Vielen Dank, Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kollege Gerstenberg, wie Sie verbal mit der Freiheit der Andersdenkenden umgehen, macht mir Angst. Da möchte man nicht hoffen, dass Sie wirklich einmal etwas zu sagen bekommen.
Aber kommen wir zum eigentlichen Thema, dem 17. Juni. Für mich ist das einer der wichtigsten Gedenktage in der jüngeren deutschen Geschichte. Das hat einen politischen und einen privaten Grund. Ich fange mit dem politischen an.
Der 17. Juni 1953 war der Beginn des Aufbegehrens gegen die maßlose Ausbeutung der Mitteldeutschen durch die stalinistisch-kommunistische Gewaltherrschaft. Die Hauptlast der Reparationen, die Deutschland zu leisten hatte, lag nämlich auf den Mitteldeutschen, die zu jener Zeit in Armut lebten. Noch viele Jahre hatten sie Lebensmittelmarken, die gerade zur Existenzerhaltung reichten. Die Ergebnisse der Normenanhebungen wären größtenteils wieder dorthin geflossen: in die Reparationsleistungen.
Ein Schwenk zur Gegenwart: Das, was die Mitteldeutschen damals an Opfern für die Reparationen an Russland bringen mussten, rechtfertigt den Solidaritätsbeitrag noch für viele Jahre.
Ein zweiter politischer Grund ist, dass im Laufe dieses Aufstandes klar der Wunsch nach Einheit, nach Freiheit und nach Souveränität Deutschlands laut wurde. Letzteres – die Souveränität – ist aus meiner Sicht bis heute nicht hergestellt. Immer noch werden von den US
amerikanischen Truppen die meisten Kriege in Asien von Deutschland aus koordiniert. Das ist für mich eine Schande.
Ebenso ist es eine Schande, wie die Würdigung dieses Tages in den letzten Jahren durch die Etablierten wahrgenommen wurde. Es waren wirklich nur 20, 30 Personen an der Panzerkette auf dem Postplatz, und das waren alles Leute, die aus Berufsgründen dort waren. Wären wir nicht jeweils mit bis zu 50 Leuten dabei gewesen, wäre es ein ganz klägliches Häufchen Leute gewesen, die den – meist lustlosen – Reden von Frau Oberbürgermeisterin Orosz oder Herrn Bürgermeister Sittel zugehört hätten.
Man hat das Gefühl, dass man das Gedenken mit abnehmender Zahl der Angehörigen der Erlebnisgeneration möglichst einschlafen lassen will. Aber das ist der politische Teil.
Zum persönlichen Teil – das ist das, was mich, seit ich mich für Politik interessiere, prägt –: Ich habe im engen Verwandtenkreis jemanden, der als Kind Betroffener des Juni-Aufstandes war. Es gab ja damals nicht nur etwas um die paar Tage herum, sondern in der damaligen Zeit tobte auch ein Kultur- bzw. Kirchenkampf. Es ging darum, das christlich-abendländische Wertegefüge gegen die kommunistisch-stalinistische Ordnung zu verteidigen. Besagter Verwandter war damals Schüler und flog nur für sein Bekenntnis zur Jungen Gemeinde von der Oberschule. Die Junge Gemeinde zählte für die Kommunisten damals als Terrororganisation, als kriminelle Vereinigung, als Organisation, die Kriegshetze betreibe.
Aber wie reagierte die Kirche? Bischof Hahn schrieb dann an die betroffenen Schüler einen – ich sage es so salopp – „salbungsvollen“ Brief mit den Worten des Bedauerns, dass sie aufgrund ihres Bekenntnisses zur Kirche von der Schule verwiesen worden waren. Er wünschte ihnen, dass sie unter den neuen Bedingungen möglichst wieder ihren Weg finden. Ich denke, das war vonseiten der Kirche viel zu wenig.
Wenn man sich vor Augen hält, dass eben jene Kirche in den folgenden Jahren versuchte, die Kinder der Funktionsträger möglichst gen Westen zu transferieren, damit sie dort unter freiheitlicheren Bedingungen ihr Studium absolvieren konnten, dann ist das eine riesengroße Sauerei denjenigen gegenüber, die damals ihren eigenen Kopf hingehalten haben.
Über die aufrechten Schüler, die damals in der Jungen Gemeinde waren, schrieb die „Sächsische Zeitung“ 1953: „Das heißt nicht zuletzt, auch die Machenschaften dieser illegalen Organisation entlarven zu helfen und ihre Rädelsführer dort hinzubringen, wo unsere Republik den Platz für Staatsfeinde hat.“ Das ist das, was die kommunistische Gewaltherrschaft mit vielen, vielen Toten hinterlassen hat. Der Opportunismus der Kirche damals wie auch heute ist übrigens ein Grund dafür, warum ich mich persönlich als Christ sehe, aber eine Kirchenanbindung scheue.
Meine Damen und Herren! Das war die erste Runde. Gibt es Redebedarf für eine weitere Runde? – Für die CDU-Fraktion Frau Fiedler. Frau Fiedler, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Roman Herzog sagte 1996 bei einer Rede zur Enquete-Kommission der SED-Diktatur zum 17. Juni 1953: „Damit haben die Deutschen aus der DDR ein stolzes Stück Freiheitstradition in unseren gemeinsamen Staat eingebracht, für das wir nun alle sehr dankbar sein können.“ Ich finde, diese Dankbarkeit sollte meine Generation mitnehmen. Darüber hinaus geht es um das Erinnern, was der 17. Juni uns für heute mitgibt. Es geht um den Mut der Menschen, der heute schon sehr eindrucksvoll beschrieben worden ist. Freiheit und Demokratie sind nicht selbstverständlich, aber es gehören auch die Rahmenbedingungen dazu, die zum 17. Juni führten.
Die DDR hatte zuvor eine Zwangskollektivierung durchgeführt. Allein in den ersten Monaten des Jahres 1953 sind 6 500 Bauernhöfe verstaatlicht worden. Es ging darum, die Mittelschicht zu beseitigen. Es gab einen Anstieg der Flüchtlingsbewegung. Bis 1961 haben 2,7 Millionen DDR-Bürger das Land verlassen. Es gab eine Verschärfung der Situation. Die Zahl der Gefangenen nahm zu. 1953 hatte die DDR eine höhere Gefangenenzahl als die gesamte Bundesrepublik, die zur damaligen Zeit schon drei Mal so viel Einwohner wie die DDR hatte. Das gehört zum historischen Kontext. Aber wir müssen auch darüber sprechen, mit welchen Methoden der Machterhalt der DDR stattgefunden hat. Das Misstrauen innerhalb der Bevölkerung wurde erhöht. Es kam zu einer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen. Das Leben teilte sich am Ende in einen privaten und einen öffentlichen Bereich.
Wir haben am Montag nicht nur tausend Postkarten verteilt, sondern auch selbst Veranstaltungen durchgeführt, unter anderem mit einem Zeitzeugen. Dieser hat sehr eindrucksvoll erzählt, dass er heute sehr wohl über den 17. Juni spricht und seinen Enkeln darüber sehr viel erzählen kann. Zu DDR-Zeiten war er seinen Kindern gegenüber eher vorsichtig. Heute haben wir die Chance, den 17. Juni ganz anders in die Öffentlichkeit zu tragen.
Es geht um die Würdigung der Opfer, die couragierten Menschen, die damals auf die Straße gegangen sind, und die vielen Biografien junger Menschen, die damals zerstört worden sind. Es geht um eine Aufarbeitung des 17. Juni. Die Forschung muss fortgesetzt werden. Es gibt teilweise neue Quellen. Die russischen Archive sind noch nicht so lange zugänglich. Es geht aber auch darum, sich klar gegen eine Instrumentalisierung – wie Sie beim Vorgängerbeitrag erlebt haben – zu wenden und jedem Missbrauch entgegenzustehen. Es ist egal, wie viele Leute von Ihnen am Postplatz standen, die Anzahl der Demokraten war immer deutlich höher als die Anzahl Ihrer Anhängerschaft.
(Vereinzelt Beifall bei der CDU und der SPD – Dr. Johannes Müller, NPD: Wir waren ja in der Mehrheit, Frau Fiedler. Das stimmt!)
Wir werden aber auch deutlich machen, was Demokratie heute bedeutet, dass man mitwirken kann, dass man eine Bürgerbeteiligung und Wahlmöglichkeiten hat und dass es Rechtsstaatlichkeit gibt. Für uns ergibt sich heute die Verpflichtung daraus, die Ereignisse angemessen zu würdigen, den Respekt vor der historischen Leistung immer wieder deutlich zu machen, aber diesen auch an die nächste Generation weiterzugeben. Zeitzeugen, die glücklicherweise noch da sind, müssen viel stärker genutzt werden, um das Geschichtsbild zum 17. Juni 1953 in den Schulen noch stärker zu vermitteln.
Warum reden wir heute darüber? Freiheit, Menschenwürde, Demokratie sind ganz aktuelle Themen, die immer wieder verteidigt werden müssen. In diesen Kontext gehören auch die früheren Ereignisse von Ungarn, Prag und Polen. Es geht uns darum, diese Dinge immer wieder zu würdigen und zu verteidigen. Das werden wir auch in Zukunft tun.
Meine Damen und Herren! Mir liegen weiter keine Wortmeldungen vor. Wünscht dennoch ein Abgeordneter das Wort zu ergreifen? – Herr Schiemann, ist das eine Wortmeldung? – Dann bitte, Sie können jetzt sprechen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Debatte, weil ich die Hoffnung habe, dass wir aus dieser Debatte die Kraft schöpfen können, die Erinnerung an die Opfer damit zu verbinden, dass wir die Demokratie täglich zu stärken haben. Der Landtagspräsident hatte dieses Bild von Görlitz dargelegt und gesagt, ohne den 17. Juni 1953 in Deutschland, ohne den Aufstand in Ungarn 1956 und den Aufstand in Polen, ohne 1968 in Prag im August und ohne Solidarnosc wäre die Kraft nicht da gewesen, 1989 die friedliche Revolution zu erleben.
Ich möchte Sie noch auf einen wichtigen Baustein hinweisen. Ohne das Wirken der Kirchen innerhalb der DDR
wäre auch die friedliche Revolution nie möglich gewesen, denn nach 1953 sind besonders die Kirchen, die kirchliche Jugendarbeit so bespitzelt und unter Druck gesetzt worden, wie man das heute kaum noch erklären kann, dass man die Jugendarbeit unterbindet, die eine ganz normale Erziehung bedeutete.
Christen wurden aus Verantwortungspositionen herausgedrängt. Schulleitern wurde nahegelegt, nicht mehr ihre Verbindung zu den Kirchen aufrechtzuerhalten, oder sie wurden relegiert, weil sie sich religiös gebunden haben. Deshalb möchte ich diesen wichtigen Grundstein nennen. Die friedliche Revolution wäre ohne das Wirken der Kirchen niemals möglich gewesen.
Jetzt komme ich zu dem Gedächtnis, was nach 1953 sicher weiter gewirkt hat. Ich bin einer der Nachgeborenen. Ich habe nur davon schöpfen können, was mir mein Vater aus der Zeit mitgeteilt hat. Das ist sehr wenig gewesen, weil es immer damit verbunden war, dass die Eltern Angst gehabt haben, dass die Kinder etwas in der Schule erzählen, und dann hätte man die Schwierigkeiten sicher sehr schnell im Haus gehabt. Aber Familien haben auch dazu beigetragen, dass das Wissen um das Jahr 1953 weitergegeben worden ist. Ich glaube, dass es nicht nur der Wissenschaft überlassen bleiben kann, sondern auch dem mutigen Wirken der Menschen, die in diesem Land zu Hause sind. Das Wissen ist im Schutz der Familien gereift und auch weitergegeben worden. Das sollten wir nutzen, diesen 17. Juni 1953 in eine solche Woche der Demokratie münden lassen, damit wir begreifen, was es bedeutet zu widerstehen und täglich Demokratie neu einzufordern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Damit haben wir diese 30 Jahre Unterbindung der Wissensweitergabe im offiziellen Bereich überwunden. Wenn man sich die Schulbücher, aber auch wissenschaftliche Literatur aus der DDR-Zeit ansieht, weiß man, wie die Menschen damals unter Druck gesetzt wurden.
Ich bin froh, dass wir diese Debatte gehabt haben. Ich freue mich, dass wir diese Debatte nutzen, um Demokratie im täglichen Leben auch für uns zu stärken, und ich verneige mich vor den Opfern, die diesen 17. Juni mit ihrer Demonstration, mit ihrer Teilnahme ermöglicht haben.
Vielen Dank, Herr Schiemann. Gibt es weitere Wortmeldungen aus den Reihen der Fraktionen? – Ich sehe keine. Ich frage die Staatsregierung. – Das Wort wird gewünscht. Herr Staatsminister Dr. Martens. Bitte, Sie haben das Wort.
Herren! Der 17. Juni 1953, dessen wir heute hier gedenken, ist in der Tat – das ist schon gesagt worden – ein Markstein der deutschen Geschichte. Er reiht sich ein in die Ereignisse der leider viel zu oft gescheiterten Freiheitsbewegungen und Revolutionen oder Revolutionsversuche auf deutschem Boden.
Dieser 17. Juni steht für den Versuch, Freiheit zu erringen. Die SED-Machthaber denunzierten die Vorgänge um den 17. Juni herum als einen von Westdeutschland aus gesteuerten faschistischen Putschversuch. Wir wissen heute, dass sich an den Aktionen damals über eine Million Menschen an 700 Orten in der DDR beteiligt haben. Das war ein Aufstand, und es war ein Volksaufstand.
Anlass des Aufstandes waren Arbeitsnormenerhöhungen der Regierung, nicht für die Regierung, meine Damen und Herren, sondern von der Regierung für die Arbeiter. Anders formuliert, es ging um Lohnsenkungen.
Die Ziele der Erhebung waren zunächst nicht ausformuliert oder koordiniert, und zunächst stand nur der Wille der Menschen, sich gegen die Willkürherrschaft der selbsternannten Arbeiter-und-Bauern-Macht zu wehren – eine Arbeiter-und-Bauern-Macht, die die Arbeiter ausbeutete und die Bauern zwangskollektivierte oder vertrieb. Man wandte sich gegen ein totalitäres System, in dem die herrschende Klasse fast nichts zu sagen hatte. Es ging um die Freiheit, meine Damen und Herren, und damit ging es auch um die Demokratie. Die verschiedenen Revolutionen und Bekundungen zeigen dies ganz deutlich.
In einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Stadt Görlitz hat die Staatsregierung am Montag der Ereignisse in Görlitz gedacht. In Görlitz gelang es den Demonstranten am 17. Juni 1953, die Verwaltung und andere wesentliche Einrichtungen zu übernehmen. Aber das gelang, wie wir wissen, nur für zu kurze Zeit. In Görlitz wurde der Aufstand wie in Berlin und in anderen Städten von Sowjetpanzern brutal niedergeschlagen. Die Demonstranten hatten keine Chance – noch keine Chance. Die Anzahl der Opfer, die Anzahl der Toten dieser Vorgänge ist bis heute nicht einmal genau beziffert worden.
Freya Klier hat in ihrem Dokumentarfilm „Wir wollen freie Menschen sein“ das Unrecht am Beispiel Leipzig beschrieben. In Leipzig war das jüngste Opfer dieser Vorfälle zu beklagen: Paul Ochsenbauer, damals 15 Jahre alt. Über diesen Film ist hier im Landtag von heutigen Schülern diskutiert worden. Es ist wichtig, wenn sich gerade heute junge Menschen mit diesem Teil der deutschen Geschichte befassen. Über das Schicksal damals Gleichaltriger werden der Zugang zur Geschichte und ihr Verstehen leichter.
Der 17. Juni ist nicht völlig unproblematisch: in der DDR geleugnet oder diffamiert und im Westen oftmals einfach nur antikommunistisch instrumentalisiert, sodass sein Kerngehalt, dieses Streben nach Freiheit, aus verschiedenen Gründen verdeckt wurde. Aber der 17. Juni, dessen wir heute gedenken, ermahnt uns: Freiheit wie auch Demokratie sind nicht selbstverständlich. Wir werden sie nur erringen, wenn wir sie bewahren und immer wieder neu für sie eintreten.
Sachsen hat das mit der erfolgreichen friedlichen Revolution im Herbst 1989 gezeigt. Auch 1989 mussten die Demonstranten fürchten, in Haft genommen zu werden, oder, schlimmer noch, es drohte ihnen ernsthaft Gefahr für Leib und Leben. Aber anders als 1953 gab es 1989 keine Sowjetpanzer, die die SED vor der Macht der Arbeiter und Bauern schützten. Anders als 1953 griffen Panzer nicht ein. Die Revolution konnte gelingen. Heute haben wir die Früchte dieser Revolution. Die Früchte der Freiheitsbewegungen in Ostdeutschland können wir genießen, und wir sind es den damals auf der Straße befindlichen Demonstranten, erst recht aber den Opfern von 1953 schuldig, dass wir uns ihrer bewusst sind und dass wir die Freiheit eben nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als hart erkämpftes Glück empfinden.