Gibt es weiteren Redebedarf zum Entschließungsantrag? – Wenn das nicht der Fall ist, frage ich, was wir nun mit dem Antrag machen. Wird eine punktweise Abstimmung gewünscht?
(Zurufe von der CDU: Zurückziehen! Der ist peinlich! Konsequent sein und zurückziehen! – Zuruf des Abg. Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE)
Frau Präsidentin! Ich habe von Frau Herrmann vernommen, dass Sie eine punktweise Abstimmung befürwortet. Ich denke, wir brauchen dies nicht.
Aber wenn es das Begehr seitens der Fraktionen gibt, dass wir darüber punktweise abstimmen, dann ist das möglich. Aber dieser Antrag kommt nicht von uns.
Ich sehe, dass es keinen Bedarf für eine punktweise Abstimmung gibt. Ich lasse über den Entschließungsantrag abstimmen. Wer seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Gibt es Gegenstimmen? – Stimmenthaltungen? – Bei einer Reihe von Stimmenthaltungen und Stimmen dafür ist der Antrag dennoch mit Mehrheit abgelehnt worden. Der Tagesordnungspunkt ist beendet.
Meine Damen und Herren! Wir kommen zu den ursprünglichen Tagesordnungspunkten 4 und 5, jetzt zusammengefasst in Tagesordnungspunkt 4.
Drucksache 5/3025, Große Anfrage der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, und die Antwort der Staatsregierung
Drucksache 5/6861, Antrag der Abg. Thomas Colditz, CDU, Patrick Schreiber, CDU, Alfons Kienzle, CDU, Heinz Lehmann, CDU, Kerstin Nicolaus, CDU, Lars Rohwer, CDU, WolfDietrich Rost, CDU, Ines Saborowski-Richter, CDU, Rolf Seidel, CDU, Prof. Dr. Martin Gillo, CDU, Gernot Krasselt, CDU, Cornelia Falken, DIE LINKE, Heiderose Gläß, DIE LINKE, Uta-Verena Meiwald, DIE LINKE, Heike Werner, DIE LINKE, Horst Wehner, DIE LINKE, Hanke Kliese, SPD, Dr. Eva-Maria Stange, SPD, Norbert Bläsner, FDP, Benjamin Karabinski, FDP, Annekathrin Giegengack, GRÜNE, Elke Herrmann, GRÜNE
Da der Landtag heute früh für den Antrag der Abgeordneten ausnahmsweise ein Schlusswort zugelassen hat, schlage ich Ihnen vor, dass im Ausgleich dazu, zu Beginn der Einreicher der Großen Anfrage sprechen darf. Gibt es dagegen Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Rednerreihenfolge wie folgt: GRÜNE, CDU, DIE LINKE, SPD, FDP, NPD und die Staatsregierung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor einem knappen Jahr hat unsere Fraktion die Antwort der Staatsregierung auf eine Große Anfrage zu Integration und Inklusion im sächsischen Schulwesen vorgestellt.
Ich will nur einige Ergebnisse an dieser Stelle skizzieren. Der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf, 7,6 %, und von Förderschülern, 6,2 %, steigt. Zwei Drittel der Betroffenen sind männlich. Auch der Anteil integrierter Schüler, 17,9 %, hat sich in den letzten Jahren verdoppelt – steigende Tendenz.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Über zwei Drittel der betroffenen Schüler besuchen aufgrund von Lern- und Sprachschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten die Förderschule. Der größte Teil der Förderschüler – es sind 85 % – erwirbt keinen Schulabschluss, nur 13 % den Hauptschulabschluss und 2 % den Realschulabschluss. Die Durchlässigkeit von Förderschulen zu Regelschulen ist sehr gering. 1,6 % der Schülerinnen und Schüler wechseln auf eine Grundschule, eine Mittelschule oder ein Gymnasium. Die Zahl der an allgemeinbildenden Schulen integrierten Schülerinnen und Schüler hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Das ist ein erfreuliches Ergebnis. Jedoch sind die Rahmenbedingungen der schulischen Integration sehr problematisch. In der Regel werden die Integrationsstunden im normalen Unterricht durch Unterrichtsvertretung oder Krankheit aufgebraucht.
Nur im Ausnahmefall sind sonderpädagogische Fachkräfte ausschließlich für die Förderung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf abgestellt. Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen, kommen in der Realität
Besonders betroffen hat mich in der Antwort auf die Große Anfrage gemacht, dass der größte Teil der Förderschüler, nämlich die Schüler mit Lernbehinderung und geistigen Einschränkungen, von Integration nahezu ausgeschlossen ist. Das liegt an der Schulintegrationsverordnung, die keinen lernzieldifferenzierten Unterricht nach Klasse 4 erlaubt. Für viele dieser Schüler bedeutet das: Ab der Schule ist ihre Teilhabe an der Gesellschaft immer nur auf Sondersysteme und -einrichtungen beschränkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe heute ziemlich viel Papier mitgebracht. Ich möchte Ihnen davon erzählen. Ich habe kürzlich in einer Zeitung über ein Gespräch gelesen, das eine blinde Frau und ein gehörloser Mann miteinander – mit Unterstützung eines Gebärdendolmetschers – geführt haben. Ich möchte Ihnen daraus vortragen.
Frau Wutzke sagt: „Für mich ist die Umgebung, zum Beispiel die Stadt, ein Dschungel von Geräuschen und Gerüchen. Seit einigen Jahren reden die Menschen mitten auf der Straße, weil sie telefonieren. Aus fast jedem Laden kommt Musik. Es wird viel Englisch gesprochen. Mir hilft das. Die Geräusche und Gerüche in einer Einkaufsstraße sind mein innerer Stadtplan. Nur Autos sind leiser. Das ist dann gefährlich für mich.“
Allerdings sagt sie auch: „Zu viele von den Geräuschen stressen mich. Mir gehen zum Beispiel“ – sie nennt zwei Elektronikfachhändler – „auf die Nerven. Ich gehe erst fünf Minuten vor Feierabend hinein, weil sie dann die Musik leiser drehen und ich die Chance habe, einen Verkäufer zu finden.“ Das sind Aussagen, die die blinde Frau gemacht hat.
Jetzt trage ich Ihnen Aussagen des Mannes vor. Er sagt: „Mir ist die Umgebung zu aufgeregt geworden. Ich sehe sie, aber ich höre sie nicht. Das ist, als wenn Sie aus der Straßenbahn aussteigen und Ihrer Freundin hinter der Scheibe ein Handzeichen geben: Wir telefonieren. So lebe ich. Jetzt stellen Sie sich vor: Jede Farbe, jede Schrift, jedes Licht ist ein kleiner Zuruf, als ob mich jemand
anspricht. Das ist mir zu viel – manchmal.“ Weiter sagt er: Für ihn sei Stille, Zeit zu haben, das Bild vor seinen Augen abzurufen in allen Einzelheiten. Die Gleichzeitigkeit der Reize strengt ihn an.
Warum habe ich Ihnen das vorgetragen? Weil ich mich frage: Was wissen wir eigentlich voneinander? Wie nehmen Menschen mit Einschränkungen die Welt wahr? Sie nehmen sie einfach anders wahr als wir, zum Beispiel in Bezug auf Sinneseindrücke. Aber sind nicht ihre Erfahrungen für uns alle wichtig? Wird uns nicht dadurch klar, dass uns das auch stresst? Uns stresst die Musik ja auch laufend, aber wir nehmen das nicht mehr wahr. Damit wird uns etwas bewusst gemacht, was wir so bewusst im Alltag gar nicht wahrnehmen. Darüber hinaus beschreiben sie die Welt anders. Sie können die Welt anders beschreiben, weil sie sie anders wahrnehmen. Sie können uns andere Erfahrungen vermitteln, zum Beispiel von Licht und Farbe.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe noch ein anderes Buch mitgebracht. Ich kann es nicht hochhalten, aber es ist ein Buch, welches ich empfehlen kann. Sie können gern an meinen Platz kommen und es sich anschauen. In dem Buch sind Freunde fotografiert, Kinder mit Behinderung und ohne Behinderung. Die Kinder mit Behinderung haben das Downsyndrom.
Zwei Mädchen sind befreundet mit einem jungen Mann. Mit ihm sind sie in die Schule gegangen. Sie sagen: „Mittlerweile studieren wir beide Sonderpädagogik in Köln. Sicherlich hat Dennis“ – Dennis ist der junge Mann mit Downsyndrom – „auch einen Teil dazu beigetragen, dass wir diesen Weg gegangen sind. Immer wieder komisch ist es, anderen Sonderpädagogikstudenten erklären zu müssen, was uns mit Dennis verbindet. Es ist leider üblicher, einen Menschen mit Downsyndrom zu betreuen, als eine ganz normale Freundschaft mit ihm zu teilen.“
Es folgt ein anderes Zitat aus diesem Buch: „Dennis ist für uns ein ganz besonderer Freund, aber nicht, weil er das Downsyndrom hat, sondern weil er so ein herzlicher Mensch ist, mit dem wir schon viele schöne Dinge erlebt haben.“
Das sind zwei Zitate aus diesem Buch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Wie gesagt, Sie können es sich gern ansehen.
Menschen mit Behinderungen – jedes Mal, wenn ich dieses Wort ausspreche, frage ich mich: Sollte man das noch sagen oder sollte man es nicht sagen? Aber es kommt natürlich in der UN-Behindertenrechtskonvention vor. Man kann auch „Beeinträchtigung“ sagen. Es ist in unserem Sprachgebrauch so vorhanden und vielleicht sollten wir uns dafür etwas anderes einfallen lassen, aber ich verwende es jetzt. Solange wir Menschen mit Behinderungen in erster Linie als Menschen mit Defiziten in Verbindung bringen, so lange wird es keine Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft geben.
Das Umdenken muss bei uns beginnen, und zwar täglich, immer und überall. Selbstverständlich ertappe auch ich mich dabei zu denken: Wie soll denn dies oder jenes gehen, wenn der Mensch irgendeine vermeintliche Voraussetzung dafür nicht erfüllt? Wie soll das gehen?
Das liegt aber daran, dass wir eben keine Erfahrung miteinander haben. Wir kennen nicht unsere Stärken, sondern immer nur die Schwächen. Ist uns eigentlich schon einmal der Gedanke gekommen, dass Menschen mit geistiger Behinderung Stärken haben, nicht nur Fertigkeiten in der Werkstatt, die man entwickeln kann, sondern ganz persönliche starke Seiten? Ich habe erfahren, dass viele von ihnen ganz klare Ansagen machen. Sie sind nicht so diplomatisch, wie wir es sind. Das, was sie sagen, gilt. Sie meinen es genau so, wie sie es sagen.
Die reden nicht drum herum; genauso ist es. Das heißt aber auch, ich kann mich darauf verlassen, was sie sagen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie wissen, dass mit unserer Großen Anfrage auch Irritationen ausgelöst wurden. Nach dieser Großen Anfrage war ich viel unterwegs und habe mich mit Lehrern, Eltern und Schülern unterhalten, auch um Erfahrungen in Schulen zu machen und mich in diese Auseinandersetzungen zu begeben. Das hat auch mich ein Stück weit verändert. Solche Auseinandersetzungen verändern einen. Man macht Erfahrungen, die man vorher nicht gemacht hat; ganz klar.
Eine Erfahrung ist: Nicht meine Auffassung von der Welt ist immer richtig, sondern es gibt vielfältige Erfahrungen und alle sind richtig und einzig. Unsere Bewertung steht uns an dieser Stelle gar nicht zu.
Mich macht sehr betroffen, wenn Kinder mit Behinderungen gar nicht geboren werden. Dann frage ich Sie als Koalition – ich kann auch uns alle fragen, die wir Christen sind –: Können wir als Christen uns eigentlich vorstellen, dass es Menschen gibt, die ohne Begabung auf die Welt kommen, die ohne Begabung bedacht sind? Können wir uns das vorstellen? So behandeln wir sie ja manchmal. Wenn wir sie nicht willkommen heißen, meine ich, berauben wir uns genau dieser Begabung. Auch deshalb diese Große Anfrage.
Erfahrungen in der Kindheit prägen die Haltung. Schulen sind nicht nur Orte der Wissensvermittlung und Förderung, sondern sie sind Lebensorte. Wenn wir eine inklusive Gesellschaft wollen, wenn wir die UNBehindertenrechtskonvention umsetzen wollen – dazu hat sich Deutschland und damit Sachsen verpflichtet –, dann müssen wir in den Schulen anfangen. Das ist meine tiefe Überzeugung.
Die Große Anfrage zeigt uns, dass unser Bildungssystem bisher bestenfalls auf Akzeptanz setzt, aber von dem Gedanken der gegenseitigen Bereicherung Lernen voneinander noch meilenweit entfernt ist. Ich sagte bereits, dass die Große Anfrage zu viel Verunsicherung geführt hat. Das kann, muss aber nicht produktiv sein. Einen
Angriff gegen Lehrer habe ich nicht beabsichtigt und den hat auch die Fraktion nicht beabsichtigt. Deshalb tut es mir leid, wenn Missverständnisse aufgekommen sind. Wir brauchen alle Förderschullehrer.
Wir brauchen sie, aber an einer anderen Stelle. Wir brauchen sie nicht in der Förderschule, sondern in der Regelschule. Dafür, dass sie bereit sind, ein Stück weit mitzugehen, danke ich ihnen.
Ich wünsche mir und uns allen, dass Förderpädagogen weiterhin als Anwalt für Kinder und Eltern unterwegs sind, aber auch als kritische Begleiter auf dem Weg der Inklusion. Ich bitte Sie: Wirken Sie nicht nur an den Schulen, sondern auch in die Gesellschaft hinein. Das ist es, was ich heute den Förderschullehrern von dieser Stelle aus sagen möchte.