Protokoll der Sitzung vom 01.02.2018

Werte Kolleginnen und Kollegen! Mit unserem Versammlungsfreiheitsgesetz wollen wir im Freistaat neue Wege beschreiten. Dazu gehört es auch, die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Versammlungsrecht auf Privatflächen mit überwiegend öffentlicher Nutzung, zum Beispiel Vorplätzen von Einkaufszentren, umzusetzen. Dies setzen wir nicht nur auf jenen Flächen um, die unmittelbar oder mittelbar in staatlicher Hand sind, sondern auf allen entsprechenden Privatflächen. Hier würde es Sachsen gut zu Gesicht stehen, mal Vorreiter zu sein, statt immer nur jahrzehntelanger Nachzügler.

Weil uns GRÜNE der liberale Pragmatismus leitet, wollen wir das Versammlungsstrafrecht entrümpeln und zukünftig Augenmaß statt Repression üben. Es ist doch mehr als erklärungsbedürftig, wenn wir unanwendbares Recht wie die Sanktionierung der Nichtanzeige einer Versammlung und Redundanzen zum Strafgesetzbuch finden. Das ist unnötig und kann weg.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Mit der Streichung unnötiger Straftatbestände und ihrer Herabstufung zur Ordnungswidrigkeit wollen wir, dass für die Verfolgung von Verstößen zukünftig das Opportunitätsprinzip gilt, es also im Ermessen der Ordnungsbehörden liegt, ob sie gegen einen Verstoß vorgehen oder nicht. Damit schaffen wir, um es mit den Worten des niedersächsischen Innenministers Boris Pistorius zu sagen, einen wesentlich größeren Spielraum für Deeskala

tion im Demonstrationsgeschehen. Dies ist auch notwendig, denn beispielsweise die Verfolgung der Blockaden am 19. Februar 2011 gegen einen Nazi-Aufmarsch in Dresden, an dem sich auch Mitglieder dieses Hauses, wie der heutige stellvertretende Ministerpräsident Martin Dulig, der Fraktionsvorsitzende der LINKEN Rico Gebhardt und der ehemalige Kollege Johannes Lichdi, beteiligten, haben gezeigt, dass die Abwägung hinsichtlich der Strafbarkeit von Platzbesetzung im Spannungsverhältnis zum Grundrechtsschutz steht und dies keineswegs so einfach ist, wie die momentane gesetzliche Lage vorgibt.

Damit einhergehend versprechen wir uns auch eine Entlastung der Strafverfolgungsbehörden. Von über 2 000 Ermittlungsverfahren, die seit 2013 wegen Verstoßes gegen § 22 Versammlungsgesetz eingeleitet wurden, sind 94 % durch die Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Um es klar zu sagen: Unsere Staatsschutzabteilungen bei den Staatsanwaltschaften haben Wichtigeres zu tun, als am Fließband Einstellungsverfügungen für vermeintliche Versammlungsrechtsstraftaten zu tippen.

(Beifall bei den GRÜNEN und des Abg. Rico Gebhardt, DIE LINKE)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Der Vorschlag, den wir Ihnen heute unterbreiten, ist kein Hexenwerk und auch keine Ideologie. Er basiert auf dem Versammlungsfreiheitsgesetz des Landes Schleswig-Holstein und der wiederum auf einem Musterentwurf renommierter

Rechtsprofessoren. Er ist an sächsische Besonderheiten und Erfahrungen mit dem Versammlungsgeschehen angepasst. Er ist gemessen am historischen Kampf für die Versammlungsfreiheit keineswegs revolutionär, aber für unseren Freistaat ein Meilenstein für mehr Bürgerrechte.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Werte Kolleginnen und Kollegen! Wir sind uns bewusst, dass dieses Gesetz auch Versammlungen schützt, die wir,

etwa weil sie von extremen Rechten, von Rassisten oder von Antisemiten veranstaltet werden, aus tiefstem Herzen ablehnen. Wir vertrauen dabei aber auf die Kraft des friedlichen Widerspruchs. Wir vertrauen auf eine starke Demokratie, die eine Versammlungsfreiheit aushält. Unsere Stärke ist, den Feinden der Freiheit mit mehr Freiheit zu begegnen. Wir sagen allen Verfassungsfeinden, aber auch all denjenigen, die in diesen Zeiten die Sicherheit über die Freiheit stellen: Seht her, die Versammlungsfreiheit ist unsere Antwort auf eure Ziele und eure Angst!

(Beifall bei den GRÜNEN)

Wir wollen Versammlungsfreiheit wagen mit unserem Vorschlag für ein Versammlungsfreiheitsgesetz, modern, pragmatisch und liberal.

Vielen Dank.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Meine Damen und Herren! Das Präsidium schlägt Ihnen vor, den Entwurf des Gesetzes über die Versammlungsfreiheit im Freistaat Sachsen an den Innenausschuss – federführend – und an den Verfassungs- und Rechtsausschuss zu überweisen. Wer dem Vorschlag der Überweisung an die Ausschüsse zustimmen möchte, zeigt das jetzt bitte an. – Vielen Dank. Ist jemand dagegen? – Enthält sich jemand der Stimme? – Ja, was war das jetzt? War das eine Enthaltung oder eine Gegenstimme? Waren Sie nur etwas später?

(Rico Anton, CDU: Ich war nur etwas später!)

Aha.

Meine Damen und Herren! Damit ist die Überweisung beschlossen und der Tagesordnungspunkt beendet.

Wir kommen zu

Tagesordnungspunkt 5

Neuer Schub für den sächsischen Nahverkehr: Sachsentarif einführen,

Beförderung harmonisieren, Digitalisierung fördern

Drucksache, 6/12141, Antrag der Fraktionen CDU und SPD

Die Fraktionen nehmen wie folgt Stellung: zunächst die CDU, dann die SPD, danach die Fraktion DIE LINKE, AfD-Fraktion, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und die Staatsregierung, sofern sie das Wort wünscht.

Mit der Aussprache beginnt für die CDU-Fraktion Herr Abg. Nowak. – Herr Nowak, Sie haben das Wort.

Vielen Dank. Herr Präsident! Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Das Thema Zukunft des ÖPNV ist ja nicht zum ersten Mal auf der Tagesordnung des Hohen Hauses. Aber zum ersten Mal haben wir valide Daten und Fakten

vorliegen. Wir wissen zum Beispiel, dass wir jetzt 25 000 Haltestellen in Sachsen haben. Diese Erkenntnis mag auf den ersten Blick nicht besonders revolutionär erscheinen, aber bei 16 kommunalen Aufgabenträgern, die in Sachsen für den ÖPNV verantwortlich sind, war das am Anfang der Arbeit der gleichnamigen Kommission noch nicht so klar.

Es gibt eine ganze Reihe von anderen Daten, die hierzu erhoben wurden. Wir wissen jetzt, dass der ÖPNV, vor allem der Schienenpersonennahverkehr, im deutschlandweiten Vergleich für relativ gute Preise eingekauft wird.

Das liegt daran, dass wir intensiven Wettbewerb bei den Ausschreibungen haben. Wir wissen aber auch, dass auf den Starklaststrecken der Eisenbahn im deutschlandweiten Vergleich zu wenig Nutzer fahren. Dadurch haben wir auch Luft nach oben bei den Einnahmen.

Wie bekommt man aber mehr Leute ins System? Indem man es für den Nutzer vereinfacht. So ziemlich jeder hat wohl seine eigenen Erlebnisse, wo im ÖPNV mal was klemmt und mal was nicht klappt. Manche Dinge sind schwierig zu verstehen, weil sie hausgemacht sind.

Wenn man von Chemnitz nach Dresden fährt, kann man bis Klingenberg-Colmnitz sein Ticket im Zug kaufen. Dahinter geht das nicht mehr. Das ist so, weil VMS und VVO unterschiedliche Beförderungsbestimmungen haben und man sich für die Strecke nicht auf eine geeinigt hat.

Wenn man von Zwickau mit der S-Bahn über Werdau, Altenburg und Borna nach Leipzig fährt, dann gelten dort drei unterschiedliche Bestimmungen über die Mitnahme von Fahrrädern. In Zwickau kostet das nichts, dazwischen gilt Bahntarif, und ab MDV muss man für das Rad den MDV-Tarif bezahlen.

Wenn man in Leipzig ein Handyticket kaufen will, braucht man eine andere App als in Dresden. In Dresden ist es – das habe ich einmal ausprobiert – so kompliziert, dass man gefühlt einen Bachelorabschluss braucht, um es zu bedienen.

Wer von Chemnitz nach Leipzig fährt, der darf fast eine Stunde auf dem schönsten Bahnhof des Landes die Einkaufsmeile genießen, weil die Anschlüsse nicht klappen usw. usf.

Es gibt also noch einiges zu tun. Genau deswegen haben sich Fachleute in der ÖPNV-Strategiekommission mit all diesen Fragen beschäftigt. Zum ersten Mal haben wir valide Daten, auf denen wir aufsetzen können. Deswegen gibt es erstmals konkrete Vorschläge, was man verbessern kann.

Beispiel: Sachsentarif. Unser Ziel ist es, für diejenigen, die das wollen, mit einem Ticket von Zittau bis Adorf zu kommen. Bisher stehen Tarifgrenzen der einzelnen Verbünde dem entgegen. Sie gehen zum Teil selbst durch Landkreise – das Beispiel liegt dabei zwischen Bautzen und Görlitz. Dafür wird eine Finanzierung nötig sein. Ich habe gelernt, dass es durch dieses neue Angebot sogenannte Durchtarifierungsverluste geben wird, wie es im Fachdeutsch heißt. Über diesen Ausgleich müssen sich Freistaat, Kommunen und Verkehrsunternehmen verständigen.

Auch über die Form und Anbindung an die Organisationsstrukturen steht etwas im Abschlussbericht. Die Fachleute empfehlen, das bei einem der Verbünde zu bündeln und über eine neue landesweite Koordinierungsstelle mit Leben zu füllen.

Neben diesem landesweiten Tarif wird es aber weiterhin kleinteiligere Angebote geben. Das ist, denke ich, auch in Ordnung, denn nicht jeder will schließlich von Zittau

nach Adorf. Die Oma, die nur in ihrem Viertel fährt, muss nicht den gesamten Sachsentarif abdrücken. Aber der Sachsentarif wird die Attraktivität steigern. Wir brauchen mehr Leute im System.

Stichwort: Beförderungsbestimmungen. Hier habe ich vorhin schon die Auswüchse grob skizziert. Es ist deshalb an der Zeit, die Bestimmungen in Sachsen neu zu harmonisieren. Dazu ist Kommunikation ein wichtiger Schritt. Viele der Kommissionsmitglieder, mit denen wir zusammengearbeitet haben, sagen, dass in Sachsen zum ersten Mal zu diesem Thema wirklich miteinander geredet wurde, dass man miteinander spricht und gemeinsame Lösungen sucht. Diese Kommunikation kann aber nur ein Anfang sein. Es muss verstetigt werden.

Bei landesweit bedeutsamen Themen müssen Kommunen, Verkehrsunternehmen und der Freistaat an einen Tisch. Diesem Ziel dient die Einrichtung einer Koordinierungsstelle. Genau hier sind diese landesweit wichtigen Fragen richtig aufgehoben. Weil der ÖPNV in Sachsen aber kommunal verfasst ist, können wir das nicht von oben par ordre du mufti machen, sondern wir müssen diese Zusammenarbeit auf Augenhöhe organisieren.

Stichwort: Sachsentakt. Heute fahren viele Umsteigebeziehungen noch aneinander vorbei. Oftmals ist das auch nur eine Frage, wie die Verknüpfung der Linien baulich vor Ort aussieht. Das gilt vor allem im ländlichen Raum. Da gibt es noch viel zu häufig die Maßgabe: Kommt der Schulbus, kommt ein Bus – kommt der Schulbus nicht, kommt keiner. Auch das müssen wir ändern, denn wir brauchen ein landesweites Netz aus Takt-Bussen und Plus-Bussen.

Die Anfänge sind gemacht. Im Mitteldeutschen Verkehrsverbund gibt es zusammen mit dem ZVNL das Projekt „Muldental in Fahrt“, das im letzten Jahr ans Netz gebracht wurde. Es gibt montags bis freitags von 5 bis 21 Uhr erstmals einen Stundentakt im ländlichen Raum – 66 neue Haltestellen wurden dafür eingerichtet. Zum Vergleich: Im Jahr davor gab es gerade mal zwei neue Haltestellen. Das ist also ein komplett neues Netz. Dieser Grundtakt ist abgestimmt auf die anderen Buslinien. Die Umsteigebeziehungen sind optimiert und die Eisenbahn ist einbezogen.

Genau diesen integralen Taktfahrplan brauchen wir sachsenweit. „Muldental in Fahrt“ ist für uns ein Labor. Wir können so testen, wie ein besseres Angebot die Nachfrage belebt. Dass es funktioniert, kann man jetzt schon feststellen. Auf einzelnen Strecken gibt es bereits jetzt mehr als 10 % höhere Auslastung, und das nach weniger als einem Jahr Angebot.

(Einzelbeifall bei den GRÜNEN)

Es gibt dort neue Fahrzeuge. Sie sind leicht zu erkennen: Sie haben alle WLAN, sie sind behindertengerecht und sie haben die richtige Größe für die jeweilige Aufgabe.

(Zuruf von der CDU)

Wir haben uns über den Doppelhaushalt 2017/2018 an dieser Finanzierung angemessen beteiligt. Es war eine gute Investition, denke ich. Andere Verbünde planen Ähnliches. Der VV Vogtland zum Beispiel ist ebenfalls an einem Taktbusnetz dran. Wir müssen diese Aufgabe jetzt landesweit verknüpfen. Klar ist, dass es Geld kosten wird, wenn man die Angebote verbessert und ausweitet. Klar ist aber auch, dass keiner der Partner das allein stemmen kann, auch die Kommunen nicht. Aber die Kommunen können auch nicht mit dem Finger auf den Freistaat zeigen und sagen: Mach mal, du bist allein verantwortlich. Partnerschaftlich muss es gehen, partnerschaftlich muss es ausgehandelt werden.

Es geht übrigens nicht immer nur ums Geld. Es gibt ganz interessante neue Effekte. Am Wochenende galt im Muldental bisher so gut wie kein Fahrplan. Mittlerweile gibt es da jetzt auch zwischen 5 und 21 Uhr den Zweistundentakt. Interessant ist nur, dass die Fahrer auf einmal gesagt haben: Huch, da müssen wir ja jetzt am Wochenende arbeiten. Das ist für mich als Großstädter eine interessante Erkenntnis, weil unsere Busfahrer in der Stadt schon immer am Wochenende arbeiten mussten. Das sind auch Probleme, die man berücksichtigen muss, wenn man solche Veränderungen vornimmt.