Protokoll der Sitzung vom 29.06.2001

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 60. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir setzen nunmehr die 32. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit dem Tagesordnungspunkt 1 a und b. Es war vorgesehen, danach den Tagesordnungspunkt 23 zu behandeln. Allerdings hatte der Kultusminister eine Autopanne und ist noch unterwegs. Es könnte sein, dass wir den Punkt 23 so lange zurückstellen, bis der Minister anwesend ist.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Debatte

Dazu liegen zwei Themen vor. Gemäß der Geschäftsordnung beträgt die Redezeit in der Aktuellen Debatte fünf Minuten je Fraktion und Thema. Die Landesregierung hat eine Redezeit von zehn Minuten.

Ich rufe das erste Thema auf:

Regionalisierte Bevölkerungsprognose für SachsenAnhalt

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 3/4688

Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: SPD, CDU, FDVP, PDS, DVU.

Zunächst hat für die Antragstellerin Herr Dr. Fikentscher das Wort. Danach wird Herr Minister Dr. Heyer das Wort ergreifen. Bitte, Herr Dr. Fikentscher.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Kürzlich, bei der Verabschiedung in einer Berufsschule, trat ein Lehrer an mich heran und sagte: Tun Sie etwas, damit wir uns alle nicht bald in einem Altenheim wiederfinden. Die zuvor veröffentlichte regionalisierte Bevölkerungsprognose für Sachsen-Anhalt verbunden mit Erfahrungen im persönlichen und beruflichen Umfeld hatten ihn zu dieser drastischen, man könnte auch sagen: dramatisierenden Äußerung veranlasst. Sie drückt Angst aus und ist offenbar kein Einzelfall.

Angst und Dramatik sind jedoch keine guten Ratgeber. Aber Verharmlosung ist es auch nicht. Deswegen stellen wir das Thema im Landtag zur Debatte und wollen es sachlich und nüchtern behandeln.

Die Bevölkerungsentwicklung ist wahrscheinlich das langfristig bedeutendste Thema für unser Land. Das Thema ist nicht neu, aber wert, stets aktuell gehalten zu werden. Es hat Beziehungen zu sehr vielen Beschlüssen des Landtages. Man kann ohne viel Übertreibung sagen, dass alle Entscheidungen - ähnlich wie bei Gleichstellungsfragen - unter Berücksichtigung der Bevölkerungsentwicklung getroffen werden sollten.

Wie ist die Lage? Die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt nimmt ab und wird im Durchschnitt immer älter. Das hat eine begrüßenswerte Ursache, weil nämlich viele Menschen länger leben. Das hat aber auch eine beklagenswerte Seite, weil seit über einem Jahrzehnt die Geburtenzahlen kaum halb so groß sind wie die Sterberaten.

Außerdem gibt es Abwanderung. Anfang der 90er-Jahre nahm sie dramatische Ausmaße an. Mitte der 90erJahre wurde sie durch etwa gleich hohe Zuwanderungsraten ausgeglichen. Danach entstand wieder ein so genannter Negativsaldo. Unsere Städte haben ein weiteres Problem durch die Abwanderung ins Umland.

Die Statistiken sind Ihnen bekannt. Was nicht allgemein bekannt sein dürfte, ist die Tatsache, dass das Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt bereits in den Jahrzehnten zuvor einen bemerkenswerten Bevölkerungsrückgang erlebte.

Im Jahr 1946 lebten hier 4,1 Millionen Menschen. Im Jahr 1960 waren es nur noch 3,3 Millionen Menschen und bei der Wiedergründung Sachsen-Anhalts im Jahr 1990 waren es 2,9 Millionen. Die Bevölkerungszahl sank bis zum Jahr 1999 auf 2,6 Millionen, wird bis zum Jahr 2010 auf 2,4 Millionen und bis zum Jahr 2015 auf 2,3 Millionen Menschen weiter absinken.

Natürlich kann man auch in einem dünner besiedelten Land gut leben ebenso wie in kleineren Städten. Es gibt dafür keine Grenzwerte. Doch die Infrastruktur muss dazu passen und genau an dieser Stelle entsteht unser eigentliches Problem.

Dabei ist die Schrumpfung allein noch nicht einmal das Hauptproblem, sondern die Gestalt des so genannten Lebensbaumes. Die niedrigen Geburtenzahlen, die sich nur langsam den westlichen Verhältnissen angleichen, also auch dauerhaft so niedrig bleiben werden, verursachen die bekannten Folgen, sobald die zahlenmäßig schwachen Jahrgänge die entsprechenden Einrichtungen erreichen. Das sind in erster Linie Krippen und Kindergärten, dann Grund- und Realschulen, später Hochschulen und eines Tages die Altenheime.

Was können wir tun? Es handelt sich um langfristige Prozesse von großer Trägheit, die nach Ansicht von Wissenschaftlern, die sich darin einig sind, auf Jahrzehnte hinaus kaum umgelenkt werden können. Wer also sagt: „Ihr Politiker, tut doch etwas, damit dieser Prozess aufhört oder gar umgekehrt wird!“, überschätzt unsere Möglichkeiten.

Dennoch gilt es zu reagieren. Statistiken und Prognosen sind ein wertvoller Hinweis nicht nur zum Verständnis, sie sind auch Grundlage für langfristige Entscheidungen. Städte und Gemeinden, Regierung und Landtag haben eine Vielzahl solcher Entscheidungen bereits getroffen und bereiten weitere vor. In einem solchen Prozess kann man aber nie genug tun, darf man nie die Hände in den Schoß legen. Die Reaktionen der Landespolitik und die Maßnahmen der Landesregierung brauche ich im Einzelnen nicht darzulegen, weil dies die Regierung anschließend selbst tun wird.

Ich erinnere nur daran, dass wir einen schwierigen Prozess im Bereich der Kindergärten und Grundschulen bereits hinter uns haben. Die Schulentwicklungsplanung wurde trotz aller damit verbundenen Schmerzen in den Kreisen umgesetzt. Das war eine Aufgabe, der sich zunächst viele entziehen wollten, wie ich sehr wohl aus vielen Einzelgesprächen weiß.

Wir sind ein kinder- und familienfreundliches Land. Wir haben das Ausbauziel unserer Hochschulen von 44 000 auf 33 000 flächenbezogene Studienplätze reduziert auch das gegen Proteste. Der Personalabbau im öffentlichen Dienst, die Verwaltungs- und Gebietsreform sind Planungen, die auch in Bezug auf die Bevölkerungsentwicklung zu sehen sind.

Folglich, meine Damen und Herren, befinden wir uns in einem ernsthaften Prozess, der vieler Überlegungen und Planungen bedarf. Es gibt aber keine Veranlassung, jene alte DDR-Floskel wieder aufleben zu lassen, dass der Letzte bitte das Licht ausschalten möge. Die NettoAbwanderung ist weitaus weniger dramatisch, als es manchem erscheint. Sie ist auch nicht unumkehrbar. Folglich sollten wir nicht in Pessimismus verfallen, sondern tätig bleiben und auch in dieser Frage einen Schuss Optimismus behalten. - Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Frau Dr. Sitte, PDS, und von der Regierungsbank)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Wir haben wieder aufmerksame Zuhörer. Wir begrüßen ganz herzlich Damen und Herren des Handwerkerbildungszentrums Aschersleben.

(Beifall im ganzen Hause)

Nunmehr erteile ich dem Minister Herrn Dr. Heyer für die Landesregierung das Wort. Bitte, Herr Dr. Heyer.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bitte um Nachsicht dafür, dass Sie sich heute mit mir zufrieden geben müssen, weil ich den Kollegen Keller vertrete. Ich versuche aber mein Bestes.

(Heiterkeit bei der SPD, bei der CDU und bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Nach dem Landesplanungsgesetz hat die oberste Landesplanungsbehörde die prognostischen Grundlagen für die Landesentwicklung zu erarbeiten. Dazu gehören insbesondere Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung. Das Raumordnungsministerium hat nun gemeinsam mit dem Statistischen Landesamt die regionalisierte Bevölkerungsprognose erarbeitet und vorgelegt.

Wie wird sich die Bevölkerung Sachsen-Anhalts zukünftig entwickeln? Einige Zahlen hat der Kollege Fikentscher schon genannt. Es ist vor allem in den neuen Bundesländern schwierig, gesicherte langfristige Vorhersagen zu treffen; denn die bei uns bestehende Datenlage beruht auf einer historischen Ausnahmesituation, sodass für die jetzt vorliegende Prognose nur die Daten aus den Jahren 1997 bis 1999 als tragfähige Grundlage herangezogen wurden.

Im Ergebnis kommt man in der Prognose zu folgenden Annahmen: Die Geburten in Sachsen-Anhalt werden sich bis zum Jahr 2009 um 20 % erhöhen, und zwar - ich nenne die genauen Zahlen - von gegenwärtig 1 194 auf 1 435 Kinder je 1 000 Frauen. Sie sehen, die Statistiker sind dabei offenbar sehr genau zur Sache gegangen. Ich bewundere immer, wie man dabei zu so genauen Zahlen kommen kann.

Das ist in etwa das langjährige Niveau der alten Bundesländer. Die durchschnittliche Lebenserwartung der

Sachsen-Anhalter wird bis 2015 deutlich zunehmen, und zwar für neugeborene Jungen um 4,3 Jahre auf 76,8 Jahre und für neugeborene Mädchen um 3,4 Jahre auf 82,8 Jahre.

Die Wanderungen, insbesondere die Außenwanderung, werden zunächst anhalten und sich dann abschwächen, bei optimistischer Prognose sogar in Wanderungsgewinne umwandeln.

Wanderungen sind besonders schwer prognostizierbar. Die Bevölkerungsprognose stellt zwei Berechnungsvarianten vor. Die optimistische Variante beruht maßgeblich auf Schätzungen des Bundesministeriums des Innern und des Statistischen Bundesamtes. Sie geht von einer erhöhten Zuwanderung aus dem Ausland aus. Ab dem Jahr 2007 wird für Sachsen-Anhalt ein Wanderungsgewinn von ca. 1 000 Personen jährlich angenommen, der sich auf 7 000 Personen im Jahre 2015 erhöhen wird.

Die Landesregierung hält diese Variante nicht für die wahrscheinliche. Grundlage der Planungen der Landesregierung ist vielmehr die realistische Annahme, dass sich die negative Entwicklung des Wanderungsgeschehens auf Landesebene in den ersten Prognosejahren zunächst fortsetzt und dann langsam und ab Mitte des Jahrzehnts beschleunigt zurückgeht. Bis zum Jahr 2010 kann sich ein ausgeglichenes Wanderungsverhalten einstellen.

Für die Stadt-Umland-Wanderungen wird davon ausgegangen, dass sich die dramatische Entwicklung der 90er-Jahre weiter beruhigt und ab dem Jahr 2004 ein ausgeglichener Wanderungssaldo der drei kreisfreien Städte mit ihrem Umland besteht.

Liebe Kollegen und Kollegen! Wir haben es bei der Bevölkerungsentwicklung mit einem Thema zu tun, das ganz Deutschland betrifft. Aufgrund des außergewöhnlichen Geburtenrückgangs sind aber die neuen Bundesländer, also wir hier in Ostdeutschland, besonders betroffen.

Was bedeutet das konkret für unser Land? Nach der Prognose wird Sachsen-Anhalt bis zum Jahre 2015 fast 13 % seiner Einwohner verlieren. Das heißt, die Bevölkerung wird um über 340 000 Personen abnehmen. Hauptursache der zukünftigen negativen Entwicklung ist das anhaltende Geburtendefizit, also die Differenz aus Geburtenzahl und Sterbefällen.

Trotz des angenommenen Geburtenanstiegs auf das westdeutsche Niveau wird sich Zahl der Kinder und Jugendlichen bis zum Jahre 2015 um fast ein Drittel verringern.

Gleichzeitig wird die Zahl der Älteren ansteigen. Ursache für diese Entwicklung sind die geburtenstarken Jahrgänge 1934 bis 1941, die in diesen Jahren das Rentenalter erreichen, sowie die zunehmende Lebenserwartung. Die Zahl der 80-Jährigen steigt beispielsweise bis zum Jahr 2015 um etwa 40 %.

Auch nach der optimistischen Variante wird SachsenAnhalt wegen des anhaltenden Geburtendefizits bis zum Jahr 2015 8,7 % seiner Einwohner verlieren.

Meine Damen und Herren! Unabhängig davon, ob die Prognosen optimistisch oder pessimistisch sind, kommen beide Prognosevarianten zu dem Ergebnis, dass sich die Bevölkerungsentwicklung der vergangenen Jahre zunächst fortsetzt. Der prozentuale Anteil der älteren Generation an der Gesamtbevölkerung wird steigen.

Welche Schlussfolgerungen sind daraus zu ziehen? Natürlich muss die Politik der Landesregierung auf die Prognose nicht nur reagieren, sondern sie muss sie auch einbeziehen. Es gibt keinen Grund, etwas zu verharmlosen. Wir haben im Landeskabinett am 12. Juni 2001 sogar die pessimistische oder, wie man sagen kann, die realistischere Prognose zur Planungsgrundlage für die Landesbehörden bestimmt.

Aber natürlich ist diese Prognose nicht überraschend gekommen. Die Landesregierung hat sich seit langer Zeit in den unterschiedlichen Politikfeldern auf diese Situation eingestellt.

Meine Damen und Herren! Ich nenne die Planungen für Horte und Kindergärten. Das alles sind Themen, die uns hier zum Teil sehr aufwendig und kontrovers beschäftigt haben. Ich nenne die Schulentwicklungsplanung, ich nenne die Anpassung der Zielzahlen für die Hochschulen, ich nenne die Krankenhausplanungen und ich nenne als Gebiet aus meinem eigenen Zuständigkeitsbereich die Wohnungs- und Städtebaupolitik der letzten Jahre, in der wir auf diese Entwicklung schon reagiert haben. Ich nenne aktuell das Stadtumbauprogramm, das wir jetzt gemeinsam mit der Bundesregierung und den anderen ostdeutschen Bundesländern eingeleitet haben.

Ziel muss es sein, nicht nur Fragen zu stellen, sondern Antworten zu finden. Dies heißt, wenn ich das ganz allgemein sagen darf: Wir müssen das Land SachsenAnhalt weiter attraktiv machen. Möglicherweise werden von der Opposition jetzt ein paar kritische Bemerkungen kommen. Das würde mich nicht verwundern, denn das ist auch die Aufgabe der Opposition.

Aber wenn wir einmal die Entwicklung unseres Landes beobachten, dann können wir feststellen - ich selber habe das seit 1994 beobachtet -, welche ungeheure positive Entwicklung unsere Städte, unsere Dörfer und unsere Infrastruktur, ob Straße oder Schiene, ob Krankenhäuser oder Schulen, schon genommen haben. Ich glaube, immer dann, wenn wir Kritik üben, meine Damen und Herren, müssen wir uns in Erinnerung rufen, wie es vor Ort noch vor ein paar Jahren ausgesehen hat. Das zeigt mir, dass wir auf dem eingeschlagenen Weg weitergehen müssen und dass wir den richtigen Weg genommen haben. Ich glaube, das können wir jederzeit vor Ort überprüfen.