Protokoll der Sitzung vom 13.06.2012

(Beifall bei der SPD, den LINKEN und vereinzelt bei den GRÜNEN)

Für die FDP-Fraktion spricht Frau Abg. Schütz. Bitte, Frau Schütz, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Nach langem Ringen und vielen Diskussionen ist es nun mit unserem Gesetzentwurf gelungen, ein liberales Heimgesetz für unseren Freistaat Sachsen auf den Weg zu bringen. Wir haben mit diesem „Gesetz zur Sicherstellung der Rechte von Menschen mit Unterstützungs-, Pflege- und Betreuungsbedarf in unterstützenden Wohnformen“ die Chance genutzt, die Normen an die heutigen Bedarfe anzugleichen.

Damit meine ich vor allem zwei wesentliche Prämissen, an denen sich unser Entwurf orientiert: Der Staat soll nur dort regeln, wo tatsächlich ein staatliches Schutzbedürfnis besteht, und das Heimrecht soll nur dann greifen, wenn ein Mensch nicht mehr selbstständig entscheiden kann.

In den Diskussionen haben Sie bereits gemerkt, dass die Intentionen, wie Pflegebedürftige im Freistaat Sachsen gesehen werden, sehr unterschiedlich sind. Frau Lauterbach von den LINKEN und Frau Neukirch von der SPD sind der Meinung: Alles, was nur in irgendeiner Weise mit Pflege und Betreuung in Berührung kommt – Kurzzeitpflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienste oder

Betreutes Wohnen –, soll zukünftig unter ein Heimgesetz fallen, obwohl die Bewohner noch vollkommen frei und selbstständig entscheiden. Alle diese Einrichtungen sollten nach der vorangegangenen Diskussion mit der Heimaufsicht überprüft werden.

Von einer modernen Ansicht, von einem modernen Gesetz kann dabei weiß Gott keine Rede sein. Nein; wir wollen mit unserem Gesetzentwurf Standards und Qualität beibehalten, ohne neue, nicht tatsächlich vor Ort wirkende Standards zu begründen. Wir wollen unbürokratischer sein, statt neue Bürokratiemonster zu schaffen. Nach Ihren Ausführungen, Frau Neukirch, wäre es schon eine Meldepflicht an die Heimaufsicht wert, wenn zwei sich im Alter kennenlernende Senioren zusammenziehen und gegebenenfalls einen Pflegebedarf haben. Schon dann müssten sie sich Ihrer Ansicht nach melden, weil sie eine Wohngemeinschaft werden.

(Zuruf der Abg. Dagmar Neukirch, SPD)

Unser Gesetz ist von Vertrauen an die Anbieter, an die Träger geprägt und eben nicht von Misstrauen – so wie es von der SPD und der LINKEN dargestellt wurde –,

(Beifall des Abg. Volker Bandmann, CDU)

bzw. dass man erst einmal alle, die in diesem Bereich tätig sind, davon überzeugen muss, etwas Gutes tun zu wollen.

Nein – selbst mit der heutigen Begründung, Ihren Gesetzentwurf von der Tagesordnung zu nehmen, mit der faden

scheinigen Begründung des Pflegeneuausrichtungsgesetzes auf Bundesebene. Jawohl, ich nenne diese Begründung fadenscheinig; denn es handelt sich auf Bundesebene tatsächlich um die neuen Wohnformen.

(Dagmar Neukirch, SPD: Genau!)

Wir regeln heute ein Heimgesetz; denn der Bund hat uns vor sechs Jahren, 2006, in der Föderalismusreform aufgegeben, das auf Länderebene, in Länderverantwortung zu regeln. Nur vor Ort kann wirklich erst entschieden werden, was die Menschen brauchen, und vor allem auch, was sie wollen.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Überall dort, wo Menschen frei entscheiden bzw. selbstständig festlegen, ob sie einen Pflegedienst bzw. welchen Pflegedienst sie wollen, in welchem Umfang sie Betreuungsleistungen in Anspruch nehmen wollen, hat die Kontrolle einer Heimaufsicht nach unserer Ansicht nichts zu suchen; denn sie sind selbstbestimmt, in der Regel immer noch häuslich, aber häufig schon in den neuen Wohnformen wie den Wohngemeinschaften.

Um daran anzuschließen: Natürlich gibt es auch die Menschen, die einen hohen Pflegebedarf haben, aber allein oder in einer Auftraggebergemeinschaft sehr genau selbst festlegen können, wie sie ihren Pflegebedarf decken wollen. Diese individuelle und selbstbestimmende Entscheidung der Menschen ist ein klarer Indikator dafür, dass es sich um kein Heim handelt und die Heimaufsicht hierbei nicht zu kontrollieren hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit unserem Gesetz nutzen wir erhebliches Entbürokratisierungspotenzial. Das Heimrecht und die Heimstandards haben nach unserer Auffassung nichts in der Kurzzeitpflege oder in Tages- und Nachteinrichtungen zu suchen; denn hier wohnen die Gäste, die zu Pflegenden, nicht. Zudem tragen wir mit einem kurzen Satz zur Entbürokratisierung vor Ort, vor allem bei den Trägern, bei, indem wir die Kontrollen der Heimaufsicht und des medizinischen Dienstes derart bündeln, indem wir festschreiben, dass zukünftig zwischen beiden aufsichtführenden Einrichtungen eine enge Abstimmung zu erfolgen hat. Hierbei kommt es tatsächlich auch zu Vereinfachungen für die Träger und im weiteren Gesetz auch zu Vereinfachungen bei den Anzeigepflichten.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Gesetz bietet einen guten Weg zwischen staatlicher Aufsicht und Freiheit; denn neben den bereits genannten zentralen Zielen, die Einrichtungsträger zu entlasten und die Eigenverantwortung bei den Menschen zu belassen, ist es unsere Pflicht, hilfebedürftige Menschen qualitativ hochwertig zu versorgen.

Wichtig war uns, dass gerade die Patienten, die rund um die Uhr medizinische Betreuung brauchen, medizinische Leistungen erhalten und keine selbstbestimmten Entscheidungen mehr treffen können, durch die Heimaufsicht

beaufsichtigt und kontrolliert werden. Für diese Menschen hat dieses Gesetz ganz klar einen Schutzauftrag. Es wird sichergestellt, dass die Pflegebedürftigen angemessen betreut, gepflegt und medizinisch behandelt werden, dass sie in alle sie selbst betreffenden Unterlagen Einsicht erhalten und dass die Kontrolle der Heimaufsicht in der Regel unangemeldet durchgeführt wird. Die Stärkung der Bewohnerinteressen ist also ein zentraler Punkt in unserem heute vorliegenden Gesetzentwurf.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Auch für das gemeinschaftliche Wohnen von Menschen mit psychischen Erkrankungen oder Behinderungen setzt unser Gesetz einen angemessenen Rahmen. Wenn keine Indikatoren für die Notwendigkeit der Heimaufsicht vorliegen, soll das Gesetz bei diesen betreuten Wohngruppen erst ab mehr als neun Plätzen greifen. So sieht es unser Änderungsantrag, der bereits umfassend vorgestellt wurde, vor. Damit wollen wir es – gerade im Blick auf die Behindertenkonvention der Vereinten Nationen – mehr Menschen ermöglichen, außerhalb des Heimstatus selbstständig und in Eigenverantwortung zusammenzuleben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Unser Gesetz ist ein modernes Gesetz, das den heutigen Bedürfnissen der Bewohner nach Selbstständigkeit entspricht, ein Gesetz, das flexible Antworten auf die Bedürfnisse der Bewohner findet. Wir halten nichts von Überregulierung und vom Gängeln der Menschen, die eigenverantwortlich Entscheidungen treffen, treffen wollen und treffen können.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Das ist auch der grundsätzliche Unterschied unseres Gesetzentwurfes zu den Ansichten, die bereits DIE LINKE und die SPD vorgetragen haben.

Die Anhörung hat gezeigt, dass diese Überregulierung von vielen Sachverständigen in der Anhörung ganz klar so definiert wurde; denn es ermöglicht kein flexibles Eingehen auf die Einzelbedarfe, auf Ausgestaltung flexibler Angebote, und es verursacht hohe Mehrkosten. Dem können wir uns in dieser Form nicht anschließen. Deshalb darf ich Sie an dieser Stelle noch einmal einladen, unseren heute vorliegenden Gesetzentwurf mitzutragen.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der FDP, der CDU und der Staatsministerin Christine Clauß)

Nun spricht die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Frau Abg. Herrmann, Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es ist unstrittig die Aufgabe der Gesellschaft und insbesondere des Gesetzgebers, die Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen die Selbstbestimmung aller Menschen, insbesondere der Menschen mit Pflege- und Unterstützungsbedarf, beachtet und gestärkt werden. Das ist die Aufgabe, die wir mit einem Heimgesetz erfüllen müssen. Wir sind der Men

schenwürde und den Menschenrechten verpflichtet. Das sind große Worte – ich gebe es zu –; zu große Worte offenbar für die Koalition, um sie zur geistigen Grundlage ihres Gesetzes zu machen.

(Zuruf des Abg. Christian Piwarz, CDU)

Wenn man Wünsche von pflegebedürftigen Menschen hört, von Menschen mit Behinderungen oder Demenz, die auf Unterstützung im Alltag angewiesen sind, dann unterscheiden sich diese Wünsche nicht von den Vorstellungen der meisten von uns über ihr Leben im Alter oder bei Pflegebedarf.

Wichtig sind die Beziehungen zu anderen Menschen, zur Familie oder zu Freunden, wichtig ist das Bewusstsein, dazuzugehören, ja, auch das Gefühl, noch gebraucht zu werden, und, was heute in diesem Gesetzgebungsverfahren besonders schwer wiegt: die Möglichkeit zur freien Entscheidung und zur Selbstbestimmung, völlig unabhängig davon, ob die betreffende Person in einer stationären Einrichtung wohnt oder in einer ambulanten Wohnform oder in Häuslichkeit gepflegt wird.

Die Persönlichkeit, liebe Kolleginnen und Kollegen, verschwindet im Alter oder bei Pflegebedürftigkeit nicht. Als Beispiel zitiere ich einen Demenzbetroffenen: "Ich bin immer noch ich. Mit Alzheimer hat für mich zwar ein neues Leben begonnen, aber das alte ist nicht einfach verschwunden."

Ob sich Menschen mit Demenz, Behinderung oder Pflegebedarf als Personen fühlen können, die selbst über sich bestimmen können, hängt wesentlich davon ab, wie andere sie behandeln, und damit auch von den Rahmenbedingungen, unter denen dieses Handeln stattfindet und Begegnung mit anderen Menschen möglich wird.

Wir beraten heute über ein ordnungsrechtliches Gesetz – das hat Herr Piwarz heute Morgen richtig gesagt –, aber mit weitreichenden Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen. Diese Chance und diesen Auftrag nimmt das vorliegende Gesetz der Staatsregierung nicht wahr, und der ganze Gesetzgebungsprozess seit 2006 ist ein einziges Trauerspiel. Die einzelnen Schritte hat Kollegin Neukirch bereits nachvollzogen und ich möchte es an dieser Stelle nicht wiederholen. Aber ich sage, dass es mir wirklich um dieses Gesetz leidtut und das Verfahren ein so schlechtes war. Es ist bei einem Gesetz, das den Schutz der Rechte von Menschen sicherstellen und für Einrichtungen und Träger einen sicheren Rahmen bieten soll, völlig egal, ob die Alten- oder Behindertenhilfe bzw. die Psychiatrie zuständig ist. Das bedeutet, dass wir eine referatsübergreifende Zusammenarbeit im Sozialministerium brauchen, und im ganzen Verfahren hat sich gezeigt, dass es diese Zusammenarbeit nicht im notwendigen Maß gegeben hat.

In der Anhörung zum alten Heimgesetz im Jahr 2009 hatte ich die Sachverständigen gefragt, ob das damals vorliegende Gesetz – solange die Länder kein eigenes Gesetz haben, gilt das Bundesgesetz – Verbesserungen bringen würde – eine einfache Frage, die von allen bis auf einen verneint wurde, der darauf verwies, dass es ein Wert

an sich sei, wenn die Staatsregierung ihre Gesetzgebungskompetenz wahrnehme. Diese Vorstellung, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich anscheinend gehalten, sonst wäre die Koalition heute Morgen bereit gewesen, das Gesetz abzusetzen, nachdem sich gezeigt hat, dass Regelungen, die auf Bundesebene in diesem Jahr noch getroffen werden, unter Umständen mit diesem Gesetz nicht harmonisch zu verbinden sind.

Mittlerweile sind die Länder, deren Gesetze Vorbilder für das sächsische Gesetz waren, dabei, ihre eigenen Gesetze zu novellieren, und auch dies gibt weder der Koalition noch der Staatsregierung zu denken. Was bekommen wir nun in Sachsen? Ein Gesetz, das nur den stationären Bereich regelt. Deshalb wird die zentrale Frage in Zukunft lauten: Handelt es sich bei der Einrichtung um ein Heim, um eine stationäre Einrichtung, oder nicht? Es wird eben nicht die Frage gestellt werden: Können die Betroffenen Selbstbestimmung und Teilhabe in unserem Land für sich in Anspruch nehmen und im Ernstfall auch einklagen, unabhängig davon, ob es sich um ein Heim handelt, um eine stationäre Einrichtung, die unter das Gesetz fällt, oder nicht?

Sie haben nicht den Ansatz gewählt, das Maß an Schutz und an Kontrolle von der Einschränkung der Selbstbestimmung der Betroffenen abzuleiten – ein Ansatz, den die Gesetze in anderen Bundesländern verfolgen und der zum Beispiel mit einer Dreiteilung gelöst wird: auf der einen Seite klassische stationäre Einrichtungen, auf der anderen Seite stationäre Wohnformen und dazwischen ein Bereich, den man unterstützte bzw. trägergesteuerte Wohnform, nicht selbstgesteuerte Wohnform nennt. In dieser Dreiteilung wird natürlich auch das Maß an Kontrolle geregelt. Es ist schade, dass Sie sich kein Beispiel an den anderen Ländern genommen haben.

Auch die UN-Behindertenrechtskonvention, insbesondere der Artikel 19, den ich Ihnen an dieser Stelle nicht zitiere, scheint mir nur Einwickelpapier für ein Gesetz zu sein, das im Nachgang von der Koalition angebracht worden ist. Das kritisieren nicht nur wir, sondern auch die Verbände, und zwar in einer Deutlichkeit, wie ich sie selten erlebt habe. Nun zeichnet sich auch noch ab, dass das BeWoG nicht mit dem Pflegeneuausrichtungsgesetz des Bundes harmoniert, das vor der Sommerpause verabschiedet werden soll.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bedaure, wie der Gesetzgebungsprozess abgelaufen ist. Ein weiteres Mal ist Ihr Handeln von Intransparenz und Ignoranz geprägt – gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber den Betroffenen und ihren Verbänden sowie gegenüber uns, Ihren Kolleg(inn)en aus der Opposition – ein schlechtes Beispiel für einen demokratischen Prozess. Statt auf breite Fachkompetenz haben Sie sich in erster Linie auf das SMS gestützt. Sie hätten die Chance gehabt, im Sozialbereich zu gestalten, und diese Chance haben Sie mit diesem Gesetz vertan.

Danke.

(Beifall bei den GRÜNEN, den LINKEN und der SPD)

Meine Damen und Herren, in der ersten Runde kann ich keine weitere Wortmeldung feststellen. – Es gibt aber noch Redebedarf für eine zweite Runde. Für die CDU-Fraktion Frau Abg. Dietzschold; Sie haben das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kollegen! Herr Pellmann, wir werden diesen Gesetzentwurf nicht zurückziehen, so viel schon einmal vorweg.