Protokoll der Sitzung vom 30.01.2019

Ich komme zum zweiten Schwerpunkt des Gesetzentwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Er enthält, wie schon dargelegt, wesentliche Festlegungen bezüglich der Barrierefreiheit bei Wahlverfahren, Wahlmaterialien, Wahlräumen und zu Unterstützungsbedarfen. Gleich vorweg gesagt: Meine Fraktion unterstützt dies ohne Einschränkung.

Zur Begründung möchte ich Ihnen dazu dieses Mal nur ein einziges Beispiel etwas detaillierter darlegen. Es geht um unseren Kollegen Horst Wehner. Wie viele andere Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer auch kann er das grundsätzlich verankerte Wahlrecht zu einer Kommunal-, Landtags-, Bundestags- oder Europawahl zwar wahrnehmen, aber lediglich als Briefwähler; denn das Wahllokal ist seit Jahr und Tag nicht barrierefrei zugänglich. Auf den ersten Blick scheint damit dem Grundgesetz Genüge getan zu sein; denn die Teilnahme an einer Wahl – aktiv und passiv im Rechtssinn – wird ja gewährleistet.

Aber wir als Fraktion DIE LINKE sagen: Nein, das reicht nicht; denn dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass vor, während und nach einer Wahl der Mehrheit der Menschen weitere Möglichkeiten der Auswahl oder Partizipation zur Verfügung stehen, die Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern bei fehlender Barrierefreiheit über die Einschränkung auf die Briefwahl hinaus auch noch genommen sind. Sie können zum Beispiel für sich nicht entscheiden, ob sie den Brief in die Post geben oder selbst zum Rathaus bringen, wenn es als öffentliches

Gebäude nicht rollstuhlgerecht ist. Sie können auch nicht auswählen, ob sie die besondere Stimmung am Wahltag wie die Fußgängerinnen und Fußgänger hautnah erleben wollen oder nicht. Sie können auch nicht von der Möglichkeit Gebrauch machen, Wahlvorstand bzw. Wahlhelferin oder Wahlhelfer in ihrem Wahllokal zu werden; denn sie kommen ja nicht hinein. Wenn sie hinein kämen, fehlt möglicherweise die notwendige Toilette. Sie können auch nicht am Abend nach der Schließung der Wahllokale an einer öffentlichen Auszählung der Stimmen teilnehmen, und zwar nicht einmal dann, wenn sie als Direktkandidatin oder -kandidat mit einer hohen Gewinnchance selbst auf dem Wahlzettel ihres Wahllokals standen.

Für uns gibt es daher nur ein einziges Fazit aus den zuletzt genannten Punkten: Es sind und bleiben noch etliche Diskriminierungen und Ausschlüsse von der gesellschaftlichen Teilhabe im Zusammenhang mit Wahlen zu beheben, die Menschen nur deshalb erfahren müssen, weil staatlich nicht das menschenrechtlich Gebotene getan wird, nämlich durch angemessene Vorkehrungen genau solche strukturellen Benachteiligungen zu beseitigen.

Die genannten Punkte zeigen plastisch, warum Menschen mit Behinderungen den bekannten Slogan „Behindert ist man nicht, behindert wird man“ als Leitmotiv ihres politischen Engagements nutzen. Ihre Erfahrungen mit der mangelhaften Umsetzung sowohl von Artikel 9 Barrierefreiheit als auch von Artikel 29 Teilhabe am politischen und öffentlichen Leben der UN-Behindertenrechtskonvention im Freistaat geben ihnen recht.

In Sachsen werden Menschen mit Beeinträchtigungen in Bezug auf Wahlen immer noch Behinderungen ausgesetzt, die nicht zu rechtfertigen sind. Unsere Fraktion ist der Auffassung, dass hier endlich Abhilfe geschaffen werden muss. Deshalb stimmen wir dem Gesetzentwurf der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu.

Vielen Dank.

(Beifall bei den LINKEN und den GRÜNEN)

Amt. Präsident Thomas Colditz: Vielen Dank. Ich bitte nun Frau Kliese von der SPD-Fraktion um ihren Redebeitrag.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin seit vielen Jahren Mitglied im Club Heinrich. Der Club Heinrich ist ein Freizeitclub für Menschen mit Handicap in Chemnitz. In diesem Freizeitclub können die Menschen mit Handicap das machen, was Menschen ohne Handicap auch gern in ihrer Freizeit tun. Sie können kochen, sie können Englisch lernen, sie können Zumba tanzen oder Filme anschauen. All das wird ihnen in diesem Club von der Stadtmission ermöglicht.

Ich selbst gehe hin und wieder dahin, um mit den Menschen zu kochen oder zu diskutieren. Manchmal schauen wir auch gemeinsam einen Film. Wenn ich mich dann mit den Leuten, die im Club Heinrich die Gäste sind und von

denen einige tatsächlich einen Betreuer haben, über Politik unterhalte, weil sie viele Fragen haben und neugierig sind, was ich so mache, dann merke ich an den Fragen immer wieder, dass ihr politisches Interesse enorm ist und dass sie durchaus in der Lage sind, politische Geschehnisse gut zu beurteilen.

Neulich fragte mich zum Beispiel jemand: „Warum bekommen wir in unserer Werkstatt eigentlich keinen Mindestlohn?“ Ich halte das für eine gute Frage. Es war gar nicht so einfach zu erklären, warum das so ist. Die Frage allein zeigt, dass der Diskurs sehr wichtig und in diesem Zusammenhang durchaus machbar ist.

Das ist die eine Ebene, weshalb Wahlrechtsausschlüsse für Menschen mit Betreuern abgeschafft werden sollten. Die andere ist natürlich die rein menschenrechtliche. Das Recht zu wählen ist ein Menschenrecht. Ich sehe keinen Grund, diesen Menschen dieses Recht zu verwehren.

Bereits im Koalitionsvertrag auf Bundesebene haben sich CDU und SPD darauf geeinigt, die Wahlrechtsausschlüsse abzuschaffen. Es steht so im Vertrag. Momentan liegt allerdings auf Bundesebene trotz diverser Absichtsbekundungen noch kein konkreter Gesetzentwurf vor.

Die Bundesländer, die das bereits geschafft haben, sind Brandenburg, Bremen, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein. Sie sind diesen Schritt bereits gegangen.

Warum ist Sachsen hier nicht ein bisschen progressiver und macht das auch? Warum erscheint Sachsen im Zusammenhang mit Inklusion immer ein bisschen zögerlich? In diesem Fall ist es so, dass wir mit dem Inklusionsgesetz, in dem – wie es schon erwähnt wurde – die Wahlrechtsausschlüsse geregelt sein sollen, so lange gewartet haben, bis das Bundesteilhabegesetz fertig war. Das heißt, wir waren darauf angewiesen, dass der Bund das Teilhabegesetz, das ein sehr großes Gesetz mit vielen positiven Veränderungen ist, beschließt. Danach sollte das Inklusionsgesetz folgen. Das ist der einzige Grund, weshalb es ein bisschen länger gedauert hat. Allerdings – das muss man so sagen – ist damit jetzt die Chance vertan, dass wir die Änderung der Wahlrechtsausschlüsse über das Inklusionsgesetz, das jetzt kommen soll, zur Kommunalwahl bewirken können. Das bedaure ich sehr und finde es unnötig. Es hätte meines Erachtens eine Möglichkeit gegeben, hier schneller voranzukommen.

Ich gehe davon aus, dass wir es noch schaffen werden, dass die Regelung der Wahlrechtsausschlüsse mit der Landtagswahl wirksam wird. Es ist schade, dass heute niemand vom Ministerium da ist, um diese Botschaft noch einmal eindringlich zu versenden. Hier geht es um ungefähr 6 000 Menschen, für die ich mir sehr wünschen würde, dass sie die Möglichkeit zu wählen bekommen.

Ich habe von Ministerpräsident Kretschmer ein sehr schönes Zitat auf einem Sharepic letzte Woche gelesen, das mir sehr gefallen hat. Herr Kretschmer hat gesagt: „Wenn Gesetze und Grenzwerte von der Bevölkerung nicht als Schutz, sondern als Bevormundung verstanden

werden, wird es gefährlich.“ Das finde ich sehr gut, und es stimmt. Ich möchte hinzufügen: Wenn Menschenrechte als nachrangig oder aufschiebbar gelten, dann leider auch.

(Beifall bei der SPD)

Amt. Präsident Thomas Colditz: Vielen Dank, Frau Kliese. Es folgt die AfD-Fraktion mit Herrn Wendt.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Gesetzentwurf verfolgt zwei zentrale Ziele zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Erstens sollen Ausschlusstatbestände vom Wahlrecht gestrichen werden. Zweitens soll die Teilnahme an Wahlen den Grundsätzen der Barrierefreiheit entsprechen.

Aus Zeitgründen spreche ich nur zu den Wahlrechtsausschlüssen. Das Thema der Barrierefreiheit wurde von uns in der Vergangenheit bereits offensiv bearbeitet.

Derzeit sind etwa 5 000 Personen in Sachsen vom Wahlrechtsausschluss betroffen. Ich gehe in meinem folgenden Redebeitrag nur auf die Personen mit Totalbetreuung ein, für die in allen Angelegenheiten ein Betreuer bestellt ist.

„Eines der Ziele einer demokratischen Wahl ist die Gewährleistung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden Volksvertretung“, so das Bundesverfassungsgericht. Die setzt die Fähigkeit zu einer bewussten und reflektierten Wahlentscheidung voraus. Einfach gesprochen geht es darum, die Tragweite der eigenen Wahlentscheidung einschätzen zu können.

Die UN-Behindertenrechtskonvention versucht, eine Diskriminierung daraus abzuleiten, dass zwischen fähigen und nicht fähigen Wählern unterschieden werden muss. Keine Frage: Man muss Menschen mit Behinderungen die notwendige Unterstützung zukommen lassen, um die Teilhabe auch beim Wahlgang zu ermöglichen. Diesen Zielen stimmen wir natürlich zu.

Die Frage ist jetzt: Ist es generell möglich, durch eine Assistenz bei Totalbetreuung die Fähigkeit zu einer bewussten und reflektierten Wahlentscheidung herbeizuführen?

Genau diese Frage untersuchte auch die Studie zu Wahlrechtsausschlüssen auf Bundesebene. Diese kam zu dem Ergebnis, dass es hierauf keine pauschale Antwort gibt. Einzelfalluntersuchungen zeigten Personen, bei denen durch eine Assistenz eine bewusste und reflektierte Wahlentscheidung möglich war. Andere wiederum waren nicht assistenzfähig. Nach der Studie besteht bei Assistenz immer die latente Gefahr einer Stellvertreterwahl, also das Setzen des Kreuzes an der falschen Stelle oder die vorherige Beeinflussung der Entscheidung.

Es gibt verschiedene Vorschläge, die dem entgegenwirken könnten. Einen „Goldstandard“ gibt es bis dato aber noch nicht. Die Studie schlägt diesbezüglich vier Handlungsoptionen vor, von denen die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN die offensivste gewählt hat. Genauso wenig, wie man pauschal sagen kann, dass totalbetreute Personen

entscheidungsunfähig seien, kann man pauschal das Gegenteil behaupten. Wir sehen die Lösung eher im Betreuungsverfahren, wie es die Studie ebenfalls tut. Dabei sind richterliche Einzelfallentscheidungen für oder gegen eine Wahlrechtsgewährung möglich. Hierzu wären bundeseinheitliche Regelungen wünschenswert. Wir

warten daher die angekündigte Initiative auf Bundesebene ab und werden uns deshalb zum Gesetzentwurf enthalten.

Vielen Dank.

(Beifall bei der AfD)

Amt. Präsident Thomas Colditz: Danke schön. Ich erteile Herrn Wurlitzer das Wort.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich bin froh, dass es eine UN-Behindertenrechtskonvention gibt. Sie mahnt uns, uns an die Gesellschaft anzupassen, um allen Menschen eine umfangreiche Teilhabe am demokratischen und gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen.

Wir haben in Deutschland in den vergangenen Jahren diesbezüglich viel erreicht, um ebendiese Teilhabe zu gewährleisten. Ich frage mich deshalb, wohin dieser Entwurf tatsächlich gehen soll. Meine sehr geehrten Damen und Herren von den GRÜNEN, Sie beschweren sich alle naselang über die angebliche Angstmache einiger Parteien und machen selbst Angst mit diesem Entwurf, auch mit einer Dieseldebatte und einem Klimawandel.

Aber zurück zum Entwurf. Sie erwecken den Eindruck, dass Menschen mit Behinderung massiv in ihren Rechten, an Wahlen teilzunehmen, eingeschränkt würden. Das ist aber nicht richtig; denn mit der Möglichkeit der Briefwahl kann jeder an allen Wahlen teilnehmen. Sie fordern in Artikel 1 § 16 a Barrierefreiheit:

(Valentin Lippmann, GRÜNE: Briefwahl ist aber eine Ausnahme!)

„Das Wahlverfahren und die Wahlmaterialen sind barrierefrei zu gestalten.“ Das ist ja bei einer Briefwahl de facto der Fall. Sie wollen Artikel 1 § 32 Abs. 2 neu fassen: „Wählerinnen und Wähler mit Unterstützungsbedarf können sich bei der Stimmabgabe assistieren lassen. Die Freiheit und die Höchstpersönlichkeit der Wahl sind zu gewährleisten.“ Auch das kann man mit einer Briefwahl ein Stück weit gewährleisten.

Wenn Sie so an der Teilhabe interessiert sind – was ich Ihnen teilweise sogar glaube –, dann frage ich: Was ist dann mit der Tatsache, dass Menschen mit Behinderung auch Parteiprogramme und Vorstellungen von Kandidaten auf eine Art zugänglich gemacht werden müssen, dass sie sich ein umfangreiches Bild machen können, wen sie wählen? Dazu findet sich in Ihrem Antrag ebenfalls nichts.

Sie fordern in Artikel 1 § 33: „Die Wahlräume sind so auszugestalten, dass sie in zumutbarer Entfernung zu Fuß oder mit barrierefrei zugänglichem öffentlichem Personennahverkehr erreichbar und barrierefrei zugänglich

sind.“ Die Wahlräume befinden sich meist in Schulen und Gemeinderäumen. Wie, bitte, soll das dann mit diesem Gesetz umgesetzt werden? Die Schulen und Gemeinderäume können diesbezüglich ja nicht alle von heute auf morgen umgebaut werden, und auch die Haltestellen des öffentlichen Personennahverkehrs können nicht schnell neu festgesetzt werden. Wir sprechen von durchschnittlich einem Wahlsonntag pro Jahr, und dieser Aufwand steht unseres Erachtens in keinem vernünftigen Verhältnis zum tatsächlichen Nutzen.

Sie differenzieren in Ihrem Gesetzentwurf auch nicht zwischen körperlich und geistig behinderten Menschen. Ich denke, bei Menschen mit körperlicher Behinderung ist es völlig unstrittig, was die Beteiligung an Wahlen betrifft. Was ist aber mit Menschen, die eine geistige Behinderung haben, Menschen, die einen gesetzlichen Vormund haben – aus welchem Grund auch immer? Wie will man hier sicherstellen, dass der freie Wille tatsächlich der Wille des Wählers ist, dass er oder sie umfangreich informiert worden ist und eine Beeinflussung durch Dritte ausgeschlossen ist? Auch dazu findet sich in dem Entwurf leider nichts.

Aber kommen wir zur Briefwahl selbst, so wie sie derzeit praktiziert wird. In einigen Regionen liegt der Anteil der Briefwahl bei 20 bis 30 %. Wer kontrolliert eigentlich, dass die Regeln und Vorschriften eingehalten werden? Wir wissen, wie Briefwahlstimmen teilweise ergattert werden: Da macht man mal einen schönen Nachmittag in einem Alten- und Pflegeheim oder in einem Seniorenheim, ein bisschen Kaffee, ein bisschen Kuchen, und gibt dann einen nachhaltigen Hinweis, wie gewählt werden soll. Man könnte es Missbrauch nennen oder im besten Fall eine Grauzone. Man könnte auch sagen: Das haben wir schon immer so gemacht. Sehr geehrte Damen und Herren der GRÜNEN, Sie sind doch sonst immer so für Transparenz. Ich denke, hier gibt es viel Spielraum für Verbesserungen.

Als Letztes noch: Was ist mit den Voraussetzungen, um an Kommunalwahlen teilzunehmen? Ich meine die Sammlung von Unterstützerunterschriften für eine neue Partei oder für Bürgerinitiativen, die erstmals zu einer Wahl antreten wollen. Dazu findet sich im Entwurf auch kein Wort. In diesem Fall gibt es ja keine Briefwahlregeln. Jede Unterschrift muss auf der Gemeinde geleistet werden, und hier werden Menschen mit Behinderung dann doch benachteiligt.

Als zu Beginn dieser Legislaturperiode eine Änderung des Kommunalwahlgesetzes in dieses Hohe Haus eingebracht wurde, haben Sie gegen diesen Antrag und damit für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung gestimmt. Nun ist mir auch klar, wohin Sie tatsächlich mit Ihrem Antrag wollen: Es geht Ihnen nicht um die Menschen mit Behinderung, es geht Ihnen um Wahlkampf. Dieser Entwurf nützt Ihnen vor allem dann, wenn er abgelehnt wird. Die Abgeordneten der blauen Partei lehnen diesen Gesetzentwurf trotzdem ab, da wir das Recht auf Teilhabe von Menschen mit Behinderung an

Wahlen als gegeben sehen und der Entwurf keine Änderung der Voraussetzungen für die Teilnahme an Kommunalwahlen vorsieht.

Vielen Dank.

(Beifall bei den fraktionslosen Abgeordneten)