Protokoll der Sitzung vom 09.11.2016

Nun geht es inzwischen darum – das ist einfach unsere Auffassung –, heute von der Regierung die bisher gesammelten Erkenntnisse zu hören. Die Regierung kann meinethalben sagen, dass es verantwortungsbewusst gelaufen ist. Wir wollten es in diesem Fall aus dem Mund des Ministerpräsident hören, weil nun einmal dieses Sachsen-Bashing stattgefunden hat.

(Christian Piwarz, CDU: Heute oder nicht heute? Heute ist nicht morgen!)

Ich sage, es ist ein Unding, wenn wir uns überhaupt in irgendeiner Form dafür rechtfertigen müssen. In der ersten Landtagssitzung, nachdem dieser Fall geschehen ist – es ist das Parlament, das als solches die öffentliche Debatte darüber führt, die die Bürgerinnen und Bürger nachvollziehen können, weil der Satz aus dem Ausschuss schon zu einer Abmahnung führt –, muss doch das Parlament darüber reden. Was wären wir denn ansonsten in unserem Verständnis für Volksvertreter?!

Drittens. Ich komme aus dem Staunen nicht mehr heraus. Wir haben jetzt gewissermaßen, wenn ich es richtig verstehe, vier Menschen, unter Leitung von Herrn Landau, die jetzt in der Zeit – momentan vorgegeben – bis zum Jahresende die komplexen Sachverhalte aufarbeiten sollen. Welche Kompetenzen sie haben, wer ihnen zur Seite steht, wem sie rechenschaftspflichtig sind, wie der Landtag mitgenommen werden soll, wer auf gleicher Augenhöhe informiert worden ist,

(Ministerpräsident Stanislaw Tillich: Hat er gerade gesagt!)

das habe ich jetzt – ja – in Zügen vom Justizminister gehört. Aber das war unser Anliegen. Wenn die Kommission als solche nicht vom Landtag eingesetzt und vorher nicht mit dem Landtag gesprochen worden ist – passen Sie auf, wir wollen so und so herangehen, –

Bitte zum Schluss kommen.

– dann wollten wir heute wissen, was die Kommission macht, wer sie unterstützt, wie sie gesichert ist. Das halten wir für legitim. Nichts anderes wollen wir mit diesem Antrag. Insofern glauben wir, dass er berechtigt ist, und bitten um Zustimmung.

(Beifall bei den LINKEN)

Meine Damen und Herren! Ich stelle nun den Antrag in Drucksache 6/6886 zur Abstimmung. Wer zustimmen möchte, der zeigt das jetzt bitte an. – Wer ist dagegen? – Gibt es Stimmenthaltungen? – Bei Stimmenthaltungen und Stimmen dafür hat der Antrag nicht die erforderliche Mehrheit gefunden. Meine Damen und Herren! Dieser Tagesordnungspunkt ist beendet.

Meine Damen und Herrn! Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 9

Altersfeststellung bei unbegleiteten, minderjährigen Ausländern

Drucksache 6/6904, Antrag der Fraktion AfD

Hierzu können die Fraktionen wie folgt Stellung nehmen: AfD, CDU, DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Staatsregierung, wenn von ihr das Wort gewünscht wird. Meine Damen und Herren! Für die AfDFraktion spricht Herr Abg. Wippel. – Bitte sehr, Herr Wippel, Sie haben das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegen Abgeordnete! Wir wollen über die Altersfeststellung bei unbegleiteten minderjährigen

Ausländern sprechen. Um sich an die Thematik anzunähern, bitte ich Sie einfach einmal, die Perspektive zu wechseln und mit mir vier Fallkonstellationen durchzugehen, wie sie eventuell stattfinden können.

Stellen Sie sich vor, Sie leben als Jugendlicher in einem Subsaharastaat, nicht in einem ganz armen Dorf, in dem Ihre Altersgenossen in der Landwirtschaft arbeiten, sondern in einer Stadt, in der ein wenig die Moderne angekommen ist, aber nicht für Sie und Ihre Geschwister. Die Familie hat etwas Geld, aber auch viele Kinder. Die Kinder müssen früh mit ran an die Arbeit. Geld für die Schule gibt es kaum und die aus unserer Sicht völlig verantwortungslose und egoistische Familie beschließt: Es ist Ihre Aufgabe, als zweitältester Sohn ins Paradies Europa zu gehen, erfolgreich zu sein und die Familie zu Hause zu ernähren oder nachzuholen – zu gegebener Zeit.

(Luise Neuhaus-Wartenberg, DIE LINKE: Nein!)

Ihr ältester Bruder – er ist der Stammhalter –, ihm darf nichts passieren. Das ist Ehrensache. Er bleibt zu Hause.

Was ist wohl, wenn Sie es nicht durch die Wüste schaffen? Sie haben es aber geschafft. Die Schlepper der organisierten Kriminalität haben Sie nach Europa gebracht und man sagte Ihnen, dass Sie als Kind gut untergebracht werden. Sie schlagen sich nach Deutschland durch. Sie sind 15 Jahre alt, einen Pass haben sie nicht. Würden Sie sich einer Untersuchung beim Arzt zur Altersfeststellung verweigern?

Nächster Fall: Die IS-Banden greifen Ihr Dorf an, um Sie zu vertreiben. Sie sind auf der Flucht und schaffen es mithilfe von IS-Schleppern und Frontex nach Europa.

Würden Sie sich als Minderjähriger einer Altersfeststellung verweigern?

Dritter Fall: Sie leben als junger Mann mit 19 Jahren irgendwo in Afrika in einer kleinen Stadt. Sie haben wenig Geld, nehmen einen Kredit auf und vertrauen den Schleppern. Sie zahlen 5 000 Euro sofort. Der Rest der Kosten der Überfahrt kann in Deutschland – in Anführungsstrichen – abgearbeitet werden. Sie haben gehört, dass das recht schnell geht und dass man in Deutschland auch als Jugendlicher gut untergebracht und so gut wie nicht bestraft wird, wenn man zum Beispiel verbotenen, aber vielleicht lukrativen Drogenhandel betreibt.

Hier angekommen erzählen Sie den Behörden Ihre auswendig gelernte Geschichte von den IS-Schergen und von Ihrer dramatischen Flucht. Ihr angebliches Alter ist 16 Jahre. Würden Sie sich einer Altersuntersuchung beim Arzt verweigern?

Der vierte Fall: Sie sind volljährig. Sie sind eine ehrliche Haut. Sie wurden vertrieben. Sie geben in Deutschland zu, dass Sie volljährig sind, und Sie sind dankbar für die gewährte zeitweise Hilfe. Hätten Sie Verständnis dafür, dass andere Männer in demselben Alter Ihr Gastland betrügen und sich auf Kosten ihrer Helfer Vorteile verschaffen?

Meine Damen und Herren! Echte unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben wohl mehr erlebt als die meisten hier im Saal zusammen. Sie sehen an den Beispielen, dass es unstreitig ist, dass UMAs – so kürze ich es einmal ab – der Inobhutnahme durch den Staat bedürfen. Ihre Eltern gibt es entweder nicht oder sie sind dermaßen verantwortungslos, dass eine Vereinigung mit dem Kind oder Jugendlichen nicht angezeigt wäre. Folglich sollen die altersgerechte Versorgung, die Aufarbeitung des Erlebten und gegebenenfalls auch Erlittenen, die sichere Orientierung im Gastland und auch die baldige Befähigung zum Schulbesuch sichergestellt sein. Doch es ist nicht nur die Betreuung im Guten.

Auch für Delinquenten wie im dritten Eingangsfall kennt unser Strafrecht eine Antwort. Minderjährige unterliegen

im Strafrecht anderen Regeln als Erwachsene. Für sie gilt das Jugendstrafrecht, bei dem weniger der Strafgedanke als vielmehr der Erziehungsgedanke im Vordergrund steht.

Ob eine Person minderjährig ist oder nicht, hat also erhebliche Konsequenzen. Deswegen ist die zuverlässige Feststellung, ob eine Person minderjährig ist oder nicht, von überragender Bedeutung.

Bei unbegleiteten jungen Ausländern, die über keine oder nur über fragwürdige Dokumente verfügen, zum Beispiel in Afghanistan – deswegen werden sie auch regelmäßig nicht anerkannt –, ist die Altersfeststellung per Pass nicht möglich. Bei ihnen muss auf andere Weise festgestellt werden, ob sie bereits volljährig sind oder ob sie als Minderjährige in die Obhut des Staates genommen werden müssen.

Leider sind die diesbezüglichen Regelungen des Sozialgesetzbuches VIII unzureichend. Die einschlägige Norm des § 42 f sieht für diese Fälle zunächst lediglich eine sogenannte qualifizierte Inaugenscheinnahme vor. Es ist nur ein Gespräch. Diese Pi-mal-Daumen-Alterseinschätzung wird von mindestens einer sozialpädagogischen Fachkraft und einer in der Sache kundigen Verwaltungskraft durchgeführt. Nur in Zweifelsfällen hat das Jugendamt eine ärztliche Untersuchung zu veranlassen.

Meine Damen und Herren! Dieses Verfahren der Alterserrätselung ist offenkundig ungenügend, sodass aus unserer Sicht immer Zweifel angebracht sind. Es atmet den Geist von Pro Asyl und ist unwissenschaftlich hoch drei.

(Luise Neuhaus-Wartenberg, DIE LINKE: Unwissenschaftlich!)

Es öffnet dem Missbrauch Tür und Tor und befördert die Sorgen, die selbst das UNHCR bei der zu weit gehenden Nutzung des UMA-Schutzes äußert.

Reichen Ausweisdokumente für eine zuverlässige Feststellung der Voll- oder Minderjährigkeit einer Person nicht aus, muss eine ärztliche Untersuchung nach den neuesten medizinischen Standards verpflichtend sein. Die Verfahren sind wissenschaftlich und nachprüfbar. Unser Antrag zielt darauf ab, das zu gewährleisten.

Ich freue mich auf die zweite Rederunde.

(Beifall bei der AfD)

Für die CDUFraktion Herr Abg. Kiesewetter.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen! Die Zahl der Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Viele junge Antragsteller können keine Angaben zu ihrem genauen Lebensalter machen. Da dass Alter aber einen erheblichen Unterschied für die Frage macht, auf welche Leistung ein Anspruch besteht, wird häufig ein medizinisches Gutachten oder eine medizinische Untersuchung zur Altersschätzung gefordert.

Das Alter junger Flüchtlinge und Asylbewerber ist aus asylrechtlicher, aufenthaltsrechtlicher, sozialrechtlicher, schulrechtlicher und vor allem jugendhilferechtlicher Sicht von Bedeutung.

Mit dem Antrag begehrt die einbringende Fraktion unter anderem eine Bundesratsinitiative ausgehend aus Sachsen zur Änderung des Sozialgesetzbuches VIII dahin gehend, dass das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme eines ausländischen Minderjährigen zur Feststellung dessen Alters regelmäßig eine ärztliche Untersuchung veranlassen muss, wenn das Alter durch Einsichtnahme in Ausweispapiere nicht zuverlässig festzustellen ist.

Die Untersuchung sollte dabei nach den neuesten medizinischen Standards erfolgen. Weiterhin wird die Sächsische Staatsregierung aufgefordert, dafür Sorge zu tragen, dass die Jugendämter im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme unverzüglich keine Altersfeststellung ohne ärztliche Untersuchung mehr durchführen und keine Altersfeststellung, welche durch nicht sächsische Behörden ohne ärztliche Untersuchung durchgeführt worden sind, anerkennen, wenn das Alter durch Einsichtnahme in Ausweispapiere nicht zuverlässig festgestellt werden kann. Zu weiteren Einzelheiten verweise ich auf den Antrag.

Gestatten Sie mir, dass ich ganz kurz hier ein paar Punkte aufgreife, auf die ich näher eingehen möchte. Grundsätzlich gehören unbegleitete minderjährige ausländische Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Familien nach Deutschland einreisen, zu einer der schutzbedürftigsten Personengruppen überhaupt. Sie haben nach dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Vereinten Nationen ein Recht darauf, dem Kindeswohl entsprechend untergebracht, versorgt und betreut zu werden. Und hierfür ist nach geltendem Bundesrecht dem Jugendamt eine Primärzuständigkeit zugewiesen. Das Jugendamt ist berechtigt und verpflichtet, ein Kind oder einen Jugendlichen in seine Obhut zu nehmen, wenn ein ausländisches Kind oder Jugendlicher unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- und Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten. So weit die Grundnorm aus § 42 Sozialgesetzbuch VIII.

Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung ausländischer Kinder und Jugendlicher wurden unter anderem die Normen §§ 42 a bis 42 f eingefügt. Diese regeln – darauf ist schon hingewiesen worden – das Verfahren zur vorläufigen Inobhutnahme, zur Verteilung der Aufnahmequote nebst Umverteilung, Übergangsregelung, Berichtspflicht und eben das besagte behördliche Altersfeststellungsverfahren. Parallel dazu wurde in asyl- und ausländerrechtlichen Verfahren das Alter, ab dem Verfahrenshandlungen wirksam vorgenommen werden können, von 16 auf 18 Jahre angehoben, um auch für ausländische Minderjährige, die bereits das 16. Lebensjahr vollendet haben, den Vorrang des Kinder- und Jugendhilferechts zu betonen. Entsprechend der gesetzlichen Regelung zur Altersfestellung in § 42 f hat

das Jugendamt im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme der ausländischen Personen deren Minderjährigkeit durch Einsichtnahme in die Ausweispapiere festzustellen und hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme einzuschätzen und festzustellen.

Das Jugendamt bedient sich dabei der Beweismittel, die es nach pflichtgemäßem Ermessen zur Ermittlung des Sachverhaltes für erforderlich hält. Maßstab im Sozialgesetzbuch VIII – und das gilt auch bei der Altersfeststellung – ist das Kindeswohl. Das heißt, die Festsetzung muss unter Achtung der Menschenwürde und körperlichen Integrität des Einzelnen erfolgen. Die Altersfeststellung hat auf der Grundlage von Standards zu erfolgen, wie sie beispielsweise die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter in ihren Handlungsempfehlungen zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen erarbeitet und beschlossen hat. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme würdigt den Gesamteindruck, der neben dem äußeren Erscheinungsbild insbesondere die Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand umfasst. Daneben kann zu einer qualifizierten Inaugenscheinnahme im Sinne der Vorschrift auch gehören, Auskünfte jeder Art einzuholen, Beteiligte anzuhören, Zeugen und Sachverständige zu vernehmen oder die schriftliche oder elektronische Äußerung von Beteiligten, Sachverständigen und Zeugen einzuholen sowie Dokumente, Urkunden und Akten beizuziehen. Das sind übliche Mittel des Verfahrens.

In Zweifelsfällen sind die betroffenen Personen oder ihre Vertreter berechtigt, einen Antrag auf Bestimmung des Alters der Person zu stellen. In Fällen, in denen Zweifel an der Minderjährigkeit der ausländischen Person nicht auf andere Weise beseitigt werden, kann das Jugendamt von Amts wegen eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung veranlassen. Hier sind grundrechtliche und ethische Aspekte von besonderer Bedeutung. Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die aktuelle Stellungnahme der Ethik-Kommission der Bundesärztekammer vom 30.09.2016, die sich genau diesen Fragestellungen recht intensiv und detailliert widmet.

Der Bundesfachverband der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hat notwendige Verfahrensgarantien und Maßnahmen für die Alterseinschätzung bei unbegleiteten Minderjährigen herausgearbeitet. Ausgehend von sozialpädagogischen und rechtlichen Anforderungen an den Umgang mit Minderjährigen werden notwendige Maßnahmen des Kinderschutzes im Rahmen der Alterseinschätzung dargelegt und mit Hilfe von Prüflisten handhabbar gemacht. Die Einschätzung des Verbandes hinsichtlich der Verfahren ist jedoch skeptisch: „Die Alterseinschätzung ist eine der schwierigsten und folgenreichsten Entscheidungen im Ankommensprozess von jungen Flüchtlingen. Da es bisher keine wissenschaftliche Methode gibt, das aktuelle Lebensalter eines Menschen verlässlich festzustellen, kann es sich bei der Alterseinschätzung nur um einen Näherungswert handeln. Gerade während der Pubertät ist die Schätzung des Alters nahezu unmöglich.“

Nach einem Bericht des Ärzteblattes handelt es sich bei Fragen im Zusammenhang mit der Altersfeststellung „um einen verbreiteten Irrglauben von Nichtmedizinern, Ärzte können das Alter exakt definieren.“ Möglich sei nur eine grobe Schätzung des chronologischen Alters. Das Handröntgen sei per se ungeeignet, die Volljährigkeit sicher nachzuweisen. Auch die Knochen- und Zahnentwicklung weise bei gesunden Jugendlichen eine Schwankungsbreite von fünf Jahren und mehr auf. Im Zweifelsfall müsse daher zugunsten des Flüchtlings vom geringstmöglichen Alter ausgegangen werden.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in einer Stellungnahme, die sich insbesondere den Fragen der Anwendung radiologischer Verfahren widmet.