Protokoll der Sitzung vom 21.02.2002

(Zustimmung bei der CDU, von Herrn Büchner, DVU, von Frau Helmecke, FDVP, und von Herrn Wolf, FDVP)

Sie haben doch nachher noch einmal Gelegenheit zu sprechen. - Für die Landesregierung spricht der Kultusminister Herr Dr. Harms.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Am 9. Oktober des vergangenen Jahres lag den Fraktionen des Landtages die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der CDU vor. Jetzt, vier Monate später, kommt es zu der Aussprache. Weshalb dieser ungewöhnlich lange Zeitraum?

Die Antwort ist einfach und nahe liegend: Die im Dezember veröffentlichten Ergebnisse der Pisa-Studie mit ihren zahlreichen unangenehmen Wahrheiten haben das einfache Konzept der CDU: „Schafft die Förderstufe ab und macht zwölf Jahre bis zum Abitur, dann wird alles gut!“ ziemlich ins Wanken gebracht.

(Frau Feußner, CDU, schüttelt den Kopf)

Obwohl, Frau Feußner, Sie haben doch wieder zu diesem alten Strickmuster zurückgefunden. Insoweit will ich gern mein Redemanuskript, das von gestern Nacht stammt, an dieser Stelle relativieren. Sie haben beispielsweise doch darauf hingewiesen, dass ein Abitur, das bisher nach zwölf Jahren abgelegt worden sei, nun 13 Jahre brauche. - Quatsch, Frau Feußner, das Abitur, das nach zwölf Jahren abgelegt wurde, wurde in Sachsen-Anhalt mit 241 Stunden bis zum Abitur erreicht; wir müssen jetzt 265 Stunden unterbringen. Mindestens diesen Unterschied sollten Sie kennen.

(Zustimmung bei der SPD - Zurufe von Herrn Becker, CDU, und von Herrn Dr. Bergner, CDU)

Das, was Sie über das Expoprojekt in Bitterfeld gesagt haben, ist wirklich unterhalb des Niveaus, das ich selbst Ihnen zutraue. Sie wissen, dass der Bauträger in diesem Falle wirklich nicht das Land ist. Das ist doch wirklich nicht Teil einer bildungspolitischen Debatte.

Die Schule, meine Damen und Herren, ist eine der wichtigsten Institutionen, vielleicht die wichtigste Institution in unserer Gesellschaft.

(Herr Becker, CDU, meldet sich zu Wort)

Sie ist eine Dienstleistung an der Zukunft, der Zukunft jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers, aber auch der Zukunft unserer Gesellschaft.

Darf ich kurz unterbrechen? Ich weiß nicht, ob Herr Becker eine Frage an Sie stellen möchte.

(Herr Becker, CDU: Ich ziehe zurück!)

Er zieht zurück.

Herr Becker wollte mich nur einmal kurz unterbrechen, damit meine Rede am Anfang nicht so flüssig erscheint, aber ich komme auf meinen Beitrag zurück: Schule ist also eine Dienstleistung an der Zukunft unserer demokratischen Gesellschaft. Deshalb geht die Frage der schulischen Bildung alle an und ist nicht nur eine Spezialistenfrage. Deshalb ist diese Diskussion aber auch nicht mit Schlagworten und einfachen Lösungen zu führen.

Die Pisa-Studie bietet den Anlass und die Chance, die Inhalte in den Blick zu nehmen. Das ist viel mühsamer, als über Strukturveränderungen zu diskutieren. Dafür braucht es allerdings auch eine genaue Analyse der Situation und eine Beteiligung an den Lösungsansätzen, um zu einer wirklichen Verbesserung der Leistungen unseres Bildungssystems zu kommen.

Dafür ist das vorliegende Material der Großen Anfrage eine Grundlage. Ich unterstreiche aber: eine Grundlage. Beim Durchlesen der Fragen wird nämlich auch deutlich, dass viele Fragen nach dem Motto „Was ich mich schon immer gefragt habe und womit ich die Ministerialbürokratie beschäftigen möchte“ aneinander gereiht worden sind.

(Herr Becker, CDU: Das ist aber der Sinn der Großen Anfrage!)

Es ist keine Linie in dieser Fragestellung zu erkennen und auch die Rednerin hatte vorhin Mühe, einzelne Punkte aus diesen 218 Fragen herauszupicken.

(Herr Dr. Bergner, CDU: Unterhalten wir uns doch einmal mit den Lehrerverbänden!)

- Ich unterhalte mich regelmäßig mit den Lehrern und mit den Lehrerverbänden, Herr Dr. Bergner, übrigens auch mit den Privatschulen, mit denen ich in der vergangenen Woche an einem Tisch gesessen habe. Dabei tauchten solche Fragen nicht auf.

Weil die Redezeit beschränkt ist, will ich nur einige Fragenkomplexe herausgreifen.

Seit 1998 hat die Landesregierung ein intensives Augenmerk insbesondere auf die Entwicklung der Grundschulen gelegt. Die flexiblere Schuleingangsphase, die Grundschule mit festen Öffnungszeiten, schülerzahlbezogene Stundenzuweisungen und die Flexibilisierung der Stundentafel in diesem Bereich bilden ein Maßnahmenpaket, das in der Tat eine Investition gerade bei den Jüngsten ist. Ich glaube, dass diese Investition bei den jüngsten Schülerinnen und Schüler genau richtig ist.

Die landesweite Diskussion über die flexible Eingangsphase und über die Frage des richtigen Zeitpunkts der Einschulung zeigt übrigens Wirkung. Ein messbares Resultat ist der Rückgang der Zahl der Zurückstellungen von Schülerinnen und Schülern von 2 044 im Schuljahr 1997/98 auf 849 im Schuljahr 2000/2001. Im gleichen Zeitraum ist die Zahl der vorfristigen Einschulungen auf Antrag der Eltern von 189 auf 309 angestiegen.

Frau Feußner, der Umstand, dass erst 25 Schulen das Konzept der flexiblen Eingangsphase umgesetzt haben, ist darauf zurückzuführen, dass wir diese sukzessive aufbauen und es den Schulen freistellen. Die Entwicklung von fünf auf 13 auf 25 ist ein durchaus rasanter Anstieg. Die Schulen bereiten sich hierauf allerdings gründlich vor. Das verlangen wir von ihnen. Ich glaube, dass das richtig ist.

Die Grundschule mit festen Öffnungszeiten hat in den Schulen zu intensiven Konzeptdiskussionen geführt, an denen Eltern sowie Lehrerinnen und Lehrer beteiligt waren und sich viel Arbeit gemacht haben. Viele Schulen haben den Mut gefunden, ihre Arbeit zu reflektieren, Gutes zu verstärken und Neues auszuprobieren. Dabei haben sie sich auch nicht von den teilweise polemischen Attacken in die Irre führen lassen, die unter anderem aus der CDU-Fraktion kamen und die manchmal die Grenze der Böswilligkeit in der Tat überschritten haben.

(Zustimmung von Frau Mittendorf, SPD, und von Frau Kauerauf, SPD - Zuruf von Herrn Dr. Berg- ner, CDU)

Die neuen pädagogischen Mitarbeiter sind an vielen Stellen mit großem Engagement bei ihrer Aufgabe. Die intensive Fortbildung trägt Früchte.

Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass dieses Maßnahmenbündel bei den Handelnden vor Ort angekommen ist, dass es verstanden und getragen wird. Das hat mit einer guten Vorbereitung und einer guten Begleitung durch Unterstützungssysteme zu tun und vor allen Dingen damit, dass den Schulen größere Spielräume gegeben werden und die Kompetenz der Handelnden vor Ort gefragt ist.

Die alles entscheidende Frage ist aber, ob mit diesen Maßnahmen auch eine messbare Erhöhung der Bildungsleistung in den Schulen erreicht wird. Deshalb habe ich in dem Zehn-Punkte-Programm vorgeschlagen - dieses liegt Ihnen vor -, Jahrgangsstufentests und regelmäßige Befragungen der an den Schulen Beteiligten einzuführen, um über genau diese Prozesse eine Diskussion in Gang zu setzen.

Die Schulen brauchen eine konkrete Rückmeldung darüber, wo sie im Koordinatensystem der Qualitätsparameter stehen und was sie erreichen können, um auch die Qualität ihrer Arbeit zu verbessern. Dafür brauchen sie kein Ranking, dafür brauche sie keine Unterscheidung in gute und schlechte Schulen. Dafür brauchen sie vielmehr eine Rückmeldung, die ihnen nach dem Motto: Das Bessere ist der Feind des Guten Hinweise gibt, wie sie sich entwickeln können.

Ein besonders wichtiger Punkt, den ich auch auf andere Schulen und Schulformen ausdehnen werde, ist die Einführung der schülerbezogenen Stundenzuweisung und die Flexibilisierung der Stundentafel. Rein äußerlich betrachtet könnte man meinen, es handele sich dabei um eine reine Verwaltungsfrage hinsichtlich der Änderung des Zuweisungssystems. In Wirklichkeit ist es aber ein neuer Zugang zur Selbständigkeit der Schule insgesamt; denn diejenigen, die in der Schule tätig sind, können damit ein hohes Maß an Mitgestaltung bei der Organisation von Lerngruppen, bei der Organisation von Unterricht erwerben. Dies setzt Innovationen frei und führt zu Diskussionen innerhalb der Schulen.

Auch in den weiterführenden Schulen und in den Sonderschulen werden wir in den nächsten Jahren diesen Weg gehen. Das ist die praktische Umsetzung eines Begriffs von selbständiger Schule. Ich glaube, dass wir in der Schule ein Verhältnis von Freiheit und Verantwortung, ein Verhältnis von Gestaltungsspielräumen einerseits und öffentlicher Rechenschaftslegung andererseits brauchen.

Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt zu sprechen kommen. Die 15-jährigen Schülerinnen und Schüler in

Deutschland, und zwar in Deutschland insgesamt, bewegen sich auf einem unbefriedigenden Niveau der Lesekompetenz, der Kompetenz in Mathematik und in den Naturwissenschaften. Uns macht eine besonders große Zahl von sehr schwachen Schülerinnen und Schülern große Sorgen. Das ist unser Hauptproblem; darin unterscheiden wir uns von anderen Ländern. Nirgendwo in den Industriestaaten, mit denen wir uns vergleichen, ist diese Gruppe so groß, insbesondere bei der Lesekompetenz.

Der Leiter des deutschen Pisa-Konsortiums Herr Professor Baumert gab vor einigen Wochen auf einer Tagung in Magdeburg eine Teilerklärung dafür. Er sagte: In Deutschland haben die meisten Lehrer das Gefühl, zu einem Teil die falschen Schülerinnen und Schüler zu haben. Das Ergebnis: In unseren Schulen werden Schülerinnen und Schüler abgeschoben, vom Gymnasium auf die Sekundarschule, von der Sekundarschule auf die Sonderschule und dann, am Ende der Schulzeit, zu einem nennenswerten Teil ohne Abschluss in das Berufsvorbereitungsjahr. Wir haben das gegliederte Schulwesen sozusagen als Wahrnehmungshintergrund so sehr verinnerlicht, dass wir automatisch die Schülerinnen und Schüler nach den Schulformen einteilen.

Die erfolgreichen Staaten, seien es Finnland und Japan oder Kanada und die USA, gehen anders vor. Deren Grundsatz ist, dass die Schülerinnen und Schüler einer Schule in eben dieser gefördert werden. Deswegen gibt es beispielsweise keine Debatte um das Sitzenbleiben oder um das Abschieben in eine andere Schulform.

Ich hatte mich zu dieser Debatte geäußert und gesagt: Ein Abschaffen des Sitzenbleibens hilft uns überhaupt nicht; wir brauchen einen anderen Unterricht, der davon ausgeht, dass jeder Schüler, jede Schülerin in der Schule möglichst optimal gefördert wird.

(Zustimmung von Frau Stolfa, PDS)

Deswegen plädiere ich dafür, keine neue Schulformdebatte zu führen, will aber darauf hinweisen, dass die in der Pisa-Studie erfolgreichen Staaten fast ausschließlich über integrierte Schulsysteme verfügen.

Wenn wir diese Debatte so führen, wie Sie, Frau Feußner, das gerade mit TIMSS getan haben - ich bin darin durchaus fit; wir können diese Debatte führen -, dann heißt das: integrierte Gesamtschule bis zum zehnten Schuljahrgang, und zwar für alle Schülerinnen und Schüler.

(Zustimmung bei der SPD - Herr Dr. Bergner, CDU: Nein! Der nationale Vergleich! - Weitere Zurufe von der CDU)

Das wäre auf der Ebene, auf der Sie diskutieren, die Konsequenz. Ich diskutiere nicht so; denn für mich ist die Konsequenz ein möglichst gutes und individuelles Angebot für jedes einzelne Kind, für jeden einzelnen Schüler und jede einzelne Schülerin.

Interessant ist aber - darüber müssen wir nach Pisa nachdenken -, dass das am stärksten in Schulformen gegliederte Schulsystem, nämlich das deutsche, miserabel abschneidet.

(Herr Dr. Bergner, CDU: Aber doch nicht wegen der Gliederung!)

Deswegen fordere ich Sie auf, aus genau diesen Gräben, die Sie gerade wieder bezogen haben, herauszukommen, bevor Pisa Sie darin zuschüttet. Es ist

augenscheinlich nicht die Trennung in homogene Leistungsgruppen, die zu mehr Leistung verhilft. Deswegen sollten Sie, auch wenn es schwer fällt, die Polemik gegen die Förderstufe und die Sekundarschule einstellen. Wir sollten gemeinsam daran arbeiten, diese Schulen weiterzuentwickeln.

Im Hinblick auf den Hinweis, den Sie, Frau Feußner, gegeben haben, nämlich dass es mit der Einführung der neuen Sekundarschule zu einem schlagartigen Anstieg der Zahl der Schülerinnen und Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen haben, gekommen sei, will ich darauf aufmerksam machen, dass noch kein Schüler die Schule am Ende der neuen Sekundarschule verlassen hat. Sie sprechen über diejenigen, die in der alten Sekundarschule zurückgestellt worden sind.

(Frau Feußner, CDU: Nein, das ist falsch! Über die aus der neuen Sekundarschule!)

- Ja, ich weiß, natürlich. Aber diese sind, sonst könnten sie nicht aus den Klassenstufen 7 und 8 entlassen werden -

(Frau Feußner, CDU: Nein! Die sind aus Klasse 7 ohne Schulabschluss abgegangen!)