Wir fahren in der allgemeinen Aussprache fort. Für die CDUFraktion spricht der Abg. Thomas Colditz. Herr Colditz, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nicht nur der Titel der vorliegenden Großen Anfrage gleicht dem des Antrages, den wir gleich mit beraten. Auch inhaltlich beziehen sich wohl diese beiden Drucksachen aufeinander. Insofern bin ich der Fraktion GRÜNE durchaus dankbar dafür, dass wir heute diese beiden Drucksachen miteinander im Zusammenhang diskutieren.
Meine Damen und Herren! Die Große Anfrage reflektiert zumindest partiell die Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung insbesondere im Blick auf bereits vollzogene Integrationsmaßnahmen. Der damit im Zusammenhang stehende Antrag initiiert die Weiterentwicklung unseres Schulsystems in Sachsen im Sinne der Umsetzung der UN-Konvention für behinderte Menschen. Gestatten Sie mir aber zunächst einige wenige grundsätzliche Bemerkungen.
Menschen mit Behinderung gehören als gleichberechtigte Mitglieder zu unserer Gesellschaft. Sie haben die gleichen Rechte bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Ich denke, dass das sehr schnell eine Phrase ist. Diese Feststellung findet zwar grundsätzlich breite gesellschaftliche Zustimmung, wenn man sie so in den Raum stellt. Aber weder die Gesellschaft noch die Politik ist wirklich problemlos bereit, Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen und insbesondere auch Berührungsängste zurückzunehmen.
Im Mai dieses Jahres wurde bei einem parlamentarischen Abend der Lebenshilfe festgestellt: „Erst, wenn Menschen ohne Behinderung bereit sind, sich in die Probleme von
Menschen mit Behinderung einzufühlen, dann können sich auch Ideen und Maßnahmen entwickeln, mit denen Barrieren abgebaut werden.“
Ich denke, dieses Einfühlen ist mehr, als sich Probleme von Betroffenen anzuhören, und ist auch mehr als plakatives politisches Agieren. Es ist wohl vor allem die Tatsache anzuerkennen, dass Menschen verschieden sind, diese Verschiedenheit aber nicht automatisch eine Differenzierung von Lebensqualität mit sich bringen muss bzw. das rechtfertigt oder, wie es Richard von Weizsäcker einmal gesagt hat: Es ist normal, verschieden zu sein, es gibt keine Norm für das Menschsein. Manche Menschen sind blind oder taub, andere haben Lernschwierigkeiten, eine geistige Behinderung, aber es gibt auch Menschen ohne Humor, ewige Pessimisten, unsoziale oder sogar gewalttätige Männer und Frauen.
Meine Damen und Herren! Die Herausforderung ist es wohl deshalb, diese Verschiedenheit als Normalität anzuerkennen und damit umzugehen, einander anzunehmen und füreinander da zu sein, aber auch Selbstbestimmung, Autonomie und wirksame Teilhabe zu ermöglichen. In diesem Kontext ist Inklusion dann auch ein politisches Programm mit dem Ziel, spezifische Menschenrechte Wirklichkeit werden zu lassen.
Es geht bei dem Thema Inklusion aber nicht darum, Türen aufzumachen und Menschen mit Behinderung auch hineinzulassen, sondern es geht darum, Mauern zu verschieben, damit automatisch alle drin sind.
Die Politik kann dazu vor allem Vorkehrungen und Rahmenbedingungen schaffen, die wirksame Ausgestaltung im Sinne des Artikels 3 der Konvention, also Achtung, Nichtdiskriminierung, vollständige und wirksame Teilnahme in der Gesellschaft, liegt aber in der Verantwortung von uns allen, in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft. Ich denke, in diesem Kontext müssen wir auch die bereits umgesetzten und noch zu vollziehenden Entwicklungen im Schulbereich sehen.
Mit der vorliegenden Großen Anfrage werden nun insbesondere Respekt und Entwicklung der sonderpädagogischen Förderung im sächsischen Schulsystem analysiert. Man kann durchaus davon ausgehen, dass sich in den letzten 20 Jahren die sonderpädagogische Förderung in unseren Schulen inhaltlich positiv entwickelt hat. Wie stellt sich nun knapp und prägnant der Ist-Zustand dar? Ich will einige Rahmenbedingungen nennen.
Individuelle Förderung ist im Schulgesetz verankert und betont die Orientierung der Ausgestaltung jeglicher schulischer Veranstaltungen, insbesondere des Unterrichts an den individuellen Lern- und Entwicklungsvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. Jeder Schüler in Sachsen, auch jeder Schüler mit Behinderung hat entsprechend seinen Fähigkeiten und Neigungen Zugang zu schulischer Bildung. Wenn wir einmal 20 Jahre zurückdenken, dann war das nicht immer so in diesem Land.
Kein Schüler wird aufgrund von bestehenden Rechtsvorschriften von der schulischen Bildung und Erziehung ausgeschlossen. Die allgemeinbildenden Förderschulen gehören zu den allgemeinbildenden Schulen generell und sind auch fester Bestandteil des sächsischen Schulsystems, und aus unserer Sicht sollen sie das auch bleiben.
Sachsen konnte in den letzten Jahren Entwicklungsfortschritte auch in der Ausgestaltung schulischer Integration erzielen. So besuchten in Sachsen im Schuljahr 2009/2010 ungefähr 4 100 Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf allgemeinbildende Schulen. Der prozentuale Anteil der integrierten Schüler in den allgemeinbildenden Schulen stieg von 2004/2005, wo es 8,3 % waren, auf dann insgesamt 17,9 % in den Jahren 2009/2010.
Wir müssen aber dennoch an dieser Stelle die Integrationsmöglichkeiten, die bisher umgesetzt wurden, differenziert und durchaus kritisch analysieren. Frau Hermann hat es eben schon getan. Nicht immer konnte dem Wunsch von Betroffenen nach integrierter Beschulung oder integrativer Beschulung entsprochen werden. Bisher kann auch nicht der subjektive Wunsch von Eltern zum alleinigen Maßstab für die Entscheidung gemacht werden. Sicherlich ist es auch gerechtfertigt, dass das Wohl des Kindes durch gutachterliche Stellungnahmen mit berücksichtigt wird. Kritisch muss man aber dennoch anerkennen, wenn Integration aus Gründen der finanziellen, der personellen und der infrastrukturellen Gegebenheiten abgelehnt wird.
Auch die lernzieldifferente Integration findet bisher in unserem Schulsystem kaum statt. Hier werden wir bei der Umsetzung der Inklusion, wie das auch der Antrag vorsieht, sicherlich die Weichen neu stellen müssen.
Ich will in Anlehnung an den bisher erreichten Entwicklungsstand der sonderpädagogischen Förderung in Sachsen einige Behandlungsfelder nennen. Regelschulen sind als fähiger Ort der Bildung und Erziehung und Förderung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf weiter zu stärken. Ich denke hier insbesondere an die Frage der personellen Absicherung. Sachsen braucht für die weitere Gestaltung der Übergänge zwischen den Schularten eine noch bessere Abstimmung zwischen allen Beteiligten. Um dieses Ziel zu erreichen, braucht es an allen sächsischen Schulen Lehrer, die letztlich als besondere Ansprechpartner für diese Fragen zur Verfügung stehen.
Als Ziel jeglicher Bildung benennt die Behindertenrechtskonvention unter anderem auch Nichtdiskriminierung, Chancengleichheit und die volle wirksame Teilnahme an der Gesellschaft sowie nachdrücklich gleiches Recht von Menschen mit Behinderung unter anderem auf Bildung und Arbeit. Das ist auch für Sachsen als Zielstellung so zu setzen.
Der Freistaat Sachsen vertritt dabei, wie andere Bundesländer auch, die Auffassung, dass das Bildungsziel individuell und auf verschiedenen Wegen zu erreichen sein wird, sei es integrativ oder über die Förderschulen.
Frühe Hilfen und frühe Bildung, auch frühe Förderung haben für behinderte und von Behinderung bedrohte Kinder eine besondere präventive und kompensatorische Relevanz. Deshalb ist die Entwicklung von Konzepten für eine intensive Kooperation zwischen allen Einrichtungen des Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesens unter Einbeziehung der Sonderpädagogik letztlich ein Thema, das es zu intensivieren gilt.
Einen besonderen Schwerpunkt stellt der Ausbau von Netzwerken zwischen allen Bildungsbereichen und außerschulischen Partnern dar. Wirksame und gleichberechtigte Teilhabe erfordert letztlich auch die Bereitstellung von Unterstützungsleistungen und Systemen durch medizinisches und/oder pflegerisches Personal, durch Assistenten und durch Integrationshelfer.
Schließlich bildet einen weiteren Schwerpunkt gegenwärtig und zukünftig die Qualifikation unserer Lehrer, und zwar nicht nur der Förderschullehrer, in den Fragen der sonderpädagogischen Förderung.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Gruppenantrag soll die Umsetzung der UN-Behindertenkonvention, der die Bundesrepublik mit Beschluss vom Bundestag im März 2009 beigetreten ist, befördern. Diese Konvention verpflichtet die Länder und Staaten zur Erlangung des Zieles, die Chancengleichheit von Menschen mit Behinderung zu fördern und ihre Diskriminierung in der Gesellschaft zu unterbinden. Die Konvention nimmt dabei Bund, Länder und Kommunen gleichermaßen in die Verantwortung. Zugleich wird aber auch ein Auftrag an die gesamte Gesellschaft formuliert, der nicht zuletzt eine Bewusstseinsänderung in großer Breite erfordert.
Wenn sich der vorliegende Antrag insbesondere der Umsetzung des Artikels 24 dieser Konvention widmet, darf man sicherlich das eben Gesagte nicht ausblenden. Eine inklusive Insellösung in den Schulen wird in einem sonst anders agierenden und anders denkenden gesellschaftlichen Umfeld von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. Auch wenn schulische Integration wichtige Impulse und wichtige Ideen in die Gesellschaft hinein liefern kann, ist sie dennoch auf ein förderndes gesellschaftliches Umfeld angewiesen.
Insofern kann der vorliegende Antrag wohl lediglich einen Beitrag zur Umsetzung eines wesentlich umfassenderen und auf die Gesamtgesellschaft bezogenen Maßnahmenkatalogs zum Thema Inklusion sein. Im Wettbewerb um die besten Ideen und Maßnahmen kann sich dieses Thema sicherlich auch einer politisch kontroversen Diskussion nicht entziehen. Gleichwohl ist aber das Thema nicht geeignet für Parteienstreit oder für politische Profilierung, und zwar weder aus moralischen noch aus sachbezogenen Überlegungen heraus.
Deshalb ist es wohl an dieser Stelle ausdrücklich zu begrüßen, dass dieser Antrag überfraktionell eingebracht und verabschiedet wird. Ich denke, dass damit die Umsetzung dieses Anliegens unter einem guten Stern steht, zumal es wohl nicht zum Alltag gehört, dass der Parlamentarismus viele Sternstunden hat.
Die Konvention gibt auch einen klaren Auftrag zur Weiterentwicklung unserer schulischen Bildung. Sie verpflichtet die Vertragsstaaten zu einem inklusiven Schulwesen, das gemeinsamen Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf ermöglicht. Dazu gehört der gleichberechtigte Zugang zum Unterricht in Grundschulen und weiterführenden Schularten. Über die konkrete Ausgestaltung der Inklusion an den Schulen macht die Konvention gleichwohl keine Vorgaben. Hier liegt die Verantwortung der Vertragsstaaten darin, den Auftrag der Konvention im Rahmen der nationalen Besonderheiten umzusetzen.
Da in Deutschland die Verantwortung für das Bildungswesen die Länder tragen, liegt es nun auch an Sachsen, den Verpflichtungen im Rahmen der Konvention Rechnung zu tragen.
Dem vorliegenden Antrag liegt das klare Bekenntnis der beteiligten Fraktionen zu den Zielen der UN-Konvention zugrunde. Der Antrag ist Ausdruck des Willens der beteiligten sächsischen Parteien im Landtag, die UNKonvention im sächsischen Schulsystem umzusetzen. Dabei ist uns allen klar, dass es sich hierbei um eine bedeutende Aufgabe für die gesamte Gesellschaft handelt, die nur durch gesamtgesellschaftliches Engagement und durch gesamtgesellschaftliches Bewusstsein zu tragen ist.
Meine Damen und Herren, der vorliegende Antrag kann dabei natürlich nur ein Einstieg in eine wesentlich umfassendere und notwendige Diskussion sein, die wir auch hier im Plenum – aber nicht nur hier – führen müssen. Die Zuarbeit, die dazu das in Aussicht gestellte Expertengremium liefern kann, soll die anstehende politische Diskussion bereichern und befördern.
Insofern – das möchte ich an dieser Stelle in aller Deutlichkeit sagen – ist dieses Expertengremium auch keine Alibiveranstaltung, die etwa zum Ziel hat, die Umsetzung der UN-Konvention weiter zu verzögern.
Meine Damen und Herren, deshalb wollen wir den Verständigungsprozess mit diesem Gremium kontinuierlich begleiten; das haben wir bereits im Schulausschuss abgestimmt. Zudem bietet die im Antrag beschriebene Zeitschiene die Möglichkeit, diesen stattgefundenen Verständigungsprozess immer auch parlamentarisch zurückzukoppeln.
Bei aller zu erwartenden und schon vorhandenen politischen Kontroverse zu diesem Thema wünsche ich mir, dass die Konstruktivität und die gegenseitige Achtung, die die Verständigung beim Zustandekommen dieses Antrages letztlich geprägt hat, auch die weitere Beratung und Beschlussfassung zum Thema Inklusion prägt.
Unsere parlamentarische Demokratie lebt vom politischen Parteienstreit um die jeweils besten Lösungen. Politikverdrossenheit nimmt aber dann zu, wenn es beim bloßen Streit bleibt. Diese allgemeine Feststellung ist beim Thema Inklusion wohl mit besonderer Schärfe zu treffen, wenn die Klientel, der entsprochen werden soll, auch wirksame Hilfe und Unterstützung erfahren soll.
Letztlich wird es von den Betroffenen wohl auch erwartet, dass wir zu Lösungen kommen, die im Interesse der Menschen sind, um die es eigentlich geht.
Meine Damen und Herren, die beteiligten Fraktionen haben im Gegensatz zum politischen Alltag bewusst die Gemeinsamkeiten in den Vordergrund gestellt, anstatt Trennendes zu betonen; denn das Miteinander aller Beteiligten – aller Schüler, Eltern, Pädagogen und Förderschulen, aber auch allgemeinbildenden Schulen, Vertreter der Kommunen, der Schulträger und der Politik – ist letztlich entscheidend für den Erfolg. Wir wollen alle mitnehmen auf diesem Weg. Die Arbeitsgruppe hat sich deshalb dazu entschieden, auf einen konsequenten, pragmatischen Weg zu setzen, der alle Beteiligten fordert, aber nicht überfordert. Nicht theoretisch-ideologische Diskussionen, sondern die Kinder mit ihren Rechten und Bedürfnissen sowie konkrete Erfolge in der Umsetzung der Behindertenkonvention stehen im Mittelpunkt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Colditz, vielen herzlichen Dank für den sehr sachlichen und konstruktiven Beitrag, der mich zur Abwandlung von Brecht treibt: Inklusion ist das Einfache, was schwer zu machen ist. Vielen Dank auch an die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN für die Große Anfrage und auch der Dank an die Staatsregierung für die Antwort. Ich glaube, die umfangreiche Antwort hat uns alle überrascht.
Ich stimme mit beiden, Frau Herrmann und Herrn Colditz, überein und hoffe sehr, ab heute werden neue Weichen gestellt, wenn es um Integration und Inklusion in den Schulen geht. Ich bin der Ansicht, dass wir auf der Grundlage des Materials, das wir zur Verfügung haben und das wir in dieser Legislatur schon aus anderen Anträgen gesammelt haben, in weitere konstruktive Diskussionen einsteigen sollten, insbesondere auch, was die Anforderung an den sonderpädagogischen Bedarf betrifft – für Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderung, Hochbegabung oder eben auch für Schülerinnen und Schüler, die körperliche, geistige, seelische oder Sinnesbeeinträchtigungen haben.
Wenn wir über Inklusion nachdenken – hier wandle ich Sie etwas ab, Herr Colditz: Sie haben nicht die gleichen
Rechte, sie haben dieselben Rechte; ich finde, das ist stärker –, sollten wir uns aber dennoch vergegenwärtigen, dass es – wie bei Menschen ohne Beeinträchtigung – unterschiedliche Leistungsmerkmale geben kann, wie man mit Dingen umgeht, und dass Menschen mit Beeinträchtigungen hier und da sehr wohl unterstützenden Bedarf benötigen – ob in Form von Assistenz oder wie auch immer.
Die Herausforderungen sehe ich aber für uns darin, dass wir es im Schulwesen generell schaffen, dass alle Schulen für alle offen sind.