Bevor ich den Tagesordnungspunkt 22 aufrufe, freue ich mich, Schülerinnen und Schüler der Rathaus-Sekundarschule Dessau in unserem Hohen Hause begrüßen zu dürfen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Anfang März dieses Jahres überschrieb im Zusammenhang mit der ITB die „Berliner Behindertenzeitung“ ihren Aufmacher auf der Seite 1 mit der Überschrift „Barrierefreies Reisen für alle - Tourismusbranche entdeckt behinderte Reisende - Hotelketten oft nicht behindertengerecht“. Im Innenteil heißt es weiter: „Raus aus dem Alltag, selbstverständlich reisen“.
Selbstverständlich reisen zu können, Zeit und Geldmittel vorausgesetzt, ist für behinderte Menschen nicht gegeben. Reisen endet für uns oft in einer Abenteuerreise, unfreiwillig versteht sich, und ohne besonderen Aufwand seitens der Reiseveranstalter.
Das beginnt bei den meist unverhältnismäßig umfangreichen Reisevorbereitungen. So sind beispielsweise zuverlässige und verbindliche Informationen zum Urlaubsort, zu den Bedingungen der Urlaubsregion und zum Reiseweg - immer mit Bezug auf Zugänglichkeit und Barrierefreiheit - beinahe nur durch Mundpropaganda oder über Behindertenverbände ermittelbar.
Trotz dieses äußerst widerspenstigen Umfeldes wächst der Umsatz in diesem Marktsegment des Tourismusbe
reiches an; denn Menschen mit Handicaps wollen reisen, wollen Urlaub machen wie alle anderen auch. Dieser mittlerweile - man staune! - wissenschaftlich nachgewiesenen Erkenntnis stehen jedoch nach wie vor nur geringe Auswahlmöglichkeiten gegenüber. Dabei ist der betroffene Personen- und damit der potentielle Kundenkreis groß und wächst in den nächsten Jahrzehnten rasch an.
Gelten heute schon ca. 18 bis 20 % der bundesdeutschen Bevölkerung als mobilitätsbehindert, so wird dieser Anteil bis zum Jahr 2030 auf etwa 30 bis 35 % anwachsen, meint zumindest die europäische Verkehrsministerkonferenz.
Wirtschaftlich betrachtet, zählt die Tourismusbranche zu den bedeutendsten Dienstleistungssektoren. Hier arbeiten bundesweit über 2 Millionen Menschen. Das Hotel- und Gaststättengewerbe bietet über 60 000 Ausbildungsplätze. Ohne Fremdenverkehrswirtschaft gäbe es in Ostdeutschland etwa 340 000 Arbeitsplätze und ca. 20 000 Ausbildungsplätze weniger. Wenn es gelingen würde, die Anzahl der Übernachtungen pro 1 000 Einwohner in den neuen Bundesländern an das Niveau der alten Bundesländer anzugleichen, könnten etwa 100 000 Arbeitsplätze in Ostdeutschland zusätzlich entstehen.
Das erfordert jedoch, daß sich die Tourismusbranche in ihrem Leistungsspektrum konsequent auf mobilitätsbehinderte Urlauber einstellt. Da sie das nicht tut bzw. in einem Schneckentempo dabei vorankommt, verzichtet die Tourismusbranche nach Untersuchungen eines Marktforschungsinstituts aus London im Jahr auf etwa 31 Milliarden Pfund, europaweit gesehen.
Was geschieht nun in diesem Bereich in Sachsen-Anhalt? Gibt das Land, gibt die Politik Impulse und Unterstützung zur Bearbeitung dieses Marktsegments und zur Verbesserung des Angebots?
Aus anderen Bundesländern sind mir verschiedene Beispiele bekannt, daß sich die dortigen Landesregierungen aktiv für einen Tourismus für alle engagieren. Beispielsweise förderte die Landesregierung Brandenburgs touristische Aktivitäten auf diesem Gebiet und gab einen Ratgeber für den Bau und die Gestaltung touristischer Einrichtungen heraus. Ich habe diesen Ratgeber mitgebracht. Er ist gut konzipiert und gibt gute Hinweise für die Entwicklung dieses Tourismusbereichs.
In Thüringen ist auf der Basis des Inno-Regio-Wettbewerbs ein Projekt zur Schaffung einer barrierefreien touristischen Region angelaufen. In diese Region werden mit Hilfe der Bundesregierung in den nächsten Jahren etwa 20 Millionen DM hineinfließen.
In Sachsen-Anhalt fallen mir das Integrationsdorf Arendsee oder die Gemeinde Darlingerode ein. Flossen hierin aber Mittel aus der Wirtschafts- bzw. Tourismusförderung des Landes?
Was für Sachsen-Anhalt wie aber auch für andere Bundesländer fehlt, sind konzentrierte, zusammengefaßte Informationen zum Marktsegment Tourismus für alle Menschen.
Unser Antrag auf Berichterstattung in den angeführten Ausschüssen soll helfen, sowohl in der Landesregierung als auch in der Tourismusbranche die Problemsicht zu schärfen, soll helfen, diesen Bereich des Tourismus als Chance für mehr Arbeit und Gewinn zu erkennen und entsprechend zu behandeln. Zu begrüßen wäre auch, wenn im Bericht die Schnittstellen zu anderen gesell
schaftlichen Bereichen benannt werden könnten, beispielsweise Qualifizierung und Ausbildung an Hochschulen, Baugeschehen, öffentlicher Personennahverkehr, Zugänglichkeit von Arztpraxen, Apotheken, Kultur usw.
Erster Aspekt: Schon in der UNO-Resolution vom Dezember 1993, überschrieben mit den Worten „Rahmenbestimmungen für die Herstellung der Chancengleichheit für Behinderte“, werden die Staaten aufgefordert - ich zitiere -, „Maßnahmen in die Wege zu leiten, um Erholungs- und Sportstätten, Hotels, Strände, Sportplätze usw. Behinderten zugänglich zu machen“.
Zweiter Aspekt: Tourismus für alle Menschen zielgerichtet fördern, heißt Menschenrechte zu verwirklichen, Lebensqualität zu erhöhen und eine aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben, das heißt, Zukunft für das Land zu gestalten.
Unser Antrag ist ein Antrag auf Berichterstattung in verschiedenen Ausschüssen. Über ihn ist direkt abzustimmen. Ich bitte um Ihre Zustimmung. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke für die Einbringung. - Meine Damen und Herren! Es ist im Ältestenrat eine Fünfminutendebatte vereinbart worden in folgender Reihenfolge: FDVP, SPD, CDU, DVU-FL, PDS. Als erstem erteile ich für die Landesregierung Herrn Minister Gabriel das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Barrierefreier Tourismus, das ist selbstverständlich ein wichtiges Ziel der Tourismuspolitik unseres Landes, und zwar zunächst einmal wegen der sozial- und gesellschaftspolitischen Verpflichtung, die umfassende Integration von behinderten Menschen zu gewährleisten, aber auch aus praktischen wirtschaftlichen Erwägungen heraus.
Es gibt eine Bundesstudie zu diesem Themenkomplex. Der Behindertentourismus wird darin als sehr entwicklungsfähig eingestuft, wenn es gelingt, die derzeit bestehenden Barrieren, die dort auch gesehen werden, zu beseitigen.
Der bereits jetzt mit rund 6 Milliarden DM Umsatz bundesweit veranschlagte Bereich des Tourismus hält immerhin 90 000 Arbeitsplätze vor, und es werden große Umsatzzuwächse erwartet. Dabei spielt natürlich die Beachtung der Belange besonders mobilitätsbeeinträchtigter Menschen eine besondere Rolle, weil jeweils die technischen Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit das funktioniert.
Wir haben in den letzten Jahren etliche Tourismusprojekte gefördert, die genau diese Themen mit in den Vordergrund gestellt haben. Dafür ist gesondert Geld ausgegeben worden. Wenn Anlagen, Hotels, gastronomische Einrichtungen gebaut worden sind, haben wir die besonderen Maßnahmen, die erforderlich waren, um diese Einrichtungen behindertengerecht und barrierefrei zu machen, auch zusätzlich gefördert.
Wir haben bei der Prädikatisierung von Kur- und Erholungsorten, für die mein Haus die Anerkennungsbehörde
ist, besonders das Vorhandensein von behindertengerechten Einrichtungen als Kriterium aufgenommen und haben diejenigen, die das berücksichtigt haben, besonders positiv bewertet.
Wir haben zum Beispiel auch, wenn es um das Tourismusmarketing geht, für die Altmark eine Broschüre „Urlaub aus einer anderen Perspektive“ herausgegeben.
Aber richtig ist, daß dieser Gedanke in der Massivität jedenfalls noch nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die man erreichen kann.
Deswegen ist es wichtig, die Erfahrungen der Bundesgartenschau auszuwerten, die auf diesem Gebiet überwiegend positiv sind - dort hat das meiste schon ganz gut funktioniert -, und das auch auf die Expo 2000 anzuwenden.
Ich möchte ausdrücklich darauf hinweisen, daß auch der Bäderverband und der Gesundheitstourismus dabei eine große Rolle spielen. Auch die Angebote und das Zusammenbringen der verschiedenen Möglichkeiten auf diesem Gebiet sind weiterzuentwickeln.
Die Landesmarketinggesellschaft hat sich nicht erst nach Aufforderung, sondern aus eigener Erkenntnis diesem Thema schon gezielt zugewandt. Hierbei werden in den nächsten Monaten und Jahren positive Ergebnisse zu erwarten sein.
Ich stimme mit Ihnen überein, meine Damen und Herren, daß wir, so wie Sachsen-Anhalt im bundesdeutschen Maßstab besonders gute Wachstumschancen im Tourismus allgemein zugeschrieben werden, natürlich auch in diesem Spezialgebiet hervorragende Chancen haben und dies zweigleisig positiv entwickeln müssen, zum einen um unserer Verantwortung gerecht zu werden, zum anderen auch um daraus wirtschaftliche Chancen zu machen. Deshalb ist es gut, die Kräfte zu bündeln, ressortübergreifend zu arbeiten und in den Ausschüssen mit Ihnen gemeinsam darüber zu reden, um auch Ihre Anregungen in den Prozeß mit einfließen zu lassen. - Vielen Dank.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Zunächst einmal muß ich feststellen, daß der Antrag der PDSFraktion zu diesem Thema sehr oberflächlich und blauäugig eingebracht wurde. Zu DDR-Zeiten hat sich die damalige SED-Führung kaum Gedanken um behinderte Menschen gemacht. Von den damaligen Pflegeheimen mußte man als „Menschenaufbewahrstationen“ sprechen.
Diese Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Die PDS-Fraktion will mit ihrem Antrag jedoch Populismus in eigener Sache betreiben, und das auf Kosten behinderter Menschen.
Damit wir uns richtig verstehen: Wir möchten auch, daß sich behinderte Menschen in diesem Land wohlfühlen können und vor allem verstanden wissen. Wir wollen,
daß zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen eine gleichwertige Anerkennung erfolgt. Ebenso sollte das soziale Miteinander gefördert werden.
Wenn man sich mit dieser Thematik beschäftigt, sollte zunächst analysiert werden, wie viele Menschen in Sachsen-Anhalt überhaupt derart in ihrer Mobilität behindert sind, daß sie sich nicht ohne fremde Hilfe fort- bewegen können.
Ich empfehle der PDS-Fraktion deshalb, beim Amt für Versorgung und Soziales in Halle an der Saale nachzufragen, welches prozentuale Verhältnis zwischen zu über 50 % behinderten Menschen und nichtbehinderten Menschen in Sachsen-Anhalt besteht, in welchen Städten, Kommunen oder Landkreisen die Konzentration von behinderten Menschen besonders hoch ist und welche touristischen Bedürfnisse oder Ziele die behinderten Menschen in diesen Regionen haben.