Diese mangelnde Kompetenz ist nicht nur meiner persönlichen Trägheit geschuldet, sie ist auch Ausdruck der damaligen realen Situation. Während meiner Grundschulzeit war die tschechische Grenze noch mit Stacheldraht gesichert. Später, als man als Besucher nach Tschechien und Polen reisen konnte, fand sich stets ein Einheimischer, der einem mit rudimentärem Deutsch weiterhelfen konnte.
Spätestens seit 2004, mit dem Einzug der östlichen Nachbarn in unser gemeinsames europäisches Haus, hat sich das grundlegend verändert. Doppelte Sprachkompetenz ist nachgefragt wie nie, in Wirtschaft, Service, Handel, Tourismus, aber auch im Verein. Die Fähigkeit, die Sprache des Nachbarn zu sprechen, verbessert die individuellen Berufs- und Lebensperspektiven. Das gilt für beide Seiten.
Weil das die Tschechen und die Polen etwas eher begriffen haben als wir, trifft man inzwischen in vielen Branchen mit Kundenbezug deutschsprachige Mitarbeiter aus unseren Nachbarländern an. Das ist nicht zu beanstanden. Das ist der Markt. Das ist auch Ergebnis unserer europäischen Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Die europäische Sprachenpolitik setzt auch für uns auf die Formel M+2. Englisch ist als Nummer 1 gesetzt. Die Nummer 2 kann insbesondere in den Grenzregionen die Sprache der Nachbarn sein.
Mit ihrem Antrag zielt die Koalition darauf, die in Kitas und Schulen bereits bei Nachbarschaftssprachprojekten gemachten Erfahrungen auch für bisher nicht beteiligte Einrichtungen zugänglich zu machen sowie der Vermittlung der Nachbarsprache eine stärkere politische Priorität zu verleihen.
Die Grenzregionen sind in Bezug auf das Erlernen der Nachbarsprachen ein besonderes Biotop. Die Kinder müssen nicht abstrakt über Büchern brüten, sondern können, wenn es gescheit gemacht wird, an ihrem Wohnort spielerisch die Sprache der sprichwörtlich nächsten Nachbarn erwerben und erproben.
In meiner Heimatstadt Neusalza-Spremberg feiern wir übermorgen das Richtfest für unsere neue Kita mit 170 Plätzen. Ich würde mir wünschen, dass mit dem Einzug in das neue Haus auch inhaltlich ein Qualitätszuwachs stattfindet. Einen Nachmittag pro Woche sollen in unserem Falle – wir liegen an der tschechischen Grenze – tschechische Fachkräfte die Kinder nach dem neuesten pädagogischen Konzept spielerisch an die Nachbarsprache heranführen.
Das wird aber – bevor Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, nervös werden – so lange ein Wunsch bleiben, solange der Freistaat nicht bei potenziellen Fachkräften in Tschechien und Polen für diese neue Aufgabe wirbt, ihnen eine Anpassungsqualifizierung an das sächsische Anforderungsprofil anbietet, für ihre Anstellung Poolstellen bei der regionalen Bildungsagentur einrichtet, den Kitas die Sachkosten für die zusätzlichen Aufwendungen zuweist und den Kitas zweckgebunden einen angepassten Personalschlüssel gestattet.
Geht nicht? Geht doch! Bei der Vermittlung der sorbischen Sprache nach dem Vitaj-Konzept wird das bereits seit mehreren Jahren sehr erfolgreich praktiziert.
Wir helfen den Grenzregionen zweifelsfrei, indem wir ihnen leicht bessere Konditionen bei der Wirtschaftsförderung anbieten. Wir können den Regionen aber noch besser helfen, wenn wir die dort vorhandenen Stärken als Lernort für die Nachbarsprache nachhaltig stärken,
und zwar nicht wie bisher auf einer temporär angelegten Projektbasis, sondern strukturell und finanziell abgesichert.
Das gilt natürlich nicht nur für meine Heimatstadt, sondern für alle Kitas entlang der sächsischen Landesgrenze zu Tschechien und Polen.
Das ist auch ein nicht zu unterschätzender Baustein für die Stärkung der europäischen regionalen Kohäsion.
Der Bericht der Sächsischen Landesstelle für frühe nachbarschaftliche Bildung, die unter der Leitung von Frau Dr. Gellrich eine hervorragende Arbeit leistet, wurde vor wenigen Tagen vorgelegt. Er liefert für die Sprachvermittlung in Kitas wertvolle Handlungsempfehlungen.
Über einige der erforderlichen Rahmenbedingungen sprach ich bereits. Darüber hinaus sind grenzüberschreitende Kita-Partnerschaften rechtssicher – Versicherung und andere Dinge – zu regeln. Die Ausbildung von Erzieherinnen, die Fortbildung pädagogischer Fachkräfte sowie geeignete Beratungsangebote sind als Bestandteile der Qualifizierungsoffensive unverzichtbar. Die Durchgängigkeit des Nachbarsprachenlernens von der Kita über die Grundschule bis hin zu weiterführenden Schulen muss strukturell verlässlich geregelt werden. Wir brauchen ein Konzept des längerfristigen Monitorings und eine intensivere Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit.
Daneben sollten wir von den Erfahrungen anderer Europaregionen beim Erwerb von nachbarschaftlicher Kompetenz lernen. Vor wenigen Monaten hat unser Sächsisches Verbindungsbüro in Brüssel einen Workshop organisiert, bei dem Experten aus dem Saarland über die Frankreichstrategie zum verpflichtenden Erwerb der Nachbarsprache Französisch berichteten. Etliche formalrechtliche Hindernisse, die bei uns noch im Wege stehen oder im Wege zu stehen scheinen, etwa bei der Anerkennung ausländischer Qualifikationen, wurden dort bereits erfolgreich überwunden.
Auf der Nachfolgekonferenz im Ausschuss der Regionen am 7. Juni 2017 in Brüssel werden wir den Erfahrungsaustausch im europäischen Kontext fortführen. Die Situation ist günstiger denn je, weil viele Eltern verstanden haben, dass Kenntnisse in den Sprachen der Nachbarländer nicht nur praktisch, sondern für ihre Kinder auch langfristig karrierefördernd sind. Diesen Umstand sollten wir nutzen und dafür sorgen, dass der Samen bereits in sehr jungem Alter gelegt wird. Nicht jedes Samenkorn wird aufgehen, aber es ist den Versuch allemal wert. Wir werden die Staatsregierung bei ihren konsequenten Schritten hin zu einer konsequenten Strategie zur nachbarschaftlichen Ertüchtigung in den Grenzregionen nach Kräften unterstützen und auch fordern.
Ich würde mir wünschen, dass ich eines Tages mit meinen Enkeltöchtern nach Prag oder Breslau reisen und mich dabei entspannt auf ihre frisch erworbene Nachbarsprachenkompetenz verlassen kann.
Vielen Dank, Herr Lehmann. Für die SPD-Fraktion spricht Herr Abg. Baumann-Hasske. Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Begegnungen und nachbarschaftlichen Beziehungen zu unseren Freunden und Nachbarn sind vielfältig. Damit sind nicht nur die sächsischen Verbindungsbüros in Prag und Breslau gemeint, sondern es gibt die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Feuerwehren, der Polizei und die Zusammenarbeit im Austausch beim Freiwilligen Jahr, wie sie der Paritätische Wohlfahrtsverband vermittelt.
Wir fördern seit dieser Legislaturperiode institutionell das trinationale Neiße-Filmfestival, dessen Eröffnung in der vergangenen Woche gut besucht war. Mit diesem aktuellen Haushalt kam das Europäische Zentrum für Bildung und Kultur in Zgorzelec, Meetingpoint Music Messiaen, hinzu. Das ist das herausragende Projekt einer langjährigen deutsch-polnischen Zusammenarbeit im Bereich der Erinnerungskultur. Wir haben die Mittel für grenzüberschreitende Zusammenarbeit aufgestockt. Meine Damen und Herren, zwar ist solcherart Begegnung möglich und wichtig, aber die Sprache des anderen zu beherrschen erleichtert über Begegnungen hinaus den Austausch.
Wir fördern die bilinguale Erziehung in Sachsen seit vielen Jahren. Trotzdem lernen in Polen zwei Millionen Menschen Deutsch, und viele Tschechen beherrschen unsere Sprache fließend. Nun ist es schwer, Sachsen mit ganz Polen oder Tschechien vergleichen zu wollen, weil dazu die Bevölkerungszahlen zu verschieden sind. Aber wir dürfen wohl festhalten, dass das Interesse an der deutschen Sprache bei unseren Nachbarn größer ist als umgekehrt. Dabei ist das Lernen einer Nachbarsprache besonders sinnvoll. Wenn ein Kind bereits die Sprache der Nachbarn und Freunde lernt, die sich von der seiner Eltern unterscheidet, gewinnt es Verständnis für die Kultur dieser Nachbarn, weil es merkt, dass sie so ähnlich sind wie man selbst auch – oder eben anders, aber nachvollziehbar und verständlich anders. Das ist dort, wo es diese Nachbarn unmittelbar gibt, besonders sinnvoll und notwendig, da die erlernte Sprache zugleich eine Kultur erschließt und diese nicht theoretisch und im Unterricht bleibt, sondern praktisch mit Leben erfüllt wird. Herr Lehmann hat das eben schon sehr schön angedeutet.
Hier sind wir bei einem Beitrag zu dem, was wir mit „interkulturelle und soziale Kompetenz“ umschreiben
würden. In Sachsen gibt es seit den 1990er-Jahren viele Angebote zum Erlernen der Sprache, vor allem in den Kitas. Gefördert werden sie unter anderem über INTERREG-Kooperationsprogramme oder den DeutschTschechischen Zukunftsfonds. Um viele dieser Fragestellungen zu bearbeiten, wurde die Landesstelle für frühe nachbarsprachliche Bildung gegründet und vom Freistaat gefördert. Mit dem Doppelhaushalt 2017/2018 stehen 200 000 bzw. 215 000 Euro dafür bereit. Angegliedert ist ein Expertenbeirat, der sich als Beratungsgremium des Schulministeriums versteht.
Nach dem Berufsbefähigungsanerkennungsgesetz, Lehrer- und Lehramtsprüfungsordnung II, ist es zwar grundsätzlich möglich, dass mehr Muttersprachler als Lehrer für Schule und Kita zu gewinnen sind, aber wir müssen passfähige und praktikable Anschlüsse schaffen und organisieren und gegebenenfalls auch Einzelfallentscheidungen ermöglichen. Das gilt für die Schule gleichermaßen wie für die Kita. Hinsichtlich der methodischdidaktischen Fragen können wir auf die guten Erfahrungen mit dem Vitaj-Projekt bei den Sorben zurückgreifen. Auch das hat Herr Lehmann eben schon angedeutet.
Auf der anderen Seite müssen aber auch für inländische Lehrer und Kita-Erzieher die Fort- und Weiterbildungsangebote angepasst werden. Wir müssen beim Sprachenlernen Kontinuität in den Bildungsprozess bringen – von der Kita bis zur Oberschule und zum Gymnasium. Das ist unter anderem mit dem Punkt „Kontinuierliche Rahmenbedingungen“ gemeint.
Es ist sehr schade, wenn es in einem Ort zwar eine Kita gibt, in der die Kinder Polnisch oder Tschechisch lernen können, die Sprache dann aber nicht in der Grundschule angeboten wird, die die Kinder besuchen. Sie besitzen dann zwar eine gewisse Grundbildung, der kontinuierliche Lernprozess reißt jedoch ab.
Wir haben in unserer Koalitionsarbeit einen Schwerpunkt auf die kulturelle Bildung gelegt. Dazu wird ein landesweites Konzept unter der Federführung des SMWK erarbeitet. Darüber haben wir an dieser Stelle in diesem Hause bereits debattiert. Kultur ist per se interkulturell. Kunst und Kultur leben vom Austausch. Ich gehe davon aus, dass sich das Kultus- und das Sozialministerium intensiv und kooperativ in diesen Prozess einbringen.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Erst vorgestern sprach der neue französische Präsident Emmanuel Macron bei seinem Berlin-Besuch von der „Wiedereinführung zweisprachiger Schulklassen“. Begründung: „nicht, weil Europa es verlangt, sondern weil Frankreich es braucht“. Nun ja, sei es drum! Es scheint sich also auch im Westen
unseres Kontinents die Erkenntnis Bahn zu brechen, dass die Sprachbarriere nach wie vor eines der größten Probleme bei der Zusammenarbeit und beim Zusammenleben in Europa ist. Ganz besonders gilt dies für Sachsen, das an einer der schärfsten Sprachgrenzen der EU liegt.
Bei allen Aktivitäten der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, zum Beispiel von Polizei, Rettungsdiensten, Feuerwehren, oder bei der Kooperation der Gemeinden und Städte in den Grenzregionen wird die Sprachbarriere durch die Akteure immer wieder als eines der größten Hindernisse genannt, wobei das Problem erkennbar auf der sächsischen Seite liegt.
Es geht aber um mehr als nur um ein Kommunikationsproblem. Der Spracherwerb des Nachbarn jenseits der Grenze hilft nicht nur, ihn im Wortsinne zu verstehen, sondern trägt auch dazu bei, Vorurteile, die nach wie vor in unserer Bevölkerung präsent sind, schon von Kindesbeinen an zu verhindern oder abzubauen. Den Menschen in Sachsen durch Mehrsprachigkeit den Wechsel der Perspektive zum Beispiel unserer polnischen und tschechischen Nachbarn zu ermöglichen ist angesichts von vermeintlicher „Leitkultur“, Rechtspopulismus und
Darüber hinaus wird nur so eine wesentliche Grundlage geschaffen, Artikel 12 unserer Verfassung, das heißt, den Verfassungsauftrag zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zum Aufbau nachbarschaftlicher Beziehungen für das Zusammenwachsen Europas und die friedliche Entwicklung in der Welt, wirklich mit Leben zu erfüllen. Es erstaunt mich, dass dieses Argument des Verfassungsrechts durch mich als Oppositionspolitiker vorgetragen werden muss und nicht durch die einreichenden Fraktionen der Koalition selbst.