Protokoll der Sitzung vom 26.01.2001

Glauben Sie, dass dies angesichts der Tatsache, dass die Rechte des Parlaments nicht in ausreichendem Umfang erweitert wurden, ein Erfolg ist?

Nächste Frage:

(Unruhe - Herr Tögel, SPD: Das ist schon die drit- te!)

Wie beurteilen Sie den Einstimmigkeitszwang und das Mehrheitsverfahren, das in Einzelfällen eingeführt worden ist, bei den wichtigen Fragen Asyl- und Außenpolitik?

Herr Gürth, ich würde mich freuen, wenn wir solche Aktivitäten auch einmal im Ausschuss hätten.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin aber dankbar, dass wir im Plenum kurz darüber diskutieren können.

Was die Frage nach dem Landtagtagsausschuss angeht, so habe ich vorhin gesagt, dass meiner Ansicht

nach das Bewusstsein in Sachen Europapolitik im Landtag noch nicht adäquat ausgebildet ist. Das betrifft - das gebe ich durchaus zu - auch meine eigene Fraktion. Bestimmte Gründe, die auch mit arithmetischen Dingen zusammenhingen, haben meine Fraktion bewogen, einen solchen Ausschuss nicht einzusetzen. Aber auch die SPD-Fraktion hat nicht die Mehrheit. Soweit ich mich erinnere, gab es dazu keine gegenteiligen Anträge oder Mehrheiten im Parlament. Ich bin mir da nicht ganz sicher; aber darüber können wir noch einmal diskutieren.

Was zweitens die Ziele der Bundesregierung angeht, die nicht erreicht worden sind, so sagen alle Kommentatoren - die deutschen wie die europäischen - übereinstimmend, dass Deutschland in Nizza eine wahre europäische Rolle gespielt hat. Das bedeutet natürlich auch, dass nicht alle nationalen Interessen durchsetzbar sind. Sie haben, wenn sie es verfolgt haben, gesehen, dass gerade Frankreich und Spanien in Nizza aus europäischer Sicht eine ungute Rolle gespielt haben; sie haben sehr auf nationale Interessen gesetzt, was auch etwas mit dem französischen Präsidentschaftswahlkampf zu tun hat.

Man kann, wenn man als einer von 15 Partnern zu einer Verhandlung geht, nicht erwarten, dass man alle seine Ziele erreicht. Sie kennen es aus Haushaltsberatungen und anderen Verhandlungen sicherlich auch: Man geht erst einmal mit Maximalforderungen hinein und freut sich anschließend über das, was erreicht worden ist. Dass wir nicht alles erreicht haben und dass auch ich in dieser Hinsicht Defizite sehe, habe ich, denke ich, deutlich genug gesagt.

Die Frage zum Europäischen Parlament war eine sehr spezielle Frage, ebenso wie die Frage zur Einstimmigkeit und zur Mehrheitsentscheidung bei der Asylpolitik. Daher sollten wir darüber im Ausschuss reden.

Gestatten Sie kurz folgenden Hinweis zum Europäischen Parlament: Die Deutschen haben jetzt einen besseren Schlüssel, was die Sitze im Europäischen Parlament betrifft, als es vorher der Fall war; denn sie haben ihre 99 Sitze beibehalten und alle anderen Mitgliedstaaten haben zukünftig weniger Sitze. Dass das Europäische Parlament dennoch mehr Sitze haben wird, ist durch die Beitrittsländer bedingt. Insofern sehe ich aus deutscher Sicht keinen gravierenden Nachteil; in diesem Fall ist es sogar positiv für uns gewesen.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Wenn Sie zur Tribüne schauen, werden Sie feststellen, dass wir wieder aufmerksame Zuhörer haben. Wir begrüßen eine erste Gruppe von Schülerinnen und Schülern des RaabeGymnasiums Magdeburg sowie Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Eilsleben.

Wir treten nun in die vereinbarte Zehnminutendebatte ein. Zunächst wird Ministerpräsident Dr. Höppner das Wort ergreifen. Bitte, Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich könnte es jetzt kurz machen und sagen: Die Landesregierung stimmt mit den im Antrag der SPD-Fraktion vorgenommenen Bewertungen von Nizza überein.

Aber Sie erlauben mir sicherlich, dass ich noch ein paar Bemerkungen zu dem gesamten Prozess mache. Denn

eines ist klar - Herr Gürth, Sie haben es mit Ihren Fragen dokumentiert -: Natürlich sind Wünsche offen geblieben. Das ist aber bei dem europäischen Prozess, den wir haben, immer der Fall gewesen. Es ist ein Prozess, der sich inzwischen seit Jahrzehnten Schritt für Schritt vollzieht.

Manch einer, der diesen Prozess beobachtet, fragt sich, wie das überhaupt funktionieren kann. Es sind keine fertigen Entwürfe von Europa vorhanden. Gleichwohl geht es Schritt für Schritt voran.

Ja, so ist dieser europäische Prozess. Es ist ein Wille dazu da, dass man zusammenkommt und zusammenarbeitet. Es ist ein Druck vorhanden - auch in der internationalen, sich zunehmend globalisierenden Welt -, dass Europa zusammenfinden muss. Angesichts dieser beiden Faktoren, der inneren Überzeugung und des äußeren Drucks, geht es Schritt für Schritt voran.

Man muss sagen, dass in Nizza auf diesem Wege wichtige Entscheidungen getroffen worden sind, was die Stimmengewichtung der Mitgliedstaaten angeht, was den Übergang von der Einstimmigkeit auf die Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat anbetrifft, was Größe und Zusammensetzung von Kommission und Parlament sowie weiteren europäischen Institutionen anbetrifft.

Nun hat sich in dieser europäischen Debatte ein Wort herausgebildet, das für diesen Prozess gewissermaßen prägend geworden ist. Das ist das Stichwort von den Left-overs, das heißt von Problemen, die man in diesem einen Schritt nicht gelöst hat und die nun weiter auf der Tagesordnung stehen. Auch bei den Punkten, die ich eben genannt habe und bei denen man in Nizza vorangekommen ist, gibt es vorläufige Entscheidungen, von denen man sagt, dass es nicht die endgültigen sein werden.

Ich weise nur darauf hin, dass die Diskussion darüber, welche Entscheidungen Mehrheitsentscheidungen sein sollen und welche der Einstimmigkeit unterliegen sollen, noch nicht zu Ende ist. Wir sind beispielsweise der Überzeugung, dass die Einstimmigkeit in Sachen der Haushaltspolitik der Europäischen Union - ich nenne jetzt konkret, damit wir uns das vorstellen können, etwa die Frage, wer wie viel Fördermittel bekommt - kein vernünftiges Prinzip ist. Sie können sich vorstellen, dass sich, wenn man im Landtag einen Haushalt machen würde, der dem Einstimmigkeitsprinzip unterläge, in diesem Land nicht viel bewegen würde. Das geht nicht. Daher muss daran sicherlich weiter gearbeitet werden.

Wenn man das vor Augen hat und sich fragt, warum immer noch relativ viele Tatbestände übrig bleiben, dann wird einem sofort klar, dass es bei diesen Fragen tatsächlich um das Grundverständnis der Machtbalance in Europa geht und dass die europäischen Staaten erst dabei sind, sich daran zu gewöhnen, dass es nicht ausreicht, in diesem Prozess nationale Interessen zu vertreten, sondern dass sich ein Gesamtverantwortungsgefühl für Europa unter allen Mitgliedstaaten ausbreiten muss.

Das ist erst in der Entwicklung begriffen. Diese Gesamtverantwortung ist - das merkt man an vielen Einzelpunkten, die diskutiert werden - nicht in allen europäischen Staaten hinreichend ausgeprägt.

Weder in der europäischen Öffentlichkeit noch bei den politischen Akteuren in den Mitgliedstaaten der EU herrscht vollständiges Einvernehmen über die Einzelheiten des Integrationsprozesses, der noch vor uns liegt. Dabei gibt es dann eben ein zähes Ringen um Kompro

misse. Da müssen verschiedene Interessen berücksichtigt werden.

Das geschieht alles nur unter einem gewissen Druck. Es gehört inzwischen schon zur Liturgie europäischer Konferenzen, dass die wesentlichen Entscheidungen erst in der letzten Nacht gefällt werden. Jeder versucht, seine Position so lange wie irgend möglich zu halten und möglichst viel für sein Land herauszuholen.

Unter dem Strich muss ich aber doch sagen, dass es Deutschland gelungen ist, einige wesentliche Dinge in Nizza tatsächlich festzuklopfen und durchzusetzen.

Es liegt im elementaren Interesse Deutschlands, beides im Blick zu haben, einerseits die Interessenvertretung Deutschlands, andererseits die Notwendigkeit, den europäischen Prozess voranzubringen. Wir Deutschen haben von der europäischen Erweiterung und von dem Ausbau der europäischen Zusammenarbeit in vielerlei Hinsicht die meisten Vorteile zu erwarten.

(Widerspruch bei der FDVP)

Es ist elementares deutsches Interesse, den europäischen Prozess voranzubringen. Das ist ganz eindeutig.

(Beifall bei der SPD)

Herr Ministerpräsident, der Abgeordnete Herr Gürth hat den Wunsch, eine Frage zu stellen.

Ich weiß, dass Sie viele Fragen stellen wollen. Wir haben das gerade ausprobiert. Lassen Sie mich einfach einmal ausreden. Ich beantworte anschließend gern Ihre Fragen.

Im Hinblick auf das Interesse, das wir als Deutsche haben, will ich daran erinnern, dass wir Deutschen im Jahr 1990 erfahren haben, was es für ein Gewinn ist, wenn die Ost-West-Konfrontation überwunden wird.

Zur Überwindung der Teilung Europas gehört die Integration unserer osteuropäischen Nachbarn unmittelbar dazu. Erst mit der Umsetzung dieses europäischen Erweiterungsprozesses - so würde ich einmal sagen; auch gerade als jemand, der im Jahr 1990 sehr engagiert gewesen ist - vollenden wir das, was im Jahr 1990 mit dem, was wir die Wende nennen, begonnen hat. Das kann man übrigens auch spüren, wenn man mit unseren osteuropäischen Nachbarn spricht, die auch von der Wende reden, und sie fragt: Was meint ihr denn mit dem Begriff „Wende“? - Wir in Deutschland wissen das; das ist die Herstellung der europäischen Einheit.

(Frau Wiechmann, FDVP: Deutsche Einheit!)

- Der deutschen Einheit.

(Lachen bei der FDVP)

Sie sagen dann: Die Tür zu Europa ist aufgegangen.

(Zuruf)

- Ich kann mich auch einmal versprechen. Das Lachen zeigt nur, dass Sie das Problem nicht verstanden haben.

(Beifall bei der SPD - Zuruf von Herrn Wolf, FDVP)

Wir haben ein elementares Interesse daran, dass die Osterweiterung der EU gelingt, und deshalb - das ist der

entscheidende Punkt in diesem Prozess - sind wir Deutschen elementar daran interessiert, dass der Vertrag ratifiziert wird.

Nun haben die deutschen Länder in diesem Prozess auf Nizza hin einige wichtige Forderungen gestellt. Eine Forderung war, dass das, was wir in Deutschland Daseinsvorsorge nennen, tatsächlich abgesichert ist. Ich habe Ihnen schon zu anderer Gelegenheit hier im Landtag gesagt, wie elementar wichtig ich es finde, dass nicht ein einseitiges Wettbewerbsverständnis, das sich in Europa zum Teil breit gemacht hatte, kulturelle Traditionen kaputtmacht.

Wir diskutieren das Thema Daseinsvorsorge derzeit noch an einem vergleichsweise einfachen Problem, nämlich der Zukunft der Landesbanken. In diesem Bereich ist die öffentliche Daseinsvorsorge eng verwoben mit den privatwirtschaftlichen Elementen des Bankgeschäfts.

Aber es gibt eben bei uns in Deutschland auch eine Reihe gewachsener Strukturen der Daseinsvorsorge - wenn ich zum Beispiel an den Bereich der öffentlichen Wohlfahrtspflege denke -, wo nicht nur einfach Wettbewerbsgesichtspunkte nach dem Motto „Macht es ein Privater besser?“ durchgesetzt werden können, sondern wo gefragt werden muss, wie wir unsere besonderen Traditionen in der Daseinsvorsorge - das sind nämlich kulturelle Traditionen - weiter durchsetzen können.

Das gilt beispielsweise für die öffentlich-rechtlichen Anstalten der Medien und auch für solche Einrichtungen wie Stadtwerke, die sich herausgebildet haben. Das alles sind Elemente, bei denen wir sorgfältig überprüfen müssen, ob nur europäische Wettbewerbsgesichtspunkte gelten dürfen oder die Unterschiedlichkeit, die Vielfalt der Kulturen und Traditionen in Europa erhalten bleiben sollte. Ich glaube übrigens, dass die Anerkennung dieser Vielfalt eine Voraussetzung für den Erfolg des gesamten europäischen Projektes ist.