Protokoll der Sitzung vom 26.01.2001

Bis zum Jahr 2004 wird Ostdeutschland eine Infrastrukturausstattung von etwa 70 % des westdeutschen Niveaus erreicht haben. Damit wird innerhalb von 15 Jahren nach der Herstellung der deutschen Einheit und ausgehend von einem Anfangswert von ca. 40 % im Jahre 1991 erst die Hälfte des Infrastrukturbedarfs befriedigt sein. Das ist ein durchaus nicht zu zerredender und ein bemerkenswerter Erfolg; es ist jedoch erst die Hälfte der Strecke.

Wir dürfen uns keine Illusionen machen, meine Damen und Herren: Die bisherigen arbeitsmarktpolitischen Instrumente des Bundes müssen zur Stützung und zur Entlastung des Arbeitsmarktes auf hohem Niveau fortgeführt werden.

(Zustimmung bei der CDU)

Warum klatscht an dieser Stelle niemand von der SPD? Meistens war das anders herum.

(Zuruf von Frau Bull, PDS)

Wir werden aber, meine Damen und Herren, dieses alles nur erreichen, wenn wir selber alle Anstrengungen unternehmen, um unser Land zu konsolidieren. So stellte Finanzminister Gerhards in der „Süddeutschen Zeitung“ am 23. Februar 2000 fest:

„Fest steht auch, dass sich die neuen Länder die Solidarität des Westens durch eine restriktive Haushaltspolitik in den nächsten Jahren weiter verdienen müssen.“

Abstrakt hat er Recht. Wir können aber nicht erwarten, meine Damen und Herren, dass die westdeutschen Länder und der Bund bereit sind, im Rahmen des Solidarpaktes eine Verschuldungsdifferenz von 3 500 bis 4 000 DM pro Kopf, die zum Beispiel Sachsen von Sachsen-Anhalt unterscheidet, länger hinzunehmen und auszugleichen. Da wird das Spiel für uns bald ein böses Ende haben.

Meine Damen und Herren! Die Regierungschefs der ostdeutschen Länder sind sich einig, dass sie wichtige Maßnahmen für die Zukunft als unverzichtbar erachten. Daraus will ich ruhig etwas zitieren:

„Fortführung des Ausgleichs in der bisherigen Dotierung und Struktur für mindestens zehn Jahre; Fortsetzung der gegenwärtigen Wirtschaftsförderung mit dem bisherigen Volumen für die ostdeutschen Länder.

Um den tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Umstrukturierungsprozess in den ostdeutschen Ländern auch nach dem Jahre 2004 nicht zu gefährden, sind die arbeitsmarktpolitischen Instrumente der Bundesanstalt für Arbeit auf hohem Niveau fortzusetzen.

Ausgleich der unterproportionalen kommunalen Steuerkraft der ostdeutschen Länder.“

Auch die Privatwirtschaft schätzt dieses ähnlich ein.

Meine Damen und Herren! Die Zitate übereinstimmender Erklärungen ostdeutscher Regierungschefs decken sich mit jenen der Wirtschaftsminister. So haben Sie, Herr Gabriel, erst am 11. Januar 2001, also nur vier Tage vor Ihrem „Spiegel“-Interview, auf der Konferenz der Wirtschaftsminister der ostdeutschen Länder in Erfurt eine Erklärung mitgetragen, die wie folgt beginnt:

„Die Wirtschaftsminister der neuen Bundesländer und der Wirtschaftssenator von Berlin bekräftigen die Forderung der ostdeutschen Regierungschefs vom 15. November 2000, den Solidarpakt über das Jahr 2004 hinaus zu verlängern und für den zukünftigen Aufbau in den neuen Ländern substanzielle Mittel bereitzustellen.“

Sie verweisen auf die Untersuchungen unabhängiger Forschungsinstitute, wonach im Infrastrukturbereich ein teilungsbedingter Nachholbedarf von ca. 300 Milliar- den DM besteht. Des Weiteren gehen sie von einem auch nach 2004 bestehenden Bedarf im Bereich der Wirtschaftsförderung in Höhe von ca. 100 Milliarden DM aus.

Im Berichtsteil heißt es einstimmig:

„Die noch bestehenden Defizite im Vergleich zu den westdeutschen Ländern, die anerkanntermaßen auch nach dem Auslaufen der zurzeit geltenden Solidarpaktregelungen nicht behoben sein werden, begründen eine Fortführung der Wirtschaftsförderung mindestens auf derzeitigem Niveau und eingebettet in dem bewährten Instrumentarium.“

Aber, meine Damen und Herren, ein wenig erfolgreicher Wirtschaftsminister eines kleinen Landes trägt all die von mir zitierten Beschlüsse mit, kokettiert aber gleichzeitig im „Spiegel“ vom 15. Januar 2001, also vier Tage später, damit, dass man das eigentlich alles ganz anders

sehen müsse. Was zählt denn eigentlich? Was gilt denn eigentlich?

Zum einvernehmlich festgestellten teilungsbedingten infrastrukturellen Nachholbedarf in Höhe von 300 Milliarden DM sagen Sie salopp - ich zitiere wörtlich -:

„Die Zahl ist vielleicht etwas zu hoch gegriffen, aber natürlich gibt es noch eine Infrastrukturlücke. Aber wenn die geschlossen ist, muss Schluss sein mit den Sonderkonditionen für den Osten.“

Nun, Herr Gabriel, ein Mensch kann nicht alles wissen, aber einiges sollte er doch ordentlich verstehen. Hier haben Sie, glaube ich, nichts verstanden.

(Beifall bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Die Ministerpräsidenten stellten am 15. November 2000 fest, außerhalb des Finanzausgleichssystems seien die Investitionshilfen usw. auf dem bisherigen Niveau fortzuführen. Herr Gabriel dazu:

„Die gesamte Ostförderung gehört auf den Prüfstand. Sie ist ein Auslaufmodell.“

Entweder der eine hört nicht mehr auf den anderen oder es ist ein - wie ich vermute - fein aufeinander abgestimmtes Rollenspiel. Die Art und Weise, wie Sie, Herr Höppner, damit umgehen und den Wirtschaftsminister wegen mangelhaften Betragens gerügt haben, erfolgte doch wahrscheinlich nur augenzwinkernd. Es gilt wahrscheinlich, demnächst Wahlen zu bestehen, und da könnte sich eine differenzierte Ansprache verschiedener Zielgruppen als ganz nützlich erweisen, denkt man sich vielleicht im Kabinett.

Herr Gabriel tritt lieber vor der IHK auf, Frau Kuppe und andere treten lieber vor den Arbeitslosenverbänden auf, und so wird jede Zielgruppe bedient, und alle denken, es würde im Parlament nicht gebündelt und zusammen gesehen.

Meine Damen und Herren! Ich denke, so dürfen wir im Parlament die Regierung nicht davonkommen lassen!

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDVP)

Was vielleicht noch viel verheerender ist: Herr Thomas de Maizière, der Verhandlungsführer der neuen Bundesländer bei den Solidarpaktverhandlungen, hat nicht übertrieben, als er den Erfolg monatelanger Kleinarbeit durch Herrn Gabriels Äußerungen gefährdet sah.

Das kann uns vielleicht noch einmal sehr viel schlimmer ankommen. Denn wie sollen erfolgreiche Verhandlungen im Hinblick auf einen Zeitraum von zehn Jahren geführt werden, wenn zu Beginn der Verhandlungen von einem Auslaufmodell gesprochen wird? Dann wird die gesamte Vorbereitung dieser Solidarpakt-II-Verhandlungen durch ein launiges Interview infrage gestellt, und das kann katastrophal nicht nur für Sachsen-Anhalt, sondern für alle neuen Bundesländer werden.

(Beifall bei der CDU und bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Man muss doch noch ein- mal ganz deutlich darauf zu sprechen kommen: Wenn die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisse in Sachsen-Anhalt zurückgegangen ist und wir seit 1994 in ununterbrochener Folge das Land mit der höchsten Arbeitslosenquote sind, dann war doch

Ihr Interview nicht das richtige Wort zur rechten Zeit. Mark Twain sagt das so:

„Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe wie zwischen dem Blitz und dem Glühwürmchen.“

(Heiterkeit bei der CDU)

Ich glaube, Herr Gabriel, Sie sollten einfach sagen, Sie haben sich da in einer launigen Art vergriffen, und Sie sollten sich für dieses Interview entschuldigen, weil es uns nichts nützt, außer auf einigen Stehbanketts; aber das könnte ein sehr kurzfristiger Erfolg sein, meine Damen und Herren.

Herr Gabriel, Sie haben Respekt vor Einzelschicksalen hervorgehoben, aber dieser Respekt vor Einzelschicksalen von Arbeitslosen entbindet Sie nicht, als Wirtschaftsminister dieses Landes verantwortlich über das Problem Arbeitslosigkeit in seiner Gänze zu sprechen.

(Beifall bei der CDU und bei der PDS)

Da ist es vollkommen verfehlt, einzelne Beispiele zur Charakterisierung dieses Phänomens heranzuziehen. Wie wir vorhin darüber gesprochen haben, was bei den Treuhandbetrieben teilweise schief gelaufen ist, so kennt jeder von uns, jeder Abgeordnete genügend Einzelschicksale von Leuten, die mit großen Hoffnungen in die Wende hineingegangen sind, die aber dummerweise so um die 50 waren und die danach nur gesagt bekamen: Wir freuen uns ja, dass Sie jetzt in der deutschen Einheit angekommen sind, aber wir haben leider keine Arbeit für Sie; Sie sind einfach zu alt, Sie haben einfach Pech.

Wer Menschen mit diesen Schicksalen - das sind nicht Einzelschicksale -, wer diese Menschen, die seit zehn Jahren zum Teil krampfhaft nach Arbeit suchen, die nicht herumhängen, mit dieser Charakterisierung belegt, Herr Gabriel, der hat einfach keine Sensibilität für das, was hier in diesem Lande abgeht.

(Beifall bei der CDU und bei der PDS)

So können wir mit den verschiedenen Gruppierungen in diesem Land nicht umgehen.

Ich will den Kollegen der Sozialdemokratie sagen: Wie sind Sie über uns hergefallen, als Herr Blüm gefordert hat, in den Arbeitsämtern solle die verschärfte Nachfrage gestellt werden, ob der Leistungsempfänger tatsächlich zur Arbeitsaufnahme bereit ist. Frau Kuppe sagte so schön: Sie bekämpfen die Arbeitslosen, nicht die Arbeitslosigkeit. - Diese verschärfte Nachfrage kann gestellt werden. Im Bund und im Land stellt die SPD die Regierung und die Instrumente sind alle vorhanden.

Wenn jetzt jemand meint, man müsse umsteuern, weil unser Sozialstaat angeblich keine Regelungsmechanismen für diejenigen hat, die sich hängen lassen und denen wir das nicht durchgehen lassen können, weil sie natürlich diejenigen ausnutzen, die tatsächlich ranklotzen, denn wenden Sie doch dieses Instrumentarium an. Wenn Sie meinen, man müsse umsteuern und neue Instrumentarien schaffen, dann sagen Sie das.

Aber eines möchte ich mir verbitten und das sage ich ganz deutlich: Ich nehme Ihnen diese „differenzierte“ diffamierende Zielgruppenansprache in Abhängigkeit davon, auf welcher Party man gerade ist, übel. Diese Doppelstrategie - das nehme ich mir persönlich vor - werde ich Ihnen nicht durchgehen lassen, dass Sie vor

Arbeitslosen und vor Wirtschaftsfachleuten unterschiedlich sprechen. Das lasse ich Ihnen nicht durchgehen!

(Beifall bei der CDU)

Kollege Scharf, Sie müssen zum Schluss kommen.

Nun, meine Damen und Herren, komme ich zum Schluss. Ich bin sehr darauf gespannt, ob sich die Landesregierung äußert oder ob sie es vielleicht nur die SPD-Fraktion ausputzen lässt, dass alles nicht so gemeint gewesen sei und man manches mal so und mal so sagen könne. Ich denke, hier stehen Grundentscheidungen darüber, wie wir das Land bewerten und wie wir das Land führen wollen, auf dem Spiel. Bei der PDS bin ich gespannt, ob sie wieder einmal springt und sehr kurz landen wird. - Danke.