Protokoll der Sitzung vom 08.03.2011

Drucksache 5/0819, Antrag der Fraktion DIE LINKE,

mit Stellungnahme der Staatsregierung

Hierzu können die Fraktionen Stellung nehmen. Es beginnt die einreichende Fraktion, danach folgen CDU, SPD, FDP, GRÜNE, NPD und die Staatsregierung, wenn sie es wünscht. Ich erteile nun der LINKEN das Wort; Frau Abg. Lauterbach, bitte.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Damen und Herren! „Ersatzlose Streichung der Praxisgebühr“ – ja, wir halten daran fest, gibt es doch gerade jetzt gute Gründe, dieses unsägliche Bürokratiemonster abzuschaffen.

(Beifall bei den LINKEN)

Die Linksfraktion fordert die Staatsregierung auf, sich im Bundesrat und gegenüber der Bundesregierung auf jede geeignete Weise dafür einzusetzen, dass die Praxisgebühr ersatzlos gestrichen wird. Die Praxisgebühr – ich möchte es Ihnen nochmals in Erinnerung rufen – ist eine Zuzahlung, die Versicherte in der gesetzlichen Krankenversicherung seit 2004 zahlen müssen: bei Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, dem kassenärztlichen Notdienst und der Notaufnahme im Krankenhaus. Es bleibt also bei Weitem nicht bei den 80 Euro für Arzt oder Zahnarzt. Zuzahlungspflichtig sind nur gesetzlich Versicherte über 18 Jahre. Im Umkehrschluss entfällt diese bei Selbstzahlern und privat Versicherten.

Werte Abgeordnete! Es geht uns nicht nur um die Eintrittsgebühr beim Arzt, es geht uns auch um 8,3 Millionen Arbeitsstunden, in denen gut ausgebildete Krankenschwestern mit Verwaltungsaufgaben betraut werden – Zeit, in der kein Honorar verdient wird, und es erfolgt auch kein Ausgleich.

Was waren nun die Ziele der Praxisgebühr? Es war die Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten für ihre Gesundheit. Frau Schütz sagte bereits 2008: „Die Praxisgebühr führt nicht zu weniger Arztbesuchen, sie führt nicht zu mehr Gesundheitsbewusstsein, und sie führt auch nicht zu mehr Eigenverantwortung.“

(Dr. Monika Runge, DIE LINKE: Hört, hört!)

Daran hat sich nichts geändert. Eine Stichprobenerhebung im Jahr 2005 ergab 16 Arztbesuche pro Jahr pro Versichertem. Wir sind heute wieder bei 18 Arztbesuchen angelangt – international spitze! Das heißt aber trotzdem: Ziel nicht erreicht.

Ein zweites Ziel ist die Reduzierung der Selbstüberweisungen. Ja, der Hausarzt hat eine gewisse Lotsenfunktion übernommen. Gleichzeitig ist die Zahl der Überweisungen um über 40 % gestiegen. Besonders gesundheitsbewusste Menschen wählen nach wie vor ihren Arzt selbst, und auch der Facharzt weist darauf hin, dass nicht zwingend eine Überweisung notwendig ist. Also ist auch hier das Ziel nur teilweise erfüllt.

Ich denke, das wichtigste Ziel ist: Das Bundesministerium hoffte auf zusätzliche Einnahmen von 2,6 Milliarden Euro. Die Praxisgebühr bringt maximal 2 Milliarden Euro. Auch hier: Ziel nur teilweise erfüllt. Die Steuerungswirkung ist also sehr zweifelhaft, und genau deshalb haben wir heute dieses Thema auf die Tagesordnung gesetzt.

Werte Abgeordnete! Der Staat leistet sich einen Überschuss von mehr als 19,5 Milliarden Euro. Schlagzeilen wie „Krankenkassen sitzen auf Milliardenüberschüssen, doch zurückgezahlt wird nichts“ oder „Bund will Milliarden aus Gesundheitsfonds nicht weitergeben“ machen schon nachdenklich. Von diesen Überschüssen könnten eine Woche lang alle Leistungen im Gesundheitswesen bezahlt werden. Das klingt schon erst einmal nicht schlecht, aber AOK PLUS und IKK classic weisen darauf hin, wie gefährlich diese Schlagzeilen sein können. Beide Kassen – auch viele andere Kassen – haben gut gewirtschaftet und könnten also für Patienten kurzfristig Prämien auszahlen. Es ist einfach kurzfristig, was Gesundheitsminister Bahr fordert. Die Kassen wollen und sollen kalkulierbar und stabil bleiben sowie nachhaltig arbeiten können. Ein kurzfristiges Auf und Ab hilft niemandem.

Wir als LINKE wollen keine Gesundheitsversorgung nach Kassenlage.

Minister Bahr handelt mit seinen Milliarden im Gesundheitsfonds ähnlich. Das Polster aus dem Gesundheitsfonds will er nicht für Beitragssenkungen verwenden; denn auch das wäre eine Alternative, und auch dies wäre eben kurzfristig gedacht. Das weckt natürlich Begehrlichkeiten des immer klammen Finanzministers Herrn Schäuble. Er möchte so gern den Spardruck nicht lockern, sondern im Haushalt 2013 die Überschüsse von 14 Milliarden Euro zur gesetzlichen Krankenversicherung lieber um

2 Milliarden Euro kürzen. Genau dies wären die 2 Milliarden Euro, die mit der Abschaffung der Praxisgebühr den Versicherten zugutekommen würden. Die gute finanzielle Situation soll jedoch für den Schuldenabbau des Bundes herhalten.

(Volker Bandmann, CDU: Das ist das Allerschlimmste, was es gibt, Schuldenabbau! Das ist ja furchtbar – in Anführungszeichen! – Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE: Ruhe! – Heike Werner, DIE LINKE: Das ist doch dafür gedacht!)

Richtig, der Steuerzuschuss ist aber kein Geschenk, sondern ein Ausgleich für versicherungsfremde Leistungen, die sich insgesamt nicht auf 14, sondern auf 34 Milliarden Euro belaufen. Die Geschröpften sind hierbei die Versicherten. Sie fühlen sich bei dem Milliardenpoker abgezockt – und das zu Recht. Genau deshalb sollten Sie, liebe Koalition, über eine alternative Entlastung der Bürgerinnen und Bürger in Sachsen nachdenken.

(Vereinzelt Beifall bei den LINKEN)

Die gesetzlich Versicherten haben ihren Tribut gezahlt. Das Solidarprinzip ist ausgehebelt, die paritätische Verteilung der Kosten ist längst Geschichte. Die Zuzahlungen zu Rezepten, Krankenhausbehandlungen, Zahnersatz und Ähnlichem schröpfen die Versicherten zusätzlich.

Angesichts des aktuellen Finanzpolsters im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung überschlagen sich natürlich die politischen Forderungen und Begehrlichkeiten. Nicht nur Herr Bahr möchte seine Milliarden sparen, und nicht nur Herr Schäuble möchte seine 2 Milliarden sparen.

Die Träger des Gesundheitswesens wollen die bestehenden Sparmaßnahmen nicht akzeptieren. Die Pharmaindustrie stellt die Rechtmäßigkeit der Zwangsrabatte auf verschreibungspflichtige Medikamente infrage. Krankenhäuser bezweifeln, dass die Kürzungen zulasten der Kliniken aus dem Jahr 2009 noch verfassungsgemäß sind, jedoch sehen nicht nur Krankenkassen, Gesundheitsökonomen und Ärzteverbände die Praxisgebühr als gescheitert an. Die Kassenärztliche Bundesvereinigung weist besonders darauf hin, dass sich die Praxisgebühr als unsozial und präventionsfeindlich erwiesen hat und in den untersten Einkommensschichten der Anteil der Menschen, die auf Arztbesuche verzichten, am höchsten ist. Auch wenn Ihnen, Frau Staatsministerin, jetzt keine fundierten

Zahlen vorliegen, dass sozial schwache Menschen nicht zum Arzt gehen: Schauen Sie den Menschen ins Gesicht!

(Staatsministerin Christine Clauß: Nicht aufgrund der Praxisgebühr, Frau Kollegin!)

Es gibt sicherlich viele Ursachen. Schauen Sie den Menschen ins Gesicht. Sie gehen auf jeden Fall weniger zum Zahnarzt, das sieht man. Dazu braucht man keine Statistik.

Aber nicht nur wir LINKEN, sondern auch die Bundesregierung schimpft auf die Praxisgebühr und will Alternativen prüfen. Konkrete Neustrukturierungen lassen jedoch auf sich warten. Es gab einen Vorstoß der Koalition mit 5 Euro pro Arztbesuch, der jedoch sehr schnell wieder verschwand. Heute eine dpa-Meldung: Die FDP-Führung will angesichts der Milliardenüberschüsse auf eine Abschaffung der Praxisgebühr drängen und dazu im nächsten Koalitionsausschuss mit der CDU beraten. – Das ist doch etwas!

(Beifall der Abg. Dr. Dietmar Pellmann und Horst Wehner, DIE LINKE – Anja Jonas, FDP: Gut!)

Liebe Koalition! Die Abschaffung der Praxisgebühr und die Einsparung von 8,3 Millionen Arbeitsstunden ist ein lohnenswertes Ziel. Wir brauchen die Krankenschwestern und Arzthelferinnen als Fachkräfte, zum Beispiel in der Pflege, nicht als Schreibkräfte. Denken Sie an Ihren Wahlslogan: „Mehr Brutto vom Netto!“.

(Klaus Tischendorf, DIE LINKE: Jawohl!)

Zeigen Sie in Sachsen, dass auch das eine Alternative zur Praxisgebühr sein kann! Unterstützen Sie den Antrag.

(Beifall bei den LINKEN)

Die CDUFraktion; Frau Abg. Strempel, bitte.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Lauterbach, ich gehe davon aus, Sie meinten „Mehr Netto vom Brutto“. Sicherlich ist das ein Wunsch, den jeder hat.

(Dr. Dietmar Pellmann, DIE LINKE: Die Kanzlerin hat das auch schon mal gedacht!)

Bevor ich in das eigentliche Thema einsteige, möchte ich ein Horrorszenario wegwischen: Kinder können heute zum Zahnarzt gehen, und sie brauchen dort keine Praxisgebühr zu bezahlen. Das Thema Mundgesundheit ist heute bereits bei den Kindern in den Kindereinrichtungen präsent. Die Frage lautet sicherlich – diese wird auch keine Politik lösen –, wie die Eltern ihre Kinder zur Mundgesundheit erziehen, denn ein schönes Gebiss gehört zur Würde und zur Gesundheit im Leben. Das kann natürlich nur im Gespräch vermittelt werden. Wie dann der einzelne Erwachsene damit umgeht... Ihm kann die Politik nicht sagen: Du musst jetzt zum Zahnarzt gehen. Ich denke, diese Verantwortung ist eine gemein

same Sache, dass jeder etwas für seine Gesundheit tun muss.

(Beifall bei der CDU)

Übrigens: Die Vorsorge kostet nichts. Wenn man heute zum Zahnarzt geht, braucht man keine Praxisgebühr zu bezahlen, und wer regelmäßig zum Zahnarzt geht, der braucht auch keine Angst zu haben, dass er dort dem Bohrgeräusch ausgesetzt ist.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Nun möchte ich zum Thema kommen. Die Praxisgebühr, um die es heute geht, wurde durch die rot-grüne Bundesregierung im Zusammenhang mit dem GKV-Modernisierungsgesetz im Jahre 2004 eingeführt, und es ist auch völlig richtig: Die Ziele kann man nur unterstreichen. Ich möchte sie nochmals betonen:

Erstens – Stärkung der Eigenverantwortung jedes Versicherten für seine eigene Gesundheit. Dies habe ich zu Beginn gesagt und ein Beispiel dazu genannt.

Zweitens – Reduzierung der Selbstüberweisungen von Patienten an die verschiedensten Fachärzte. Das ist auch nachgewiesen worden, dies bestreiten nicht einmal die Ärzte. Die Lotsenfunktion des Hausarztes hat sich gut etabliert. Das wollten wir auch, und es muss noch verstärkt werden. Wir brauchen nur mehr Hausärzte, das ist überhaupt keine Frage. Auch dabei sind wir aber auf dem besten Weg.

Drittens – die kurzfristige finanzielle Entlastung der gesetzlichen Krankenkassen.

Dass die Praxisgebühr seit ihrer Einführung nicht unumstritten ist, wissen wir. Die derzeitige Diskussion um die Einnahmenüberschüsse der gesetzlichen Krankenversicherung zeigt dies auch sehr deutlich, und ich betone: Wo Geld sichtbar wird, werden sofort Begehrlichkeiten geweckt. Das ist ein ganz normaler menschlicher Fakt.

Meine Damen und Herren! In der aktuellen Diskussion wird dabei aber wiederholt behauptet, dass die angedachten Ziele der Praxisgebühr nicht erreicht worden wären, einzelne Zielgruppen sogar vom Arztbesuch abgehalten würden und die ganze Problematik der Praxisgebühr zu hohen bürokratischen Hürden führe. In der Zwischenzeit sagen die Ärzte zu Letzterem selbst: Das wird im Vorzimmer bei meiner Sprechstundenhilfe abgehandelt, mich selbst tangiert es nicht mehr. Davon sprechen wir also nicht mehr. Klar und deutlich: Es gibt keine Studie – das sagen auch die einzelnen Leistungserbringer –, die darlegt, dass der sozial Schwache von einem Arztbesuch abgehalten wird.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Anja Jonas, FDP)

Es steht jedem im Bedarfsfall die medizinische Behandlung zu, und ich lasse wirklich nichts auf unser gutes, solidarisches deutsches Gesundheitssystem kommen. Wir sind das teuerste, sicherlich nicht das effizienteste, aber weltweit doch eines der am höchsten geachteten Gesund

heitssysteme, und das lassen wir uns von niemandem schlechtreden.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Anja Jonas, FDP)

Leider wird in dieser Diskussion – auch heute wieder – das Ziel zu wenig hervorgehoben: die Stärkung der Eigenverantwortung der Versicherten. Das finde ich bedauerlich, da wiederholt der Anschein erweckt wird, die Praxisgebühr diene dazu, die Menschen vom Arztbesuch abzuhalten.

Ziel muss es sein – das ist völlig richtig –, das Kostenbewusstsein des Versicherten bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen zu entwickeln. Ich möchte zwei Erhebungen anführen, die keiner vom Tisch wischen kann – ich habe sie nachgelesen; dies können Sie übrigens auch tun –: zum Ersten die aktuellen Untersuchungen des Versorgungsatlasses, nachzulesen unter www.versorgungsatlas.de, und zum Zweiten der „Arztreport 2012“ der Barmer GEK.

Laut Versorgungsatlas, in dem die Basisdaten auf den Abrechnungen von 2007 beruhen, wurden die ambulanten Arztkontakte von rund 74 Millionen Patienten in der GKV ausgewertet. Im Durchschnitt gingen im Jahr 2007 die Patienten 17,1 Mal zum Arzt. Dieser Mittelwert wird aber vor allem – nun kommt es! – durch eine kleinere Gruppe von Patienten mit besonders hohem Versorgungsgrad in Anspruch genommen.