Darüber hinaus wird nur so eine wesentliche Grundlage geschaffen, Artikel 12 unserer Verfassung, das heißt, den Verfassungsauftrag zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und zum Aufbau nachbarschaftlicher Beziehungen für das Zusammenwachsen Europas und die friedliche Entwicklung in der Welt, wirklich mit Leben zu erfüllen. Es erstaunt mich, dass dieses Argument des Verfassungsrechts durch mich als Oppositionspolitiker vorgetragen werden muss und nicht durch die einreichenden Fraktionen der Koalition selbst.
Aber sei es drum! Gerade vor dieser politischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung der grenzüberschreitenden nachbarsprachlichen Bildung ist es beschämend, dass sich nach dem mehr als 13 Jahre zurückliegenden EU-Beitritt von Polen und Tschechien der Spracherwerb von Polnisch und Tschechisch auf sächsischer Seite nach wie vor auf einem sehr niedrigen Niveau bewegt. Nach den mir zugänglichen Statistiken lernen in Polen circa 2,2 Millionen junge Leute die deutsche Sprache.
In unserer Nachbarwoiwodschaft Dolny Śląsk – mit unserem Freistaat nach Größe und Bevölkerungszahl in der Tendenz vergleichbar – sind es etwa 300 000 Menschen, während in der gesamten Bundesrepublik nur 40 000 Menschen Polnisch lernen. In Sachsen sind es 2 222 Schülerinnen und Schüler.
Das stellt zwar – bezogen auf die Daten von 2006 – eine Verdopplung dar, entspricht andererseits aber nur 0,46 % aller sächsischen Schülerinnen und Schüler. Die Teilnehmerzahl am Tschechischunterricht ist nur unwesentlich größer. Aber zum Vergleich: In Tschechien nehmen nach Angaben des Goethe-Instituts beachtliche 30 % der
Schülerinnen und Schüler am Deutschunterricht teil. In Sachsen sind es 0,46 %, in Tschechien sind es 30 %. Das sind die Relationen, mit denen wir es zu tun haben.
Mir fällt vor dem Hintergrund dieser Zahlen kein vernünftiger Grund ein, warum sich der Freistaat erst zehn Jahre nach dem tschechischen und dem polnischen EU-Beitritt dazu entschlossen hat, die sächsische Landesstelle für frühe nachbarsprachige Bildung zu fördern.
Geradezu zornig macht mich die Mitteilung der Staatsregierung, dass ebenfalls erst im Jahre 2014 mit einer – ich zitiere – „erstmaligen systemischen Bestandsaufnahme zur frühen nachbarsprachigen Bildung“ begonnen wurde. Welche Grundlage hatten denn die Äußerungen der Staatsregierung – nicht zuletzt in diesem Hohen Haus – vor dem Jahr 2014 zu diesem Thema? War das alles nur – mit Verlaub – substanzloses Geschwätz, was uns damals vom Kultusministerium dargebracht wurde? Auf welcher Grundlage erfolgte seinerzeit die wiederholte Ablehnung des im Rahmen der Haushaltsdebatten seit 2002 durch DIE LINKE wiederholt gestellten Antrags zur Initiative „Lerne die Sprache des Nachbarn“?
Die wiederholte Ablehnung dieses Antrages durch die CDU hat leider dazu geführt, dass die Situation in Sachsen so ist, wie sie sich jetzt darstellt. Es ist bedauerlich, dass dadurch wertvolle Zeit verloren gegangen ist und viel Potenzial verschenkt wurde.
Ohne Zweifel hat es in jüngster Zeit eine leichte Verbesserung in der grenzüberschreitenden nachbarsprachigen Bildung gegeben. Dies ist vor allem dem Engagement der Lehrerinnen und Lehrer, der Eltern und der KitaErzieherinnen vor Ort zu verdanken. Die veröffentlichten Zahlen der Sächsischen Landesstelle für frühe nachbarsprachige Bildung lesen sich zwar vor dem Hintergrund der katastrophalen Ausgangslage von Anfang der 2000erJahre nicht schlecht, aber selbst bei ausschließlicher Betrachtung aller Kitas und Grundschulen in grenznahen Raum kann der erreichte Stand noch nicht als ausreichend bezeichnet werden.
Das Ziel sollte es sein, diese Sprachangebote eher zur Regel werden zu lassen, als dass es die Ausnahme ist, und das nicht nur im grenznahen Raum, sondern in ganz Sachsen.
Es besteht also in jedem Fall dringender Handlungsbedarf. Auch in den Oberschulen und Gymnasien müssen Angebote für Polnisch und Tschechisch geschaffen werden. Zu den zwei bilingualen Schulen in Görlitz und in Pirna sollten weitere hinzukommen, um den in Kita und Grundschule begonnenen Spracherwerb weiter fortzusetzen und intensivieren zu können.
Wir begrüßen es, gezielt tschechische und polnische muttersprachliche Fachkräfte in unseren Kitas anzustellen und dafür zu werben. Dies sollte aber nicht auf ein stupides Abwerben hinauslaufen, weil auch in Polen und in Tschechien die dortigen Erzieherinnen und Erzieher sowie Lehrerinnen und Lehrer dringend gebraucht werden. Um
das angestrebte gute Verhältnis zu unseren polnischen und tschechischen Nachbarn nicht zu belasten, sollte hier stärker der Lehrer- und Erzieheraustausch gepflegt werden.
Insofern hoffe ich, dass durch diesen Antrag ein verstärkter Anschub für die Etablierung eines möglichst flächendeckendes Angebots zum Nachbarsprachenerwerb erfolgt, und fordere das Kultusministerium auf, mit mehr Nachdruck daran zu arbeiten und zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen.
Diese Hoffnung – die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt – ist in Verbindung mit der geschilderten politischen und verfassungsrechtlichen Bedeutung der nachbarsprachigen Bildung der Grund für die Zustimmung der LINKEN zu diesem Antrag.
Auf Herrn Kosel, der für die Linksfraktion sprach, folgt jetzt Frau Wilke. Sie spricht für die Fraktion der AfD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der vorliegende Antrag der Koalitionsparteien ist schwer zu bewerten. Er enthält weder neue Impulse noch grundlegende Verbesserungen. Bestenfalls schafft er mehr Stellen, mehr Gremien und bürokratischen grenzübergreifenden Schriftwechsel.
Wahrscheinlich geht es den Antragstellern nur darum, der Landesregierung eine Chance zur Selbstdarstellung zu verschaffen. Geradezu peinlich ist aber die Inanspruchnahme des nachbarschaftlichen Spracherwerbs für den Abbau von Fremdenfeindlichkeit. Oder ist diese Entgleisung nur ein Versuch, den 100-Millionen-Propaganda-Etat des Projekts „Demokratie leben“ des Bundesfamilienministeriums anzuzapfen?
Auf dieses Niveau sollte sich Sachsen nicht begeben. Gute Nachbarschaft ist uns wichtig – von Natur aus. Besser wäre es, wenn wir alles tun würden, um die private nachbarschaftliche Kooperation zu stärken. Spracherwerb im alltäglichen Zusammenleben ist immer noch der beste Lehrer. Demokratie lebt von Gelegenheiten, sie zu leben. Das gilt für die Kinder genauso wie für ihre Bezugspersonen. Dazu braucht es keine Lehramtsprüfung und keine Anpassungslehrgänge, sondern gelebte Nachbarschaft. Weniger Staat mit all seinen Rahmenrichtlinien ist immer das bessere pädagogische Konzept.
Worüber man aber ernsthaft nachdenken sollte, sind attraktive grenzüberschreitende Sport- und Spielplätze, mehrsprachige Landvolkshochschulen mit einem breiten Angebot von sozialen Aktivitäten für Lesungen, Chöre, Tanzgruppen und selbst Bauernhochzeiten oder, Herr Lehmann, auch Richtfeste. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und das ist wörtlich gemeint.
Mehrsprachigkeit muss gelebt werden, nicht nur in Kitas und Schulen. Noch einmal: Der Antrag läuft durch die offenen Türen einer bürokratischen Welt der Banalitäten. Wir werden uns daher enthalten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Selbstverständlich ist es auch unsere Auffassung, dass Mehrsprachigkeit immer stärker an Bedeutung gewinnt. Mehrsprachigkeit unterstützt und fördert Frieden und Toleranz in Europa. Davon, Kollegin Wilke, kann es nicht genug geben. Initiativen in dieser Art sind wichtig. Ihre Lesart – das muss ich ehrlich sagen – hat mich jetzt ein bisschen ratlos zurückgelassen. Ich habe nicht ganz verstanden, was Sie gesagt haben, aber vielleicht haben Sie es verstanden; das ist ja auch viel wichtiger.
Die sächsischen Grenzregionen zu den europäischen Nachbarländern Polen und Tschechien sind besondere Lernorte. Hier erleben Kinder von klein auf die Nachbarsprachen Polnisch bzw. Tschechisch im Alltag. Sie können sich hier die Sprache und Kultur ihrer Nachbarn in der unmittelbaren Begegnung und in der Interaktion mit Muttersprachlern erschließen. Kulturelle Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede können durch Mehrsprachigkeit verstärkt wahrgenommen werden. Kommunikationskompetenz und interkulturelle Kompetenz wachsen – immerhin zwei Schlüsselqualifikationen in einer globalisierten Welt.
Bereits im Jahr 2002 haben die EU-Regierungschefs im Barcelona vereinbart, dass jeder EU-Bürger in seiner Muttersprache plus in mindestens zwei Fremdsprachen auf hohem Niveau kommunizieren
Blick nach Deutschland und Sachsen zeigt jedoch, dass die meisten Schulabgänger in Deutschland heute noch weit davon entfernt sind. Das Problem Lehrermangel – der eine oder andere möchte das vielleicht an dieser Stelle nicht unbedingt diskutieren – macht das auch nicht besser. Wir können hier natürlich über Mehrsprachigkeit reden, was die Nachbarländer Polen und Tschechien anbelangt, aber zur Wahrheit gehört auch, dass die Absicherung des Fremdsprachenunterrichts in Sachsen insgesamt sehr schwierig ist.
Für uns GRÜNE – unabhängig vom Thema Lehrermangel – ist grenzüberschreitende nachbarsprachige Bildung selbstverständlich. Ich habe mich zum Beispiel in Zgorzelec an einer polnisch-deutschen Schule darüber informiert und dort den ganzen Tag zugebracht. Das war im Rahmen des Euro-Primus-Projektes der DPFA, die auch in Sachsen viele Standorte hat. Es war eine internationale Schule. Da geht einem das Herz auf, wenn man erlebt, wie Kinder in der eigenen Sprache kommunizieren.
Wir GRÜNE stehen dem Antrag positiv gegenüber. Es gibt keinen Grund, diesen Antrag abzulehnen. Einen Punkt muss ich aber doch kritisch bemerken: Wir haben vom Kollegen Lehmann eine sehr euphorische Rede
gehört, begleitet von euphorischem Klatschen aus seiner Fraktion. Aber ich wundere mich natürlich trotzdem. Wir sind die Legislative. Wenn man sich die Stellungnahme der Staatsregierung anschaut, dann müsste man eigentlich sagen, dieser Antrag hat sich erledigt; denn die Staatsregierung berichtet zu I – wie Sie das gefordert haben; das macht sie bereits in der Stellungnahme – und zu II sagt sie, was sie macht, was sie plant. – Übrigens, Kollege Kosel, trotz aller berechtigter Kritik an dem, was vor 2014 lief, muss man tatsächlich auch anerkennen, dass sich ab 2014 doch ein positives Handeln abzeichnet. Ich muss auch neidlos anerkennen, dass sich viel Positives tut.
Ja, jetzt klatschen Sie, aber ich frage mich, warum Sie zum Beispiel Ihre Forderungen nach strukturellen Sicherungen, die über die Sächsische Landesstelle für nachbarschaftliche Bildung hinausgehen, nicht in ein Gesetz packen? Wenn Sie das alles wollen, was Sie hier genannt haben – „Pool-Stellen“ für Erzieherinnen usw. –, dann müssen Sie an das Kita-Gesetz. Da gehört das hin und nicht in so einen Goodwill-Antrag: Wir ersuchen mal die Landesregierung, dass sie doch mal bitte möchte... Was die Landesregierung leisten kann, hat sie hier hineingepackt. Wenn Sie mehr möchten, dann – das gehört natürlich auch zum Verständnis der parlamentarischen Demokratie und des Parlaments – packen Sie das Gesetz an und formulieren Sie das in das Gesetz. Dafür werden Sie gleichfalls unsere Zustimmung haben.
Mit Frau Kollegin Zais, die für die GRÜNEN sprach, sind wir am Ende der ersten Runde angekommen. Wenn ich Herrn Kollegen Bienst jetzt so sehe, vermute ich, dass die CDU-Fraktion eine zweite Rederunde eröffnen will? – Wunderbar. Das Rednerpult gehört Ihnen, Herr Kollege.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Man könnte meinen, die Landesregierung des Freistaates Sachsen sei bezüglich des heutigen Themas auf einem guten Weg. Es gibt unzählige Beispiele für gelebte grenzüberschreitende nachbarsprachliche Bildung und Erziehung.
Frau Wilke, ich kann viele, viele, unzählige Beispiele bringen, wo sich Vereine annähern, wo Feuerwehren einen regen Austausch haben, wo sich Kitas auf den Weg machen, dort grenzüberschreitende Projekte zu initiieren, wo sich Schulen miteinander begegnen, dort Projekttage gestalten, ja, wo die kommunale Ebene, die Gemeinden sich finden, um sich auch familiär miteinander zu begegnen. Das sind die Projekte, die tagtäglich stattfinden, und da gilt es, einmal denjenigen Dank zu sagen, die die Motoren sind, die das vorantreiben, die dort ständig dahinterstehen und bei solchen Aktionen auch die Initiati
Neben den vielfältigen binationalen Beispielen der kommunalen Ebene im grenznahen Raum im Freistaat Sachsen möchte ich die Sächsische Landesstelle für frühe nachbarsprachige Bildung, die LaNa, die im September 2014 im Landkreis Görlitz eingerichtet wurde, nennen. Die LaNa arbeitet im Auftrag des Sächsischen Staatsministerium für Kultus, sie fungiert als Schnittstelle zur sachsenweiten Vernetzung aller für die frühe nachbarsprachige Bildung relevanten Akteure aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Verwaltung. Sie führt die unterschiedlichen Akteure mit ihren Kompetenzen und Ressourcen zusammen und entwickelt gemeinsam mit ihnen Instrumente für die Qualifizierung der Bildungsarbeit vor Ort.
Dabei geht es inhaltlich um den Aufbau eines Monitorings zur frühen nachbarsprachigen Bildung in den Grenzregionen, um die Bereitstellung von Instrumenten für den sachsenweiten Transfer aktueller wissenschaftlicher
Erkenntnisse und guter Praxis vor Ort, um die Entwicklung von Qualitätsstandards sowie Umsetzungsinstrumente zur Qualifizierung und Unterstützung der Fachkräfte in den Bildungseinrichtungen. Aber es geht auch und vor allen Dingen um Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit.
Die LaNa greift auf langjährige und vielfältige Erfahrungen im Bereich der Bildungsarbeit im Dreiländereck Deutschland – Polen – Tschechien zurück, also meiner Heimat. Diese Erfahrungen wurden unter anderem in dem Wirken des grenzüberschreitenden Bildungsnetzwerkes PONTES und der Zusammenarbeit mit dem Landkreis Görlitz im Modellvorhaben im Bundesprogramm „Lernen vor Ort“ gesammelt.
Ich habe einmal in Vorbereitung auf die heutige Debatte den Blog von der LaNa aufgerufen. Da lese ich – ich zitiere –: „Spannende, intensive und vor allem erfolgreiche Veranstaltungstage liegen hinter der Landesstelle Nachbarsprachen.“ So tagte am 11.05.2017 der Expertenbeirat Frühe nachbarsprachige Bildung in Sachsen im Sächsischen Staatsministerium für Kultus. Die Arbeit des Landeskompetenzzentrums zur Sprachförderung an
Kindertageseinrichtungen in Sachsen (LakoS) wurde vorgestellt, um Schnittstellen zwischen den beiden Institutionen herauszuarbeiten und zukünftig noch enger zusammenarbeiten zu können. Dazu gab es unlängst einen weiteren Fachtag „Ich sprech‘ Urdu, was sprichst du so? Mehrsprachige Bildung in Sachsens Kitas“.
Ich zitiere weiter: „Die EUREGIO EGRENSIS lädt regelmäßig zu deutsch-tschechischen Sprachanimationen in Kitas ein: ,Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr!‘ – so prophezeit es das altbekannte deutsche Sprichwort. Im Tschechischen bringt man diese Metapher sogar noch etwas deutlicher auf den Punkt: „Co se v mládí nenaučíš, ve stáří už nedohoníš!“, was wortwörtlich übersetzt so viel heißt wie: „Was du in deiner Jugend nicht lernst, holst du im Alter nicht mehr auf!“
Im Rahmen ihrer Sprachoffensive führt die EUREGIO EGRENSIS seit 2005 jährlich deutsch-tschechische Sprachanimationen in wechselnden Schulen und Kitas der Euroregion – hier geht es um das Erzgebirge, Vogtlandkreis, Landkreis Greiz, Saale-Orla-Kreis und Böhmen – durch, um bereits von klein auf das Erlernen einer Nachbarsprache zu fördern.
Auch die AWO Oberlausitz unterstützt grenzüberschreitende Kita-Kooperationen. Im Januar begann für die AWO Oberlausitz und drei ihrer Kindertagesstätten das mehrjährige Projekt „Gemeinsam spielen, voneinander lernen. – Společně si hrát a navzájem se učit“, welches durch Mittel der Europäischen Union gefördert wird. Hier kooperieren Einrichtungen aus Sachsen und Tschechien im grenznahen Raum