Protokoll der Sitzung vom 16.05.2013

Herr Staatsminister, nach meinem Wissen waren Sie an der Expertenanhörung beteiligt. Ist Ihnen dabei aufgefallen, dass eben mehrere Experten – ich nannte vorhin zum Beispiel Herrn Verfassungsrichter a. D. Lipps, Frau Dr. Kilian und weitere Experten – exakt in der Formulierung eine Deutung gesehen haben, die eine Rangfolge mit der Maßgabe, es besteht jetzt eine Gleichrangigkeit zwischen beiden, gesehen und nicht mehr das Primat der Resozialisierung gegeben haben, wie bisher der Status war? Genau deshalb haben ja die Experten darauf hingewiesen, es möglichst klarer zu formulieren. Meinen Sie, dass dennoch eine veränderte Formulierung entbehrlich ist?

Kollege Bartl, die Besorgnis der Sachverständigen, die Sie eben aufgerufen haben, bestand nicht darin, dass sie eine Prioritätenverschiebung angenommen haben, sondern darin, dass sie gemutmaßt haben, durch die

Anführung des Satzes 3 könnte es zu einer entsprechenden Interpretation kommen.

Sie haben also insofern eine Befürchtung darüber geäußert, dass andere es im Sinne einer Veränderung der Ziele verstehen könnten. Sie selbst haben es gar nicht getan, sondern den Sachverständigen war klar, es handelt sich um eine Mittelbeschreibung, nicht um eine Zielveränderung, die in Satz 3 vorgenommen wird.

Meine Damen und Herren, zum Thema Sicherheit sind hier bereits Ausführungen gemacht worden. Dieser Gesetzentwurf geht im Bereich der Sicherheit ins Detail. Er regelt einen sicheren Strafvollzug und insbesondere die Möglichkeit in § 77 Abs. 1 Nr. 1 des Gesetzentwurfes, dass etwa mit Fingerabdrücken auch biometrische Merkmale von Gefangenen genommen werden können, damit man sich innerhalb der Haft und bei der Entlassung nicht mehr nur auf Papiere und fotografische Aufnahmen verlassen muss. Das heißt, mit getürkten Papieren wird aus dem sächsischen Vollzug dann niemand mehr entkommen können.

Meine Damen und Herren, wir werden ein standardisiertes Diagnoseverfahren einführen, das zu Beginn der Inhaftierung eine Analyse der Gründe der Straffälligkeit möglich macht. Auf Grundlage dieser Diagnose werden dann im Rahmen der Vollzugs- und Eingliederungsplanung die Maßnahmen – zum Beispiel Sozialtherapie oder andere therapeutische Maßnahmen – festgelegt. Die Sozialtherapie selbst wird neu ausgerichtet und die Teilnahme hieran richtet sich nicht mehr nur nach formalen Voraussetzungen, sondern materiell-sachgerecht

danach, ob die Teilnahme an einem Behandlungsprogramm zur Verringerung einer erheblichen Gefährlichkeit des Gefangenen angezeigt ist.

Hier muss ich wieder auf Kollegen Bartl eingehen, der es beanstandet hat, wenn die Staatsregierung darauf hinweist, dass bei einer nicht unbegrenzten Verfügbarkeit von Mitteln – insbesondere von therapeutischer Arbeitsleistung – eine Schwerpunktsetzung geschehen muss. Das heißt, wir werden therapeutische Leistungen nicht mit der Gießkanne gleichermaßen über sämtlichen Inhaftierten ausbringen, sondern wir werden – und das ist das Ergebnis eines differenzierten Vollzuges – danach schauen: Wo werden therapeutische Leistungen am meisten benötigt? Wo dienen sie am besten einer Senkung von Gefährlichkeiten und damit dem Schutz der Allgemeinheit?

Wo sind diese Mittel aus unserer Sicht am effektivsten und zweckmäßigsten eingesetzt? – Daran kann ich nichts Schlechtes finden.

Die bisherige allgemeine Arbeitspflicht für Gefangene wird nicht mehr in pauschalierter Form aufrechterhalten, sondern in differenzierter Sichtweise behandelt. Die im Arbeitsbereich vielfach bestehenden Defizite sollen durch schulische und berufliche Qualifizierungsmaßnahmen, Arbeitstraining und Arbeitstherapie angegangen und so berufliche Eingliederungschancen gefördert werden.

Insofern gebe ich Herrn Kollegen Schiemann ausdrücklich recht: Wir wollen in den Anstalten einen strukturierten Tagesablauf haben, zu dem auch die Arbeit und das Erkennen des Wertes von Arbeit gehören, und wir wollen Arbeit nach Möglichkeit für sämtliche Strafgefangenen anbieten.

Herr Staatsminister, Sie gestatten eine weitere Zwischenfrage?

Herr Kind, bitte.

Herr Staatsminister, Sie haben gerade angesprochen, dass Sie bei Arbeit auch an Aus- und Weiterbildung denken. Kann ich davon ausgehen, dass Sie sich in den nächsten Haushaltsverhandlungen dafür einsetzen werden, dass gerade in diesem Bereich die Finanzierung, die über viele Jahre hinweg auf ESF-Mitteln beruhte, in eine Regelfinanzierung übergeht, damit dieser Bereich Sicherheit hinsichtlich der Finanzierung hat? Kann ich davon ausgehen oder ist das noch offen?

Wir werden auch in den kommenden Verhandlungen über die Aufstellung des Haushalts dafür Sorge tragen, dass die in den Justizvollzugsanstalten angebotenen arbeitstherapeutischen und berufsbildenden Maßnahmen fortgeführt und nach Möglichkeit ausgebaut werden. Es ist uns in der Tat ein wichtiges Anliegen, diejenigen Gefangenen, die noch nicht in der Lage sind, mit strukturierter Arbeit ihren Unterhalt zu verdienen, dazu zu befähigen, nach der Entlassung ihren Lebensunterhalt mit redlicher Arbeit zu bestreiten. Das ist wichtig und das bleibt wichtig. Die Art der Finanzierung, ob aus ESFMitteln oder aus anderen Mitteln, ist dabei zweitrangig.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Ein weiterer Punkt, den ich erwähnen möchte, betrifft die Abkehr von der bisherigen allgemeinen Pflicht zum Ansparen von Überbrückungsgeld. Es soll vielmehr zu der bewussten Entscheidung dafür kommen. Die Gefangenen sollen motiviert werden, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen, um über die Zeit der Inhaftierung hinauswirkende Lerneffekte zu erzielen.

Große Bedeutung messen wir auch der Aufrechterhaltung positiver sozialer Bindungen des Gefangenen bei. Wir haben die zulässige Mindestbesuchszeit bei den Gefangenen auf vier Stunden im Monat erhöht. Erstmals wird der „Langzeitbesuch“ gesetzlich geregelt.

Zudem sieht der Freistaat Sachsen als bisher einziges Bundesland nicht nur die Möglichkeit der Unterbringung von weiblichen Gefangenen in Mutter-Kind-Abteilungen vor, sondern auch entsprechende Regelungen für männliche Gefangene mit Kindern, auch wenn wir wissen, dass

es sich dabei eher um seltene Ausnahmefälle handeln wird.

Der inzwischen bewährte Maßstab des Jugendstrafvollzugsgesetzes für die Gewährung von Lockerungen wird übernommen. Lockerungen sollen gewährt werden, wenn verantwortet werden kann, diese auszuprobieren, also davon auszugehen ist, dass die Gefangenen sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe nicht entziehen und Lockerungen nicht zu Straftaten missbrauchen.

Ein deutlicher Schwerpunkt des Entwurfs ist die Ausrichtung auf die Eingliederung der Gefangenen in das Leben in Freiheit, und zwar nicht erst – ich glaube, Frau Friedel hat es erwähnt – in den letzten sechs Monaten vor der Entlassung. Diese Ausrichtung muss von Beginn der Haftzeit an erfolgen. Nur dann haben wir die Chance, nachhaltig, langfristig und damit wirkungsvoll auf Gefangene einzuwirken.

Die erforderlichen Maßnahmen werden im Vollzugs- und Eingliederungsplan festgelegt und nach dessen Maßgabe umgesetzt. Der Eingliederungsplan umfasst verschiedene Stufen bis hin zur Verbüßung im offenen Vollzug.

Lassen Sie mich eines klarstellen, Herr Kollege Bartl: Die Regelung zum offenen Vollzug und dessen Gewichtung in § 15 Abs. 1 des Gesetzentwurfs ist wortidentisch mit der Regelung im Entwurf der Länderarbeitsgruppe. Der Freistaat Sachsen hat insofern keine Verschlechterung vorgenommen.

Meine Damen und Herren! Neben den dargestellten Ausgestaltungsprinzipien des Vollzuges selbst hat der Entwurf auch die Interessen der Opfer im Blick. Deren berechtigte Interessen sind in dieses Strafvollzugsgesetz eingestellt und in besonderer Weise berücksichtigt worden. Wir haben verschiedene Vorschriften eingefügt, die das Niveau des Strafvollzugsgesetzes des Bundes deutlich überschreiten.

Im Rahmen der Anhörung gab es verschiedene Anregungen, die zum Teil fraktionsübergreifend befürwortet wurden. Wir haben sie aufgenommen. Einige kann man mit Fug und Recht als wegweisend bezeichnen.

Die Disziplinarmaßnahme des Arrests als nicht mehr zeitgemäße Isolation in der Haft ist gestrichen worden. Die Sicherungsmaßnahme des vollständigen Entzugs des Aufenthalts im Freien, den das Gesetz früher vorsah, wird es nicht mehr geben.

Das Gesetz ist auch im Hinblick auf die Interessen der Opfer von Straftaten weiter verbessert worden. Infolge der Änderungsanträge wird die Anstalt Telefongespräche, Schriftwechsel und Pakete des Gefangenen an das Opfer untersagen können, um eine neue Traumatisierung des Opfers einer Straftat zu vermeiden.

Die Opfer erhalten zudem weitergehende Auskunftsansprüche in Bezug auf die Vollzugsgestaltung, auf Weisungen, auf die Unterbringung im offenen Vollzug. Die Darlegung eines besonderen Interesses an dieser Auskunft wird prozessual erleichtert.

In der Diskussion über § 22, der die Arbeit betrifft, bestand fraktionsübergreifend Einigkeit, dass das Entfallen einer allgemeinen Arbeitspflicht nicht bedeuten kann und nicht bedeuten soll, dass der Justizvollzug weniger Arbeitsmöglichkeiten anzubieten braucht. Nein, im Gegenteil! Die Staatsregierung wie auch die Mitglieder der Fraktionen im Ausschuss waren sich fast vollständig darüber einig, dass der Arbeit im Vollzug eine wichtige, herausragende Bedeutung zukommt.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Dies gilt für die rein materielle Befähigung, den Lebensunterhalt zu bestreiten, aber darüber hinaus auch für die Strukturierung des Tagesablaufs und das Trainieren bestimmter sozialer Verhaltensweisen. Ziel ist auch die Herausbildung eines bestimmten Selbstverständnisses und eines gewissen Selbstwertgefühls als jemand, der in der Lage ist, auf eigenen Beinen zu stehen.

Der Gesetzentwurf ist nach allgemeinem Konsens so zu verstehen, dass weiterhin allen Gefangenen, sofern sie sich nicht in einer schulischen oder arbeitstherapeutischen Maßnahme befinden, eine angemessene Arbeit angeboten werden soll.

(Beifall bei der FDP und der CDU)

Aus diesem Gesetz folgt somit der langfristige Auftrag des Gesetzgebers an die Staatsregierung, dafür zu sorgen, dass eine ausreichende Anzahl an Arbeitsplätzen und Arbeitsmöglichkeiten in den Anstalten vorhanden ist; das ist gegenwärtig noch nicht der Fall. Dieser Auftrag ist – ich habe es gesagt – langfristig zu erfüllen. Das wird natürlich auch Mittel beanspruchen.

Ich verstehe die Opposition, wenn sie beanstandet, dass dies nicht sofort geschieht oder am besten schon gestern geschehen ist. Ich wiederhole: Wir werden uns dieser Aufgabe stellen, sie langfristig umsetzen und die Arbeitsmöglichkeiten weiter erhöhen.

Herr Staatsminister, Sie gestatten eine weitere Zwischenfrage?

Bitte, Herr Bartl.

Vielen Dank, Herr Staatsminister! Haben Sie vorhin Herrn Schiemann so verstanden, dass die eingefügte Formulierung „nach Möglichkeit ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit zuzuweisen“ nicht bedeutet, dass ihm nach Möglichkeit Arbeit zugewiesen werden soll, sondern dass sich diese Formulierung auf die Fähigkeiten bezieht? Es steht nicht die Soll-Vorschrift infrage, dass Arbeit zugewiesen werden soll, sondern es steht nur infrage, ob sich die Möglichkeit auf die Fähigkeit bezieht. Ich habe Sie so verstanden, dass „nach Möglichkeit“ bedeutet: Wir arbeiten darauf hin, dass das in den Anstalten flächendeckend funktioniert. – Habe ich Sie insoweit falsch verstanden?

Herr Kollege, wir können hier feinsinnige Semantik betreiben – es kommt auf die Grundaussage an. „Nach Möglichkeit den Fähigkeiten entsprechend“ heißt: nach den Möglichkeiten des Gefangenen zum einen und nach der Soll-Vorschrift eines Angebotes zum anderen. „Ihm soll angeboten werden …“ Wissen Sie, aus Sollen wird bei Können Müssen. Das heißt, wenn wir die Arbeitsmöglichkeiten haben, dann muss die Anstalt es den Gefangenen anbieten, und sie ist auch in der Pflicht dafür zu sorgen, dass möglichst viele Arbeitsplätze da sind. Dass das gesetzliche Leitbild nicht immer und an jeder Stelle vollständig erfüllt werden kann, ändert nichts an der Zielbestimmung dieses Auftrages.

(Beifall bei der FDP – Klaus Bartl, DIE LINKE, meldet sich zu einer Zwischenfrage.)

Dazu gibt es eine Nachfrage. Gestatten Sie?

Wir hatten vorige Woche die Expertenanhörung zur Unterrichtung des Rechnungshofes betreffend den Haftplätzebedarf im Freistaat Sachsen. Der Leiter der Justizvollzugsanstalt Zwickau erklärte, dass man derzeit bei einer Arbeitsplatzbereitstellung von circa 50 % liegt.

Herr Staatsminister, halten Sie das nach den jetzigen Gesetzesvorgaben für entsprechend?

Das ist im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten, denn die Anstalt in Zwickau verfügt nun mal nicht über die räumliche Ausstattung. Genau deswegen bauen wir eine neue Justizvollzugsanstalt. Deswegen werden zusätzliche Arbeitsplätze eingerichtet. Aber ich habe gesagt, das ist eine Zielvorgabe, die das Gesetz dort formuliert, und nicht etwa – was auch schon in der Diskussion war – ein Rechtsanspruch der Gefangenen auf Zuweisung von Arbeit. Das ist ein feiner Unterschied. Wir wissen, wo wir hin müssen, und wir wissen auch, wo wir stehen.

(Beifall bei der FDP und vereinzelt bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Schaue ich auf das Gesetzgebungsverfahren zurück, dann bin ich einigermaßen zufrieden. Ein sehr fortschrittlich gedachter und qualitativ hochstehender Entwurf ist in einem ausgesprochen sachorientierten Verfahren behandelt worden, das – wie die Diskussion auch heute zeigt – von gemeinsamen Grundvorstellungen weitgehend getragen wurde. Die im Rahmen der Anhörung und der Ausschussbehandlung angesprochenen Änderungen im Gesetz sind bemerkenswert und zeigen, dass es den Fraktionen hier einmal nicht um ideologische und politische Profilierung, sondern tatsächlich um die Verabschiedung eines möglichst guten und zweckmäßigen Gesetzes gegangen ist, und das in

einem in der öffentlichen Diskussion gemeinhin sehr emotionalisierten Bereich. Dass man trotzdem der Versuchung der ideologischen Diskussion widerstanden hat, meine Damen und Herren, dafür möchte ich mich bei den Mitgliedern des Hauses ausdrücklich bedanken.