Protokoll der Sitzung vom 08.11.2018

Immerhin hat ja auch die SPD auf ihrem jüngsten Parteitag erkannt, dass Hartz IV keine Zukunft hat. Man wird sehen, was von den Ankündigungen übrig bleibt.

In Ihrer Stellungnahme schreiben Sie als Staatsregierung, dass bis zum Jahr 2008 jährlich bei den Landkreisen und kreisfreien Städten Daten zur Wohnungslosigkeit abgefragt wurden. Jedoch seien die Zahlen nicht valide gewesen. Nun könnte man ja annehmen, dass man etwas unternimmt, um valide Zahlen zu bekommen oder den

Zahlen mehr Aussagekraft zu verleihen oder auch das Dunkelfeld aufzuhellen. Aber nein, man stellt diese Abfrage einfach ein. Das Motto scheint zu sein: lieber gar keine Zahlen als eine ungefähre Ahnung. Deutlicher kann man sein Desinteresse am Thema Wohnungslosigkeit wohl kaum zeigen. Das ist beschämend, meine Damen und Herren, und ein Schlag ins Gesicht der mindestens 700 wohnungslosen Menschen in Sachsen, von denen viele jetzt im Winter täglich in Lebensgefahr schweben werden, und das in einem so reichen Land wie dem unseren.

Weiter schreiben Sie, dass Sie als Auftrag aus dem Koalitionsvertrag prüfen, im Rahmen der Sozialberichterstattung die Statistik über Wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen wieder aufzunehmen. Ich gehe davon aus, dass die Sozialministerin nachher in ihrer Rede deutlich mitteilt, zu welchem Ergebnis diese Prüfung gekommen ist, und sie dann dieses Ergebnis auch begründet.

Wie selbstverständlich bei sozialen Themen, weisen Sie in der Stellungnahme wieder einmal auf die Zuständigkeit der Bundesregierung hin, die bundesweite Statistiken dazu einführen will, oder eben auf die Zuständigkeit der Kommunen. Warum Sie dennoch nicht schon jetzt damit beginnen, Zahlen zu Wohnungslosen und von Wohnungslosigkeit bedrohten Menschen zu erfassen, damit eben die Validität und Aussagekraft der Zahlen dann auch gegeben sind, wenn es zur Einführung einer bundesweiten Statistik kommt, ist mir, ehrlich gesagt, ein Rätsel. Angenommen, es kommt tatsächlich zur Einführung einer solchen Bundesstatistik, woher wollen Sie denn dann die Zahlen nehmen? Wie wollen Sie dann diese Validität der Zahlen sicherstellen? Es ist schier unglaublich, wie Sie sich als Staatsregierung hier aus der Verantwortung stehlen.

Wer Wohnungslosigkeit vermeiden will, der muss die Ursachen kennen. Daher schlagen wir unter Punkt 2 vor, dass Sie sich mit den Akteuren diesbezüglich zusammensetzen, um ein Gesamtkonzept mit Präventions- und Interventionsmaßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit zu erarbeiten; denn allein von Gesprächen, die Sie laut Stellungnahme dazu regelmäßig führen, wird sich sicherlich an der Situation von Betroffenen kaum etwas ändern.

In Punkt 4 fordern wir, dass Sie unverzüglich Maßnahmen ergreifen, damit den von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen an kalten Tagen anonyme Unterkünfte zur Verfügung stehen und den Kommunen die dafür erforderlichen finanziellen Mittel unbürokratisch zugewiesen werden; denn die Angebote müssen möglichst niedrigschwellig sein, damit die Betroffenen nicht abgeschreckt werden und die Angebote auch annehmen. Diese mindestens 700 Menschen brauchen gerade jetzt in der kalten Jahreszeit Plätze, wo sie unterkommen können, und vor allem brauchen die Menschen, die überhaupt nicht in den Zählungen auftauchen, eine Unterkunft.

Unser Antrag kommt gerade zur richtigen Zeit. Seine Ziele sind geeignet, um nachhaltig Wohnungslosigkeit

und deren erneuten Anstieg im Jahr 2019 vermeiden zu können, aber auch, damit die Staatsregierung künftig imstande ist, Kleine Anfragen zum Thema beantworten zu können und nicht – wie zuletzt gegenüber meiner Kollegin Sarah Buddeberg – zugeben muss, dass sie nicht über Daten verfügt. Denn hinter den Zahlen stecken in jedem Fall Menschen und deren Schicksale, meine Damen und Herren. Daher muss sich hier endlich etwas grundlegend ändern. Stimmen Sie heute unserem Antrag zu, bevor irgendwelche Kommunen in Sachsen wegen Haushaltsnot auch noch auf die Idee kommen, wie zum Beispiel in Frankfurt oder Dortmund, Ordnungsgeld von Obdachlosen zu verlangen, weil sie auf Bänken oder Fußwegen schlafen, oder bevor es den ersten Kältetoten im Freistaat Sachsen gibt.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den LINKEN)

Als nächste Rednerin ergreift für die CDU-Fraktion Frau Kollegin Kuge das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Geschätzte Kolleginnen und Kollegen! Frau Schaper, Sie haben Forderungen formuliert, ohne sich vielleicht mit deren Machbarkeiten auseinanderzusetzen.

(Susanne Schaper, DIE LINKE: Das habe ich nicht!)

Für mich ist es zweifelhaft, wie man wohnungslose Menschen ohne Meldeadresse erfassen will, etwa durch eine Forderung nach Meldepflicht. Ihre Vorstellung, sie einfach auf der Straße zu finden, ist fraglich. Die Ursachen der Obdachlosigkeit sind sicher vielfältig. Wegen Drogen, Alkohols, eines Schicksalsschlags,

(Svend-Gunnar Kirmes, CDU: Schicksalsschlag!)

oder aus freien Entscheidungen

(Zuruf von den LINKEN)

sind Menschen ohne festen Wohnsitz. Vielleicht wollen diese Menschen gar nicht ins System passen.

(Zuruf der Abg. Susanne Schaper, DIE LINKE)

Unsere Staatsregierung weist zu Recht auf massive wissenschaftliche Mängel älterer Statistiken hin, die aus der Vielfältigkeit der individuellen Situation von Wohnungslosen resultieren. Haben Sie mit den Wohnungslosen gesprochen?

(Susanne Schaper, DIE LINKE: Ja! – Zurufe von den LINKEN)

Nicht, dass Sie an diesen vorbeiforschen wollen. Warum wurden denn die Leistungen gekürzt? Sie sprachen davon, dass Leistungen gekürzt wurden. Warum? Da wird es einen Grund geben.

(Zuruf des Abg. Marco Böhme, DIE LINKE)

Viel mehr als Statistiken und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Sozialwissenschaftler helfen doch die Verstärkung von Beratungsstellen und Streetworkern sowie die Sensibilisierung der Behörden. Seit 2005 gibt es gemeinsame Empfehlungen des Sozial- und des Innenministeriums zur Unterstützung wohnungsloser Menschen. Sie sehen, dass das Thema schon lange bei uns im Blickfeld ist. Eine qualitative Forschung der Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung kann sehr viel weiterhelfen, da individuelle Perspektiven die Vielfältigkeit der Lebenssituation wiedergeben. Daher bringt Ihre geforderte Datenerfassung wenig.

Ich denke, die bundesweiten Bestrebungen sind zu unterstützen, da sich Wohnungslose schnell zwischen den Großstädten bewegen und ihnen somit unabhängig vom momentanen Aufenthaltsort geholfen werden muss. Ihre Forderung nach einem Winternotprogramm lässt fragen, ob Sie sich nicht mit den bestehenden Strukturen beschäftigt haben. Tagestreffs bestehen bereits in Plauen, Stollberg, Aue, Annaberg, Chemnitz, Zwickau, Leipzig, Freiberg, Dresden und Bautzen. Hinzu kommen die Übernachtungsmöglichkeiten.

(Juliane Nagel, DIE LINKE: Das reicht doch nicht!)

Ein herzliches Dankeschön geht an die Diakonie und an die Heilsarmee Meißen, die hier seit Jahren größtenteils unbeachtet großartige Arbeit leisten.

(Vereinzelt Beifall bei der CDU – Beifall der Abg. Dr. Kirsten Muster, fraktionslos)

Einen runden Tisch der Hilfsangebote finde ich gut. Bitte nehmen Sie, Frau Schaper, das Thema mit in den Ausschuss. Wir lehnen Ihren Antrag aber trotzdem ab.

(Beifall bei der CDU – Widerspruch bei den LINKEN – Enrico Stange, DIE LINKE: Herr Präsident, das ist der zweite Beweis!)

Jetzt spricht für die SPD-Fraktion Frau Kollegin Neukirch.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag der LINKEN berührt ein mir selbst sehr wichtiges sozialpolitisches Thema und gibt uns nicht zum ersten Mal in dieser Legislatur im Plenum die Möglichkeit, dazu zu sprechen und dabei vielleicht auch etwas auf den aktuellen Sachstand einzugehen.

Bevor ich konkret zu den Antragspunkten komme, möchte ich aber noch etwas Grundsätzliches sagen. Wir reden im Plenum häufig über Armut und meinen damit meistens relative Armut, das heißt, wenn Menschen im Durchschnitt ihres Einkommens weniger haben als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Das ist relative Armut. Beim Thema Wohnungslosigkeit bzw. Obdachlosigkeit reden wir auch heute noch von existenzieller Armut, das heißt vom Leben am Rande der Überlebensfähigkeit und

auch am Rande der Gesellschaft. Obdachlosigkeit oder Wohnungsnotfälle, wie es mittlerweile zu Recht erweitert worden ist, betrifft meistens Menschen, die die Hilfe der Gesellschaft am meisten brauchen, diese aber am wenigsten selbst äußern. Diese Menschen sichtbar zu machen, sie ins Sichtfeld von Sozialpolitik zu rücken, ist für mich nach wie vor ein wichtiger Antrieb für meinen Einsatz für das Wiederaufleben dieser Statistik, von der Susanne Schaper gesprochen hat. Die Menschen am äußersten Rand dieser Gesellschaft haben das gleiche Recht, auch in Datensätzen und Berichten zur sozialen Lage in Sachsen und Deutschland vorzukommen und sich darin wiederzufinden.

(Beifall bei der SPD)

Ein zweiter Punkt. Man kann, wenn man sie sichtbar hat, zielgerichteter und besser Prävention und Ressourcen zur Verfügung stellen und Hilfsangebote planen. Ein Blick in die vorliegenden Daten – das sind meist die Daten der freien Wohlfahrtspflege – zeigt sehr interessante Fakten. Das Thema von wohnungslosen und obdachlosen Menschen ist nämlich nach wie vor sehr klischeebehaftet und tabuisiert. Meistens denkt man an einen älteren Mann mit einem Alkoholproblem. Wenn man in die Statistiken oder Berichte schaut, dann ist das mitnichten so. Der Blick in die Daten zeigt, dass es immer mehr und auch mit einem überwiegenden Anteil unter 35-jährige Männer sind – mit steigender Tendenz. Es sind auch zunehmend Frauen. Es sind auch Familien betroffen, die aber meistens nicht in der Obdachlosigkeit gelassen werden, sondern meistens sofort Wohnungen zur Verfügung gestellt bekommen. Die Ursachen bei den jüngeren Männern sind insbesondere Übergangsproblematiken bzw. Schnittstellenproblematiken nach Auszug von zu Hause, nach Aufenthalten in Heimen oder Justizvollzugsanstalten oder aber auch die Schnittstelle beim Übergang von der Ausbildung in den Beruf, wo die Existenzsicherung fehlt. Bei Frauen wiederum ist eine der häufigsten Ursachen schlicht und ergreifend die Gewalt in der Partnerschaft oder der Familie, vor der die Frauen fliehen.

Insgesamt, das ist bereits genannt worden, gibt es einen steigenden Trend. Das ist einerseits auf die derzeitige Knappheit und damit auch die steigenden Preise im Bereich des Wohnungsmarktes zurückzuführen. Andererseits kommen aber auch die vielfältigen Migrationsbewegungen – insbesondere der EU-Ausländer – zur Geltung. Die Daten zeigen auch, das ist ein weiterer wichtiger Punkt, dass es zumeist ein Problem der großen Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz ist, während wir in den kleineren Kommunen und im ländlichen Raum meistens tatsächlich mit den präventiven Angeboten, die zur Verfügung stehen, zurechtkommen.

Dieser schlaglichtartige Blick in die Daten, die wir haben, zeigt, wie wichtig es wäre, insgesamt einen Überblick zu bekommen, weil es immer sinnvoller ist, präventiv Hilfen zu leisten. Die BAG Wohnungslosenhilfe in Deutschland weist darauf hin, dass man mit präventiven Maßnahmen, nämlich mit der Stärkung von Drogen- und Suchtbera

tung, Familienberatung und Schuldnerberatung und genau an der Schnittstelle, wo Wohnungsnot das erste Mal auftritt, fast die Hälfte aller wohnungslosen Fälle sogar vermeiden könnte.

Mit dem Sozialbericht, den wir Ende des Jahres erwarten, werden wir endlich auch wieder Daten über die vielfältigen sozialen Lagen insgesamt in Sachsen gewinnen. Die Kritik, dass dieser sehr spät komme, nehme ich an. Ich sage aber auch, dass es mir lieber ist, jetzt einen Bericht zu haben, der eine kontinuierliche Grundlage für die Bereitstellung von Daten ist und nicht immer nur punktuell etwas abliefert, was dann schwer vergleichbar ist.

(Zuruf der Abg. Susanne Schaper, DIE LINKE)

Damit komme ich jetzt zum Antrag. Der erste Punkt zielt darauf ab, dass wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben, die Wiedereinführung der Obdachlosenstatistik im Zuge der Berichterstattung zu prüfen. Das ist auch passiert. Die Prüfung ist passiert. Und wenn – –

(Susanne Schaper, DIE LINKE: Sie ist kein Bestandteil!)

Sie ist jetzt kein Bestandteil der Berichterstattung, Frau Schaper. In den letzten zwei Beiratssitzungen – für diesen Sozialbericht gibt es einen Beirat im Ministerium – haben wir uns fast ausschließlich mit dem Warum

(Zuruf der Abg. Susanne Schaper, DIE LINKE)

beschäftigt und was die Ursachen sind, dass es zum Thema Wohnungslosenstatistik schwierig war, das in den Bericht zu bekommen.

Der Stand der kommunalen Datenlage ist derzeit nicht so, dass ich eine vergleichbare und valide Datenbasis habe, die man in einem solchen Bericht abbilden kann. Ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sozialministeriums bedanken, die sehr viel Herzblut und sehr viel Aufwand in diese Prüfung der kommunalen Datenlage gesteckt haben.

(Beifall bei der der SPD und vereinzelt bei der CDU – Beifall bei der Staatsregierung)

Nur ist das Ergebnis, dass es nicht in diesem Sozialbericht auftaucht, keines, was uns freut. Es ändert auch nichts – das möchte ich klar und deutlich sagen – an der Zielstellung, weiterhin für die Wiedereinführung einer Statistik in dem Bereich zu arbeiten. Wir werden – zumindest haben wir das vor – mit dem derzeitigen Haushalt, den wir ja beraten, die Ressourcen bereitstellen, damit in den nächsten Jahren genauso eine Grundlage, wie jetzt für den Sozialbericht, auch für den Teil der Obdachlosen- und Wohnungsnotfallstatistik geschaffen werden kann. Das ist allerdings in dem Zeitraum, wie er im Antrag steht, völlig unrealistisch. Jeder, der etwas in diesem Beirat zugehört hat, wie schwierig es ist, statistische Datenindikatoren irgendwie zu verankern und vergleichbar abzubilden, weiß, dass das kein triviales Thema ist. Das zeigt auch die Diskussion auf Bundesebene. So einfach, dass wir jetzt

mal schnipsen und dann in einem halben Jahr den ersten Bericht haben, ist es leider nicht. Wir brauchen dazu Geld, wir brauchen dazu Ressourcen, dann werden wir auch vorankommen.