Protokoll der Sitzung vom 04.05.2000

Zweitens schafft sie eine Ungleichbehandlung unter den Jugendlichen; ich erinnere diesbezüglich an die Ungleichbehandlung nach dem Inkrafttreten des 100 000Stellen-Programms gegenüber den Jugendlichen im landeseigenen Programm „Kooperation Schule/Wirtschaft“.

Drittens. Die Sonderprogrammpraxis bewirkt eine Unübersichtlichkeit auf dem Weg zur Ausbildung bei den Jugendlichen, bei den Eltern, bei Lehrerinnen und Lehrern, sogar bei Experten. Sie erweckt im übrigen einen falschen Eindruck in der Öffentlichkeit. Alle sind statistisch wegdefiniert.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich hatte beim Lesen der Antwort der Landesregierung den Eindruck, als hätten wir sie damit überfordert und überrascht.

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Das hatte mich etwas überrascht, da wir bereits in den letzten Reden darauf hingewiesen hatten, daß wir uns einer qualitativen Betrachtung nähern wollen.

Daß die Beantwortung der Großen Anfrage etwas länger dauern würde, hatten wir eingeplant. So verwunderte es uns nicht, daß eine Fristverlängerung erbeten wurde. Verwundert hat mich aber die Antwort.

Allein der Sprachgebrauch war teilweise erschreckend und vermittelte den Eindruck, daß nur die hohe Zahl der Schulabgänger an der Ausbildungskrise schuld sei, nicht aber die mangelnde Ausbildungsbereitschaft.

Auch möchte ich die Landesregierung auf einen sachlichen Fehler hinweisen. Auf Seite 17 fragten wir nach den sogenannten 48er Berufen. Das sind Berufe nach § 48 des Berufbildungsgesetzes für Menschen mit Be

hinderung. In der Beantwortung wird angeführt, Berufe wie Metallbauer oder Kauffrau für Bürokommunikation seien 48er Berufe. Das sind sie nicht. Hier wurde nach unserer Meinung das Leistungsspektrum des Bildungswerkes in Stendal und in Hettstedt angeführt.

Des weiteren wollten wir auf Seite 13 in Frage Nr. 6 wissen, ob die Landesregierung Zwangsvorführungen für ein sinnvolles Instrument gegen Schulverweigerung hält. Auf diese Frage antwortete die Landesregierung wie folgt - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident, aus der Antwort Nr. 6 b -:

„Weitere Möglichkeiten, wie Zwangszuführungen, ergeben sich aus dem SOG LSA. Ermächtigungsgrundlage ist § 53 Abs. 1 SOG LSA. Zuständig sind die Landkreise und kreisfreien Städte. Das ergibt sich aus § 2 Nr. 4 ZustVO SOG i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 10 VollzBeaVO, § 53 Abs. 3 SOG LSA.“

Herr Minister Harms, hält die Landesregierung es nun für sinnvoll? Ich habe das nicht nachvollziehen können.

(Minister Herr Dr. Harms: Hätten Sie den nächs- ten Absatz gelesen!)

- Ich habe diesen Absatz gelesen. Vielleicht könnten Sie das trotzdem in Ihrer Rede noch einmal darlegen.

Auch war mir nicht bekannt, daß es im Kultusministerium ein juristisches Zentralreferat gibt. Es war jedoch für mich spannend zu erfahren, wer an der Beantwortung der Großen Anfrage mitwirkte.

Die Beantwortung der Großen Anfrage ist ein Konvolut. Inhaltlich ist sie erstaunlich dürftig ausgefallen. Es gibt keine Hinweise auf die Situation in den Berufsschulen. Es gibt keine Hinweise darauf, daß dort ein Fachkräftemangel herrscht, daß die Schülerinnen und Schüler oft mehr wissen als ihre Lehrerinnen und Lehrer, daß die Berufsschulen technisch nur unzureichend ausgestattet sind, daß viele Stunden ausfallen und daß Lehrerinnen und Lehrer an Berufsschulen auch nicht motiviert sind.

Ich möchte mich jetzt den Ursachen für Schulverweigerungen an Berufsschulen widmen. Wie die Landesregierung feststellt, ist die Schulverweigerung oder die Bummelei bei Jugendlichen in betrieblichen Ausbildungsverhältnissen seltener. Als Ursache werden härtere Sanktionen genannt, beispielsweise die Kündigung des Ausbildungsvertrages.

Daß Jugendliche aber auch gesellschaftlich in Berufe gedrängt werden, die sie eigentlich nicht ausüben wollen oder können, zeigt die hohe Zahl der Abbrüche von betrieblichen Ausbildungen. Die Quote beträgt im Land Sachsen-Anhalt 25,6 %.

Bei den außerbetrieblichen Ausbildungsverhältnissen sind erheblich mehr unentschuldigte Fehlzeiten zu verzeichnen. Dies verwundert nicht; denn die tendenzielle Diskriminierung der Jugendlichen, die sich in staatlichen Maßnahmen befinden, gegenüber den Jugendlichen in der regulären betrieblichen Ausbildung ist nicht nur materieller Art, sondern auch im gesellschaftlichen Konsens über die Werthaltigkeit ihrer Ausbildung spürbar.

In der Antwort auf die Große Anfrage werden unentschuldigte Fehlzeiten in der Schule oft mit Erziehungsdefiziten im Elternhaus begründet. Aber was ist mit den Verkehrsverbindungen oder mit hohen Fahrtkosten? Ich erinnere daran, daß die Jugendlichen, die im landeseigenen Programm „Kooperation Schule/Wirtschaft“ Schülerstatus haben, keine Ausbildungsvergütung be

kommen und ihnen im zweiten Lehrjahr auch die Fahrtkosten nicht erstattet werden.

Im Land Sachsen-Anhalt war allein bei diesem Programm im letzten Jahr eine Abbruchquote von 32,9 % zu verzeichnen. Fehlzeiten, meine sehr verehrten Damen und Herren der Landesregierung, haben vor allem etwas mit Perspektivlosigkeit junger Leute zu tun.

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Kehren wir an den Anfang meiner Rede zurück. Auf der einen Seite haben wir eine Vielzahl von Sonderprogrammen und Maßnahmen, die der Ausbildungskrise entgegenwirken sollen. Wir haben einen hohen finanziellen Aufwand. Auf der anderen Seite ist ein hoher Grad an Resignation, Demotivation und Abbrüchen der Ausbildung zu verzeichnen.

Ich frage Sie: Werden öffentliche Mittel vielleicht falsch gesteuert, und wer findet sich in diesem Maßnahmendschungel überhaupt noch zurecht? Herr Minister Harms, es gibt allein in diesem Land 27 unterschiedliche Programme, in denen Jugendliche ausgebildet werden. Kennen Sie die alle? - Ich nicht.

Was ist dem entgegenzusetzen? Ich könnte die Forderung nach einer solidarischen Umlagefinanzierung erörtern. Immerhin basiert dieser Gedanke auf Forderungen der SPD und des DGB. Da sich die Bundesregierung aber kürzlich offiziell davon verabschiedet hat, erspare ich Ihnen das heute.

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Verabschiedet hat sie sich, meine sehr verehrten Damen und Herren, mit einem Appell an die Wirtschaft.

Wir erwarten von der Landesregierung keine neuen Feuerwehrprogramme, sondern eine Strukturreform. Angesichts der Situation erwarten wir weitere Bemühungen in den Regionen. Ferner erwarten wir kooperative Förderungen, flächendeckende Jugendberatungsbüros und griffige Modellprojekte.

Wir fordern die Nachqualifizierung Jugendlicher und auch die stärkere Förderung der Jugendhilfebetriebe. Wir erwarten einen stärkeren Einsatz der Landesregierung auf Bundesebene, zum Beispiel im Forum Bildung. Wir fordern landesweite Offensiven gegen das Schuleschwänzen, da die Antwort Nr. 13, die ich vorlas, zeigte, daß dafür kaum Konzepte vorliegen.

Des weiteren erwarten wir eine Qualitätssicherung in der beruflichen Erstausbildung auch in neuen Berufen, damit Jugendliche den Wert einer Ausbildung wieder nachvollziehen können und so motiviert werden. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung von Herrn Metke, SPD, und von Herrn Steckel, SPD)

Danke sehr. - Für die Landesregierung erteile ich Minister Herrn Dr. Harms das Wort. Bitte, Herr Dr. Harms.

Danke, Herr Präsident. - Sehr geehrte Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Ferchland, die Landesregierung war von der Großen Anfrage weder überrascht, noch löste sie Erschrecken aus. Im Gegenteil, Sie stellen durchaus sinnvolle und interessante Fragen. Ich komme gleich noch auf Ihre Kritik zu sprechen.

Die Berufsausbildung hat für das Land Sachsen-Anhalt eine herausragende Bedeutung und einen hohen Stellenwert in der Landesverfassung, in der Regierungspolitik sowie im Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit. Diese Bedeutung wird durch die Aufmerksamkeit im Landtag sicherlich unterstrichen.

Allerdings wurde die Entwicklung in den zurückliegenden Jahren durch die stark steigenden und im wesentlichen den Schulentlassungszahlen folgenden Bewerberzahlen geprägt. Ich glaube, es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, daß die derzeitige Situation in der Tat - diesbezüglich liegen wir in der Einschätzung auseinander - nicht an einer erheblich geringeren Ausbildungsbereitschaft liegt, sondern an der relativ hohen Zahl derjenigen, die Ausbildung nachfragen. Die Ausbildungsquote im Land Sachsen-Anhalt liegt nicht unter der anderer Länder. Deshalb müssen wir uns bei unseren Maßnahmen darüber Gedanken machen, wie wir darauf reagieren können.

Wenn im Jahr 1993 25 800 Bewerberinnen und Bewerber und jetzt über 40 000 Bewerberinnen und Bewerber um eine Lehrstelle nachfragen, ist das in der Tat eine große Herausforderung.

Schon in den zurückliegenden Jahren wurde die staatliche Förderung stark ausgeweitet. Dies hat allerdings - deshalb sind die Fragen berechtigt - nicht zu einer Ausweitung des Angebots an betrieblichen Ausbildungsplätzen geführt. Es scheint so zu sein, daß die Steuerungsmöglichkeiten über Finanzierungsprogramme in der Tat an ihre Grenze stoßen.

Dennoch - ich sagte das - ist die Ausbildungsbereitschaft der Wirtschaft trotz des Defizits an betrieblichen Ausbildungsplätzen hoch einzuschätzen. Gemessen an der Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten liegt die Zahl der bereitgestellten Ausbildungsplätze hoch.

Bei einer formalen Betrachtung des Ausbildungsmarktes müssen wir für die nächsten Jahre von etwa 10 000 fehlenden Plätzen ausgehen, und diese Lücke muß mit außerbetrieblichen Ausbildungsangeboten geschlossen werden. Es ist eine Aufgabe des Landes, der Bundesanstalt für Arbeit, der Träger und auch der Wirtschaft, diesbezüglich gemeinsam im Bündnis zu Lösungen zu kommen.

Auch im Jahr 2000 wollen wir allen ausbildungswilligen Jugendlichen in Sachsen-Anhalt eine Ausbildungsmöglichkeit anbieten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Neben dem Anspruch, die Ausbildungslücke zahlenmäßig zu schließen, stehen wir allerdings vor qualitativen Fragen: Bilden wir in den richtigen Berufen aus, insbesondere in den Sonderprogrammen? Sind die Sonderprogramme am künftigen Arbeitsmarkt orientiert? Wie steht es um die Qualität der beruflichen Erstausbildung?

Einige dieser Fragen - insofern muß ich Ihre Unterstellung, wir würden uns um diese Fragen nicht bemühen, zurückweisen - haben wir gerade in einem Gutachten durch Herrn Professor Lutz untersuchen lassen, und wir diskutieren sie intensiv. In der zentralen Arbeitsgruppe beschäftigen wir uns auch sehr intensiv damit.

Wenn Sie allerdings bei der Antwort auf Frage 13 kritisieren, daß wir Ihnen die Rechtsgrundlagen unseres Handelns darlegen, entgegne ich: Verwaltung ist auch eine rechtsgebundene Angelegenheit, und ich glaube schon, daß es sinnvoll ist, die Rechtsgrundlagen einer

Frage wie Zwangszuführung, die in das Persönlichkeitsrecht eingreift, sehr deutlich darzulegen.

Aber - das haben Sie nicht zitiert - es geht in der Antwort auf Frage 6 im nächsten Absatz wie folgt weiter:

„Aus pädagogischer Betrachtung heraus müssen Ordnungsmaßnahmen auf ihre Sinnhaftigkeit im Rahmen eines pädagogischen Gesamtkonzepts befragt werden.“

Der weitere Absatz benennt dann einige Kriterien. Das ist wichtig, weil wir am Ende zu folgendem Schluß kommen:

„Aus dieser Logik heraus sollten harte restriktive Maßnahmen wie Zwangszuführungen gut zu begründende Ausnahmeregelungen bleiben.“

Das ist die letzte Notmaßnahme, und darüber sind wir uns, glaube ich, wieder einig.

Mit der Antwort auf die Große Anfrage liegen nun Antworten auf eine Reihe von Fragestellungen vor. Dazu möchte ich einige Anmerkungen machen.