Protokoll der Sitzung vom 15.11.2001

Wenn aber Demoskopen nach den politischen Prioritäten fragen, landet die Familienpolitik in der Regel irgendwo nach Platz zehn. Warnfried Dettling schreibt in seinem Buch „Wirtschaftskummerland“ - ich zitiere, Frau Präsidentin -:

„Wo immer sie gefragt werden, verbinden junge Menschen mit einem erfüllten Leben auch Treue und Partnerschaft, Kinder und Familie. Aber sie wollen deshalb auf eigenes Leben nicht verzichten. Sie wollen nicht auf bestimmte Rollen festgelegt werden und sich andere Perspektiven von Anfang an verbauen.“

Dies wird regelmäßig durch Umfragen bestätigt und Gleiches lässt sich der vorliegenden Studie zur Situation von Familien in Sachsen-Anhalt entnehmen.

Die Realität zeigt, dass zwischen Wunsch und Wirklichkeit eine Diskrepanz besteht. Dies wiederum macht deutlich, dass die heutigen Rahmenbedingungen der Situation der Familie nicht mehr gerecht werden. Kinder stellen heute häufig ein Armutsrisiko dar. Das Pro-KopfEinkommen eines Ehepaares mit zwei Kindern liegt bei 1 022 DM im Monat und ist damit nicht halb so hoch wie das Pro-Kopf-Einkommen eines Ehepaares ohne Kinder mit 2 360 DM im Monat.

Kind und Karriere schließen sich in der Praxis oft aus. Fast die Hälfte der akademisch ausgebildeten Frauen bleibt kinderlos. Im Jahr 1962 wurden in Deutschland noch rund 1,2 Millionen Kinder geboren, 1999 waren es nur noch 777 000. Wenn man diesen Vergleich für Sachsen-Anhalt zieht, fällt das Ergebnis noch wesentlich schlechter aus. Wenn in den 60er-Jahren noch 10 % der Paare lebenslang kinderlos blieben, sind es heute fast 40 %.

Trotz aller Anstrengungen ist die traditionelle Familienpolitik nicht in der Lage, die Situation der Familien zu verbessern. Familienpolitik darf weder auf Sozialpolitik noch auf finanzielle Leistungen reduziert werden, sondern muss als Ganzes betrachtet werden. Familienpolitik ist eine Querschnittsaufgabe und ist neben der Sozialpolitik auch Bildungspolitik, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik, Kommunalpolitik, familienfreundliche Gestaltung des Wohnumfelds, Verkehrspolitik usw. Eine nachhaltige Politik für Familien muss familiäre Belange auch bei der Steuer- und der Vermögenspolitik, bei der Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik sowie bei der Alterssicherung berücksichtigen.

Die Landesregierung muss sich daher zukünftig verstärkt dafür einsetzen, dass bei Maßnahmen auf kommunaler, Landes- und Bundesebene die gegenwärtigen und künftigen Auswirkungen auf Familien sach- und institutionsübergreifend geprüft werden und dass eine nachhaltige Verbesserung für Familien eintritt. Deshalb fordern wir die Landesregierung auf, zukünftig bei Gesetzesvorhaben und Verordnungen der Landesregierung deren Auswirkungen auf Familien im Vorfeld zu prüfen.

Die Landesregierung hat uns den Ergebnisbericht zur Studie zur Situation von Familien und Kindern in Sachsen-Anhalt vorgelegt. Nun erwarten wir, dass die Erkenntnisse dieser Studie sich in einer konkreten Politik niederschlagen. Die Studie ist bestens dafür geeignet, die faire Politik für Familien der CDU zu unterstützen, die einen neuen Rahmen für Familienpolitik setzt.

(Zustimmung von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Die Schlüsselfrage aller zukünftigen Maßnahmen bleibt aber die Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Damit kein Kind mehr auf Sozialhilfe angewiesen ist, muss ein fairer finanzieller Ausgleich für Familien in Form eines Familiengeldes eingeführt werden, das einkommensunabhängig, steuer- und sozialabgabenfrei gezahlt wird und sicherstellt, dass niemand mehr auf Sozialhilfe angewiesen ist, nur weil er Kinder hat. Das ist der Preis, den wir für den Fortbestand dieser Gesellschaft zahlen müssen.

Die Studie über Familien in Sachsen-Anhalt unterstreicht, dass die Schaffung von besseren Rahmenbedingungen für Familien mit Kindern dringend geboten ist. Deshalb bitte ich Sie, unseren Antrag zu unterstützen. Ich meine, wir werden im Ausschuss rege darüber diskutieren. Vielen Dank.

(Zustimmung bei der CDU)

Für die PDS-Fraktion spricht jetzt die Abgeordnete Frau Bull.

Meine Damen und Herren! Ich möchte nur ganz wenige Bemerkungen dazu machen.

Erstens - das wird Sie nicht verwundern -: Der Antrag der FDVP ist für uns selbstverständlich nicht zustimmungsfähig. Die Begründung dafür ist heute schon mehrfach gesagt worden. Sie liegt in Ihrem politischideologischen Hintergrund, und der ist für uns grundsätzlich genug, um zu sagen: Ich kann mich zu Ihren Anträgen nicht verhalten wie zu einem Warenhauskatalog und sagen: Das ist brauchbar und das ist nicht

brauchbar. Den Antrag mag ich nicht herauslösen aus Ihrem politischen Kontext.

Zweitens. Ihnen liegt der Alternativantrag der CDU-Fraktion vor. Dazu auch einige wenige Bemerkungen. Familienpolitik ist durchaus ein überaus wichtiger und auch kontroverser Bereich auf der politischen Bühne. Ich würde auch ganz gern in der Sache streiten, beispielsweise über die Frage des Familienbegriffs.

Dabei meine ich gar nicht einmal so sehr, was überhaupt „Familie“ umfasst, welche Personen das sind, sondern ich möchte auch einmal streiten über das Spannungsfeld von Subsidiaritätsprinzip auf der einen Seite, also die Familie zu sehen als letztes Glied in der Verantwortung, und von der Gefahr auf der anderen Seite, die damit verbunden ist, einer Lastenabwälzung auf die Familie sowohl in materieller als auch in ideeller Hinsicht. Dabei möchte ich nur die beiden Stichworte „Gewalt“ und „Missbrauch“ nennen.

Ich möchte auch ganz gern einmal darüber diskutieren, ob es nun nach Jahrzehnten immer noch notwendig ist, Frauenpolitik unter der Überschrift der Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu behandeln. Ich meine, es wäre origineller gewesen, wenn Sie hier einmal eine Art männerpolitischen Antrag vorgelegt hätten. Gut, ich will die Mehrheitsverhältnisse in Ihrer Fraktion berücksichtigen und Ihnen das nachsehen.

Der letzte Punkt ist die Frage nach der materiellen Unterstützung, die ja auch Bestandteil Ihres Antrages ist. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir in der vergangenen Legislaturperiode schon einmal über einen Antrag der CDU-Fraktion diskutiert, der die Einmalzahlung eines Betrages bei der Geburt eines Kindes zum Gegenstand hatte.

Meine Damen und Herren! Ich möchte die Frage der materiellen Substanz hier keinesfalls kleinreden, ich will aber auch deutlich sagen: 1 000 DM haben oder nicht haben - ich kenne gar nicht mehr den Betrag, den Sie damals gefordert haben - beeinflusst hierzulande doch wohl nicht in einem ernst zu nehmenden Maße den Kinderwunsch. Das muss man auch einmal nüchtern zu Kenntnis nehmen. Die großen Quantensprünge auf diesem Gebiet sind eben nur auf der Bundesebene machbar.

Für die Vereinbarkeit von Elternschaft und beruflicher Entwicklung - ich sage bewusst „Elternschaft“; es geht nicht nur um die Frauen, sondern auch um die Männer ist die Kernfrage aus meiner Sicht tatsächlich das Netz der Kindertagesstätten. Da in den letzten Wochen und Monaten immer vom Image des Landes Sachsen-Anhalt die Rede war, sollten wir den Mut haben zu sagen, unser Netz an Kindertagesstätten - die Basis dafür ist das Kindertagesstättengesetz - ist durchaus auch nach der Novellierung des Gesetzes für das Land Sachsen-Anhalt auf der Habenseite zu buchen. Das sollten wir deutlich sagen.

(Zustimmung bei der PDS und bei der SPD)

Ich wiederhole es: Die Familienpolitik ist eine ganz wichtige Säule für die Gesellschaftspolitik. Ich muss Ihnen ehrlich sagen, ich verstehe die CDU-Fraktion nicht. Wenn es Ihnen so wichtig ist, verstehe ich nicht, weshalb Sie sich immer wieder in das Fahrwasser - ich sage es lax - der braunen Soße begeben müssen.

(Frau Wiechmann, FDVP: Besser als Ihre Blut- spur!)

Insofern ist Ihr Antrag für uns nicht zustimmungsfähig, auch nicht überweisungsfähig. Ich empfehle für meine Fraktion, dass wir uns dem Vorschlag der Ministerin anschließen und im Rahmen der Selbstbefassung über den vorgelegten Familienbericht diskutieren

(Herr Dr. Daehre, CDU, und Herr Schomburg, CDU, lachen)

und Schlussfolgerungen ziehen, die auf der Landesebene dazu möglich sind.

(Zustimmung bei der PDS und bei der SPD)

Die DVU-Fraktion und die SPD-Fraktion haben auf einen Redebeitrag verzichtet. Das bleibt so? - Dann hat jetzt für die FDVP-Fraktion die Abgeordnete Frau Helmecke noch einmal das Wort.

Herr Präsident! - Entschuldigung, Sie sind eine Frau, immer noch.

Ich bestehe darauf.

Das wollte ich auch nicht bestreiten.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau Kuppe, ich hatte nicht die Absicht, mit der Kollektivschuld des Mannes zu arbeiten. Ich hatte ebenso nicht vor, die Frauen an den Herd zu stellen. Im Gegenteil, ganz bestimmt nicht. Da haben Sie mich falsch verstanden.

Studien gibt es bekanntlich genug. Sie haben auch eine. Gerade auf dieser Grundlage wollten wir eine Auswertung und einen Maßnahmenkatalog erarbeiten lassen. Diese Studie sollten Sie auswerten.

Ich vermute, Sie meinen aber noch eine ganz andere Studie. Sie meinen sicherlich auch das Handbuch zum Gender-Mainstreaming. Übrigens habe ich das Handbuch gelesen und durchgesehen. Das Gender-Mainstreaming liest sich eher Chinesisch rückwärts und ist mehr politisches Wirrwarr, als dass damit jemand wirklich etwas anfangen kann. Ich konnte daraus nichts entnehmen.

(Herr Sachse, SPD: Ich verstehe das!)

- Das verstehe ich auch. Sie sind ein Mann. Dass Sie es erst recht nicht verstehen können, kann ich nachvollziehen.

(Herr Sachse, SPD: Nein, ich verstehe das!)

- Gerade von Ihnen bin ich enttäuscht. Sie hätten hierzu Ideen einbringen können.

Frau Kuppe, ob es eines Antrags der FDVP bedarf oder nicht, das haben Sie gerade deutlich gemacht. Sie haben bewiesen, dass wir ihn brauchen; denn Sie haben unseren Antrag nicht verstanden. Sie haben ihn nicht verstanden, weil Sie ihn nicht gelesen haben.

Wir brauchen einen Maßnahmenkatalog. Es geht um einen Maßnahmenkatalog für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das haben Sie vielleicht nicht verstanden, weil Sie wohl seit heute Morgen, seit der Diskussion um den Standort Ammendorf, zu der Überzeu

gung gekommen sind, dass in Sachsen-Anhalt in puncto Unternehmen und Arbeit ohnehin bald das Licht ausgeht. Deshalb brauchen wir wahrscheinlich auch keine Vereinbarkeit von Familie und Beruf mehr.

(Widerspruch bei der SPD - Zuruf von Ministerin Frau Budde)

Das kann ich nur so hinnehmen.

(Frau Bull, PDS: Erzähl doch keinen Nonsens, Mensch!)

Das Gender-Mainstreaming, Frau Kuppe, beinhaltet keine echte Wahlfreiheit zwischen Familie und Beruf. Auch im Bericht der Enquetekommission „Soziale Gerechtigkeit“ wurde dies erneut bemängelt, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf.

Das Gender-Mainstreaming-Konzept scheint mir eher dazu geeignet, ein frauenpolitisches Wirrwarr anzurichten. Es enthält keine wirklichen Lösungsansätze für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und bietet auch keine an. Das ist hier und heute das zentrale Thema, nichts anderes.

Auch das Programm „Chancengleichheit von Männern und Frauen“ zeigt lediglich den Sachstand auf bzw. die Problemlage. Dies bezieht sich auf die Arbeitszeitgestaltung, die Berufswegplanung, die Ausbildung und den Wiedereinstieg in das Berufsleben. Aber es bietet keinen konkreten und durchführbaren - darauf kommt es an Lösungsvorschlag an.

Zum Thema Wiedereinstieg. Mit Wiedereinstellungszuschüssen werden lediglich billige Arbeitskräfte für Unternehmen finanziert, die nach dem Ablauf der Förderung meist wieder entlassen werden. Das Gleiche gilt für die Förderung betrieblicher Praktika. Angesichts der hohen Zahl arbeitsloser Frauen in Sachsen-Anhalt ist es geradezu grotesk, das Programm „Chancengleichheit“ im Land als einen Erfolg zu verkaufen. Die Landesregierung sollte sich davon verabschieden und sich an das erprobte und bewährte Konzept des Audits „Beruf und Familie“ orientieren und dieses auch umsetzen.

Noch einmal zum Thema.