die Eltern ihre Kinder jetzt in guten Händen wissen und wie sie diese Arbeit aktiv begleiten. Es ist das allerletzte Thema, das hier in dieser Weise zu einem Streit führen darf.

Wenn Sie die friedliche Revolution ansprechen, dann war es insbesondere die Situation, wie wir Behinderte teilweise in Lebensumständen vorgefunden haben, die uns beschämt und uns dessen gewiss gemacht haben, dass wir gerade für diese Personengruppe das allermeiste erreicht haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Frau Herrmann, bitte.

Ich möchte darauf reagieren. Ich nehme noch eine Minute meiner Redezeit.

Herr Kollege Bandmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass früher die Situation für Menschen mit Behinderung schlecht war und dass sich diese verbessert hat. Das ist aber noch lange kein Ausweis dafür, dass wir an einem Punkt angekommen sind, an dem wir uns auf die Schulter klopfen können. Insbesondere ist es nicht in erster Linie maßgebend, obwohl es für die Eltern gut ist, ihre Kinder

in guten Händen zu wissen, sondern es geht darum, dass sich Kinder an der Stelle wohlfühlen und das verwirklichen können, was sie selbst wollen, und wir uns dafür interessieren. Es geht nicht allein um die Situation der Eltern.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

Gibt es noch weiteren Redebedarf? – Bitte, Herr Pellmann.

Frau Präsidentin! Auch Herr Bandmann hat mich an das Rednerpult getrieben. Ich bin immer dann sehr dankbar als Behinderter, wenn Menschen, die keine Behinderung haben, sich für unsere Anliegen und unsere Probleme interessieren. Aber sie sollten es dann auch mit einem bestimmten Abstand und mit Sachkenntnis tun. Da muss ich sagen, verehrter Herr Bandmann, gebricht es Ihnen, was die Sachkenntnis in dieser Angelegenheit betrifft.

Lassen Sie mich in zweierlei Hinsicht zwei Aspekte dazu nennen. Wenn wir heute in stärkerem Maße von Inklusion sprechen, sozusagen in Beziehung zu Integration, dann ist es nicht ein philosophisches, sondern ein tiefes menschliches Problem. Wir verabschieden uns immer mehr vom Begriff der Integration, und zwar zu Recht, weil nämlich Inklusion von vornherein die Gleichheit, die Gleichberechtigung, ganz gleich ob wir Behinderte oder Nichtbehinderte sind, impliziert, während der Ansatz, den Sie auch in Ihrem Beitrag eben vertreten, mehr dem Ansatz der Integration folgt. Integration heißt, dass man eine Menschengruppe an die Hand nimmt und in unsere Gesellschaft hereinholen möchte. Genau das ist ein falsches Anliegen.

Ich komme nicht umhin, eine zweite Bemerkung zu machen. Herr Bandmann, Sie sind ja dafür bekannt, dass Sie sich immer wieder einmal als Hilfshistoriker profilieren wollen. Aber hören wir irgendwann endlich einmal nach 20 Jahren auf, eine Behindertenpolitik der DDR zu malen oder zu zeichnen, die so in ihrer Gänze nicht stimmt. Sie stimmt nicht. Ich habe Ihnen schon mehrmals gesagt und muss es Ihnen immer wieder deutlich machen: Es hat schlimme, auch menschenrechtsunwürdige Dinge in der DDR gegeben, was die Behindertenpolitik betrifft. Das ist nicht zu akzeptieren. Das muss man mit großem Bedauern zur Kenntnis nehmen. Aber ich meine, nach 20 Jahren sollte auch deutlich werden, es gab in der DDR teilweise behindertenpolitische Aspekte, wozu ich Ihnen sage, ich wäre heute froh, wenn wir die hätten. Das will ich Ihnen sagen. Gewöhnen wir uns endlich an, differenziert an die Geschichte unseres eigenen Landes heranzugehen, und versuchen wir endlich, diese Legendenbildung zu vermeiden.

(Beifall bei den LINKEN – Zurufe von der CDU und der NPD)

Herr Krasselt, bitte.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Pellmann hat bei Herrn Bandmann aufgehört. Ich will bei ihm anfangen, weil ich ihm erst einmal recht geben kann, es ist immer angenehm, diese sachliche Diskussion zu dieser Thematik mit Herrn Wehner zu führen. Er ist sicherlich auch ein ganz profunder Kenner.

Was Frau Kliese ausgeführt hat, tut mir schon ein bisschen weh. Da geht es um Verurteilungen und Beurteilungen, die wenig mit Sachkompetenz zu tun haben. Ich denke, das ist ein Thema, dem wir uns schon etwas vorsichtiger nähern sollten, um niemandem, der in der Behindertenpolitik tätig ist, wirklich auf die Füße zu treten. Dort wird nämlich eine ganz engagierte, gute Arbeit geleistet.

Ich will auch bei Ihnen, Herr Pellmann, ein Stück stehenbleiben. Natürlich kann Herr Bandmann über die Historie sprechen. Ich kann es auch, denn ich habe die DDR live erlebt. Das ist der Vorteil des Alters. Ich gebe zu, wenn ich ein paar Jahre abgeben könnte und jünger wäre, würde mir das schon gefallen. Es ist aber so, und ich komme damit auch zurecht. Aber ich habe die DDR richtig live erlebt. Immer dieses Wort, es war nicht alles schlecht, es war nicht alles gut, trifft es überhaupt nicht im Kern.

(Beifall bei der CDU – Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE: Differenziert!)

Differenziert, richtig!