Protokoll der Sitzung vom 18.05.2001

Mir ist deutlich geworden: Wir sollten uns einmal in völlig anderen Zusammenhängen mehr Zeit für unsere Diskussionen lassen und nicht bloß immer Tagesordnungen durchhecheln. Aber das ist ein anderes Problem.

Frau Hein, was Sie gesagt haben, war interessant. Sie haben das Ausmaß des Aufholprozesses beschrieben. Ich gebe Ihnen Recht. In zwei Punkte hätte ich mir früher die Entwicklung der letzten zehn Jahre auch nicht so vorgestellt, wie wir sie erlebt haben. Ich hätte nie gedacht, dass das Ausmaß des Aufholprozesses so groß wird, dass diese Entwicklung so schwierig sein wird und dass ein Aufholprozess in einer gesättigten Wirtschaft und unter den Bedingungen einer Globalisierung der Wirtschaft so schwierig sein könnte.

Aber bitte bedenken Sie auch, dass an allen Punkten, die Sie jetzt aufgeführt haben, an denen die Notwendigkeit eines Aufholprozesses besteht, vorher etwas ver

schlampt worden sein muss. Sonst bestünde die Notwendigkeit zu einem Aufholprozess nicht.

(Beifall bei der CDU - Frau Dr. Hein, PDS: Rich- tig!)

Wenn wir schon darüber sprechen, dann sollten wir auch über die Zeit vorher reden, in der alles das versäumt worden ist. Das können wir gern einmal machen. Aber dazu reicht meiner Ansicht nach die Zeit jetzt nicht.

Alle Punkte, die im SPD-Antrag stehen, unterstützen wir. Im bin absolut der Meinung: Die Vorteile des Wirtschaftsbereiches neue Bundesländer, nämlich niedrigere Löhne, werden zurzeit durch höhere Kosten im Bereich der Energieversorgung, der Verkehrswege, der mangelnden Infrastruktur usw. egalisiert. Wir müssen zuerst diese Probleme lösen, damit diese Kosten sinken und gleichzeitig dazu die Löhne auf das so genannte Westniveau angehoben werden können. Nur dann bekommen wir diese Entwicklung in den Griff.

(Beifall bei der CDU)

Ich bin der Meinung - dies steht ein wenig im Gegensatz zu dem, was Sie, Herr Kollege Fikentscher, gesagt haben -, eine Investitionspauschale ist kein rausgeschmissenes Geld. In jeder Gemeinde liegen genügend Aufträge, die sofort - schon morgen - ausgelöst werden könnten, wenn die Finanzierung möglich wäre. Wir sagen: Die Förderung eines Landes mit strukturierten Programmen hat Vorteile und ist, wenn man Zeit hat, sicherlich der richtigere Weg. Aber sie verhindert eine innovative Politik vor Ort - auch dort, wo über das Geld selbst entschieden werden kann, wird es nicht falsch oder schlecht ausgegeben oder verplempert - und sie dauert länger. Deswegen sagen wir: Außer der Programmpolitik, die nicht falsch, sondern vielmehr notwendig ist, sollte, um möglichst rasch einen wirtschaftlichen Effekt zu erreichen, auch eine Investitionspauschale als Mittel der Umsetzung möglich sein.

Ich will ausdrücklich noch einmal wiederholen - Herr Ministerpräsident, das ging bei Ihnen sehr durcheinander -: Die langfristige Politik mit dem Solidarpakt II ist das eine, ein kurzfristiges Zwischenprogramm ist das andere, wovon wir heute sprechen. Diese Dinge müssen wir auseinander halten. Ich habe das gesagt - ich denke, das ist von der SPD-Fraktion auch so aufgenommen worden-, damit wir erst einmal auf ein gleiches Entwicklungstempo kommen.

Nun zu einer gewissen Schwierigkeit beim Abstimmungsverhalten. Ich bin dabei ganz offen. Als ich heute früh im Auto hierher fuhr, hörte ich in den Nachrichten, dass die SPD-Fraktion einen Antrag zum Thema Sonderprogramm Ost in den Landtag einbringen wird. Ich dachte: Das hat geklappt. - Die Formulierungen sind relativ ähnlich; die Absicht ist sowieso die gleiche. In einigen Punkten ist Ihr Änderungsantrag etwas deutlicher. Die eigentliche Änderung bezieht sich auf die Autorenschaft, die am Ende zitiert werden soll. Das ist nun einmal so - ich gebe es zu -, weder Sie noch wir sind frei von Eitelkeiten. Das ist in diesem Geschäft so.

(Herr Bischoff, SPD, und Herr Metke, SPD, lachen)

Deswegen haben wir jetzt eine solche Lösung. Erwarten Sie bitte nicht von uns, dass wir unserem eigenen Antrag nicht zustimmen. Zuerst muss über Ihren Änderungsantrag abgestimmt werden. Dabei werden wir uns enthalten. Wir wissen, was am Ende für ein Ergebnis

steht. Dem Ergebnis werden wir sicherlich zustimmen, weil wir im Grunde genommen das Gleiche wollen.

Ich würde aber darum bitten, an dieser Stelle dem Antrag auf Ausschussüberweisung nicht zuzustimmen. Wir wollen jetzt ein Votum des Landtags.

(Frau Fischer, Naumburg, SPD: Richtig!)

Dass über all diese Probleme, die auch Sie genannt haben, bei uns weiterhin diskutiert werden sollte, steht für uns außer Frage. Wir haben aber durchaus Möglichkeiten, das zu tun. Jetzt soll es um ein Votum des Landtages von Sachsen-Anhalt gehen, damit diese Entwicklung auf den Weg gebracht wird. Das andere können wir in Zukunft leisten und auch dann, wenn wir diesen Antrag nicht in den Ausschuss überweisen. Deshalb empfehlen wir, die Ausschussüberweisung abzulehnen.

Zu unserem Abstimmungsverhalten haben wir die notwendige Erklärung abgegeben. Wir möchten, dass wir ein Zeichen dafür setzen, dass aktueller Handlungsbedarf für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland besteht. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD und von Ministerpräsident Herrn Dr. Höppner)

Herr Professor Böhmer, der Abgeordnete Herr Dr. Süß hat eine Frage. Sind Sie bereit zu antworten? - Bitte, Herr Dr. Süß.

Herr Professor Böhmer, Sie haben die Ausschussüberweisung abgelehnt. Ist der Verlauf der Diskussion nicht Ausdruck dafür, dass Redebedarf besteht? Wenn wir das beschließen, was jetzt sowohl in Ihrem Antrag als auch im Änderungsantrag steht, dann ist das relativ folgenlos.

Ich kann mir gut vorstellen, dass wir darüber im Ausschuss beraten - diese Beratung kann noch vor der heißen Phase des Wahlkampfes zum Abschluss kommen - und dort genau dieses Votum des Landtages zum Inhalt haben werden. Wir könnten und sollten in diese Beratung externen Sachverstand einbeziehen. Erinnern Sie sich daran, dass das IWH sagt, in Sachsen-Anhalt fehle ein Leitbild. Sind Sie nicht der Meinung, dass die Diskussion im Ausschuss in dieser Richtung eine Qualifizierung des gemeinsamen Willens des Landtages herbeiführen könnte?

Herr Abgeordneter Süß, was Sie sagen, ist sicherlich richtig. Wenn wir das alles tun, bekommen wir ein Votum des Landtages nach der Sommerpause. Das ist nun einmal so. Deswegen sage ich, wir sollten das jetzt beschließen. Wenn wir dafür ein Instrumentarium nach unserer Geschäftsordnung brauchen, dann werden wir das mit Sicherheit schon bei der nächsten Landtagssitzung liefern. Ich möchte diese Diskussion auch, die Sie wollen, aber ich möchte heute ein Votum dieses Hauses, weil das eine politische Aussage ist.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD - Zustim- mung von Herrn Mertens, FDVP)

Wir entscheiden doch nicht über die Politik in Gesamtdeutschland. Die übrigen Probleme sollten unter uns ausdiskutiert werden. Alle Fraktionen sind in der Lage,

sofort mit einem Antrag zu erreichen, dass diese Diskussion aufgemacht werden kann. Heute geht es um eine politische Aussage.

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Die Landesregierung hat sich zu Wort gemeldet. Bitte, Herr Ministerpräsident.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Professor Böhmer hat es im Grunde genommen eben gesagt und ich kann das nur unterstreichen. Für mich geht es darum, ob ich in den nächsten vier Wochen - da wird im Wesentlichen darüber geredet - die ausdrückliche Unterstützung des Landtages in der diskutierten Richtung habe. Wenn darüber jetzt nicht entschieden wird, dann bleibt das Problem offen. Das wäre eher ein zwiespältiges Signal. Deshalb bin ich außerordentlich dankbar für den Verfahrensvorschlag, den Sie gemacht haben.

Ich halte es trotzdem für sinnvoll - es steht mir zwar nicht zu, es den Ausschüssen in irgendeiner Weise vorzuschreiben -, wenn darüber auch in den Ausschüssen weiter diskutiert wird. Die Frage der Umsetzung im Einzelnen wird uns weiter beschäftigen, selbst wenn die Summen feststehen. - Schönen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Wir kommen zur Abstimmung. Es ist die Überweisung der Anträge in die Ausschüsse für Wirtschaft und für Finanzen beantragt worden. Wer sich diesem Antrag anschließt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Keine Enthaltungen, aber mehrheitlich Gegenstimmen. Damit ist der beantragten Ausschussüberweisung nicht entsprochen worden.

Wir stimmen jetzt über die Anträge selbst ab, und zwar zunächst über den Änderungsantrag in Drs. 3/4561. Wer diesem Änderungsantrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Gegenstimmen? - Eine. Enthaltungen? Bei einer Vielzahl von Enthaltungen ist dieser Änderungsantrag angenommen worden.

Wir stimmen jetzt über den ursprünglichen Antrag in Drs. 3/4491 in der so geänderten Fassung ab. Wer dem Antrag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. Gegenstimmen? - Enthaltungen? - Bei einer Reihe von Enthaltungen ist dieser Antrag angenommen worden. Damit ist der Tagesordnungspunkt 21 beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung

Berichterstattung über die Vorhaben zur Förderung der beruflichen Erstausbildung in Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 3/4489

(Unruhe)

- Ich bitte um etwas mehr Ruhe. - Einbringerin für die PDS-Fraktion ist die Abgeordnete Frau Ferchland. Es folgt dann eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion in der Reihenfolge CDU, DVU, SPD, FDVP und

PDS. Nach der Einbringung wird der Kultusminister das Wort ergreifen. Bitte, Frau Ferchland, bringen Sie Ihren Antrag ein.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über die berufliche Erstausbildung ist, glaube ich, zu wichtig, als dass sie im Gemurmel untergehen sollte. Ich bitte alle diejenigen, die das Thema nicht interessiert, den Saal zu verlassen, und alle diejenigen, die dieses Thema interessiert, zu bleiben.

Über die prekäre Situation auf dem Ausbildungsmarkt ist in diesem Haus mehrfach diskutiert worden. Es wurden Handlungskonzepte für Berufsschulen gefordert und sogar geschlechtsspezifisch wurde sich diesem Thema genähert. Es wurde über Programme diskutiert, die die angespannte Situation entschärfen sollen. Wir alle sehen und kennen die Problematik in diesem Bereich. Wir kennen die Zahlen und deren Auswirkungen.

Wir wissen, dass die Berufsbildungspolitik im Osten nicht mit der in den westlichen Bundesländern zu vergleichen ist. Die Ursachen dafür sind bekannt. Wir benennen als Ursache die Frühverrentungsaktion der ehemaligen Bundesregierung in den Jahren von 1990 bis 1992, als über 90 % der vor 1938 Geborenen frühverrentet wurden, und die anschließende Heraufsetzung des Rentenalters auf 65 Jahre. Das hinterlässt Folgen, nämlich dass in den nächsten zehn Jahren nur Wenige aus altersbedingten Gründen ausscheiden werden und somit kein nennenswerter Ersatzbedarf der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes vorhanden ist.

Hinzu kommt die wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern. Dazu ist unter den letzten beiden Tagesordnungspunkten eine Menge gesagt worden. Das brauche ich nicht zu wiederholen. Ein weiterer Grund ist, dass seit Mitte der 90er-Jahre die geburtenstarken Jahrgänge die Schule verlassen und somit nach Ausbildung verlangen. Die Situation wird noch mehrere Jahre andauern.

Schon heute verweisen Experten darauf, dass sich diese Situation in den nächsten zehn bis 15 Jahren völlig verändern wird. Dann entwickelt sich das Verhältnis genau umgekehrt, das heißt, es werden mehr aus dem Erwerbsleben ausscheiden, als Heranwachsende das Schulsystem verlassen werden.

Vor diesem Hintergrund hat sich die Landesregierung sehr engagiert und mit enormen, vor allen Dingen finanziellen Anstrengungen versucht, Ausbildungsplätze zu schaffen und Jugendlichen eine Ausbildung zu finanzieren. Das geschah mit dem Ergebnis, dass das Land Sachsen-Anhalt an der Spitze der ostdeutschen Länder steht, was die Förderkonditionen und den Förderaufwand betrifft.

Diese Anstrengungen, die politisch gewollt sind, haben jedoch einen hohen Preis. Es entstehen unerwünschte Folgewirkungen. Die Folgewirkungen sind die Herausbildung von regelrechten Verhaltensmustern bei einigen Unternehmen, für die eine staatliche Förderung beruflicher Erstausbildung nicht mehr nur die Chance von Mitnahmeeffekten, sondern in erheblichem Umfang eine Gelegenheit zur regulären Einnahmeerzielung darstellt. Das bewirkt, dass die staatliche Politik in eine Förderfalle gerät und zu einer engen Berufsstruktur der Auszubildenden führt, die im offenen Widerspruch zu den langfristigen Interessen der Jugendlichen und der Wirtschaft dieses Landes steht.

Es versteht sich von selbst, dass sich Berufsbildungspolitik nicht mit der Bewältigung der aktuellen, kurzfristigen Problemlagen begnügen darf, sondern in den kommenden Jahren zunehmend die langfristigen Herausforderungen in den Blick nehmen muss. Wir denken, gerade deshalb hat die Landesregierung ein Gutachten in Auftrag gegeben, das genau diese Vorhaben zur Förderung beruflicher Erstausbildung evaluieren sollte. Es ist ein Gutachten entstanden, das in der Fachöffentlichkeit des Landes und über das Land hinaus sehr große Diskussionen entfachte.

Ich kann in der Kürze der Zeit nicht alle Diskussionsteilnehmer und -teilnehmerinnen und alle Veranstaltungen dazu benennen, aber eine uns wichtige Diskussion skizzieren.

Diskutiert wurde, ob die Berufsbildungspolitik an der Gesamtzahl der jungen Menschen zu orientieren ist, also auch an denjenigen, die sich resigniert zurückziehen, abtauchen, für sich von der Schule, der Arbeitsverwaltung und der Jugendhilfe nichts mehr erwarten und daher als Altnachfrager nicht mehr in Erscheinung treten.

Diskutiert wurde, ob Berufsbildungspolitik auch für Migrantinnen Vorsorge zu treffen hat, die als Flüchtlinge ohnehin einen unterschiedlichen Aufenthaltsstatuts haben.