Protokoll der Sitzung vom 15.03.2002

Es war sicherlich nicht nur Zynismus, sondern auch lebensverbundene Erkenntnis, wenn wir nachlesen können, meine Damen und Herren, dass die wichtigste Lehre der Geschichte die ist, dass der Mensch eben nicht sehr viel aus der Geschichte lernt. Für mich trifft das nicht zu. Ich habe sehr viel aus der Geschichte gelernt.

(Zurufe von der SPD: Ja!)

Für den einen oder anderen in diesem Raum, insbesondere für einige auf den mittleren und linken Sitzblöcken, trifft dieser Spruch allerdings sehr wohl zu.

(Unruhe bei der SPD)

Dieser Eindruck verstärkt sich heute, wenn man die Debatte verfolgt, insbesondere wenn ich feststellen muss, dass sich die Damen und Herren der SPDFraktion und der PDS-Fraktion zu diesem Thema nicht äußern. Bei Ihnen könnte ich es noch verstehen, weil es Sie selbst betrifft. Aber gut.

Wir halten es doch lieber mit dem Goethe-Wort von der Pflicht des Historikers, das Wahre vom Falschen, das Gewisse vom Ungewissen, das Zweifelhafte vom Verwerflichen zu unterscheiden.

Ein Blick in die Schulbücher der Kinder, in die Lehrpläne der Studenten oder - das ist viel wichtiger - ein Gespräch mit ihnen offenbart genau diese Lücken, die es zu füllen gilt.

Diese Lücken offenbaren sich dadurch, meine Damen und Herren, dass die DDR-Geschichte - ich sage es an dieser Stelle noch einmal - und vor allem die Machtstrukturen der SED-Diktatur, Herr Kuntze, weitestgehend ausgespart werden. Die bereits zitierte Untersuchung von Peer Pasternack führte an, dass nach anfänglicher Neugier auf DDR-Themen das Interesse daran einfach abflachte und im Jahr 2001 oder auch 2002 in 54 der insgesamt 88 deutschen Universitäten keine einzige explizit auf Ostdeutschland bezogene Lehrveranstaltung stattfand.

Die Untersuchung folgert: Sofern es richtig ist, dass an allen Orten, an denen Geschichts- und Sozialkunde-, Deutsch- oder Religionslehrer sowie Sozialwissenschaftler ausgebildet werden, Lehrangebote zur DDR nötig sind, dann ist ein gravierendes Problem zu konstatieren.

Die Forderung wird erweitert und unterstrichen durch die abschließende Bemerkung in der Untersuchung - ich darf bitte noch einmal zitieren -:

„Gewiss ist es vom Grundsatz her zu begrüßen, dass die DDR eine immer stärker integrierte Behandlung in weiter gefasstem Rahmen erfährt. Dennoch sollten Lehramtsanwärter, Studierende mit beruflichen Perspektiven im Journalismus oder in der politischen Bildung und sonstige künftige Multiplikatoren eine realistische Chance haben, sich mit der DDR-Geschichte als explizitem Gegenstand ihrer universitären Ausbildung befassen zu können.

Daher erscheint es unabdingbar, dass in möglichst vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern und an allen Universitäten entsprechende Lehrveranstaltungen angeboten werden.“

Meine Damen und Herren! Es wäre sehr nützlich und vonnöten, wenn Bundeskanzler Schröder in den Kreis jener einbezogen würde, denen die DDR-Geschichte insgesamt und die der SED-Diktatur nahe gebracht wird. Das würde auch seinen abstrusen Schlussstrichgedanken keinen weiteren Raum mehr lassen. Diese Schlussstrichgedanken haben wir auch schon von unserem Ministerpräsidenten Höppner gehört, aber das verwundert nicht.

Die zitierte Studie kann vom jetzigen Berliner Wissenschaftsstaatssekretär Pasternack in die Wirklichkeit umgesetzt werden. Wie der „Welt“ vom 23. Februar 2002 zu entnehmen war, wird an den Schulen noch mit 30 Jahre altem Lehrstoff gearbeitet. Eine Lehrerin beklagt, wenn sie genau nach Vorschrift unterrichten würde, dann würden ihre Fünft- und Sechstklässler in Geschichte und Sozialkunde über die Wiedervereinigung überhaupt nichts hören. Die historische Wende, meine Damen und Herren, und ihre Ursachen kommen im gültigen Rahmenplan Sozialkunde für die Grundschule gar nicht vor. Das ist auch nicht möglich; denn das Planwerk datiert von 1968.

Nun können sich die Berliner und die Schullehrer aber sicherlich daran erbauen, wie der Obertalker und Wirtschaftssenator Gysi sein Geschichtsbild unterbreitet oder frühere Mauerbefehlshaber wieder agitatorisch an Schulen wirken können. Scheinbar ist hier nichts unmöglich.

Meine Damen und Herren! Die entkriminalisierte Darstellung der DDR-Geschichte und der SED-Diktatur ist kein Problem speziell in Sachsen-Anhalt. Aber es wäre vor allem in Sachsen-Anhalt notwendig, sich damit auseinander zu setzen, damit die historische Entzauberung der blutroten Macht der SED/PDS nicht länger verhindert wird. Das ist dieses Parlament, meine Damen und Herren, den Opfern der SED-Diktatur schuldig, nicht mehr und nicht weniger.

Ich bitte an dieser Stelle noch einmal, auch in Richtung CDU-Fraktion, auch Herrn Kuntze, unserem Antrag zuzustimmen. - Danke schön.

(Zustimmung von Herrn Wiechmann, FDVP, und von Herrn Mertens, FDVP)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Wir stimmen über den Antrag in der Drs. 3/5362 ab. Wer diesem An

trag zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Drei Jastimmen. Gegenstimmen? - Stimmenthaltungen? - Bei einigen Stimmenthaltungen ist der Antrag mehrheitlich abgelehnt worden. Der Tagesordnungspunkt 17 ist erledigt.

Da wir den Tagesordnungspunkt 18 bereits gestern abgearbeitet haben, kommen wir jetzt zum Tagesordnungspunkt 19:

Beratung

Hände weg vom Risikostrukturausgleich - Keine Aufkündigung der gesamtdeutschen Solidarität zulassen

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 3/5370

Einbringer ist der Abgeordnete Herr Bischoff. Es folgt eine Fünfminutendebatte. Bitte, Herr Bischoff.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es steht viel auf dem Spiel, das den Zusammenhalt und die Entwicklung grundsätzlich und nachhaltig gefährdet, und dies auf dem Rücken der Schwächeren.

Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen! Herr Professor Böhmer, Sie haben mit Sicherheit damit gerechnet, dass wir diesen Antrag einbringen. Darüber wurde in den letzten Wochen und Tagen genügend gesagt.

Mit der Verfassungsklage gegen den Risikostrukturausgleich stellen die Länder Bayern, Hessen und BadenWürttemberg die bundesweite Solidarität in der gesetzlichen Krankenversicherung infrage.

(Herr Prof. Dr. Böhmer, CDU: Das stimmt doch alles nicht!)

- Sie sind ja noch dran.

(Zurufe von Herrn Schomburg, CDU, und von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Nach dem Willen der Unionspolitiker sollen die reichen West-Kassen künftig nicht mehr zur Finanzierung, zumindest - ich sage es gleich genauer - für die Personengruppen, die von den Risiken besonders betroffen sind, der strukturschwachen Ost-Kassen beitragen.

(Zuruf von Herrn Schomburg, CDU)

Ist Stoibers Klage erfolgreich, steigen die Krankenversicherungsbeiträge in Ostdeutschland künftig auf bis zu 20 %. Ein weiterer Anstieg der Lohnnebenkosten wäre ein katastrophales Signal an die ostdeutsche Wirtschaft und ein gewaltiges Jobvernichtungsprogramm in den neuen Bundesländern.

(Frau Stange, CDU: Das ist doch billige Polemik, Herr Bischoff!)

Stoibers Klage gegen den Ost-West-Finanzausgleich in der Krankenversicherung ist unverantwortlich und wäre einer der schwersten wirtschaftlichen Schläge, die die ostdeutschen Länder treffen könnten.

(Zuruf von Herrn Prof. Dr. Böhmer, CDU)

Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen müsste ein Arbeitnehmer - wir gehen nur von der Zahl 2 Milliarden € aus, die ausgerechnet worden ist - dann 380 €

jährlich zusätzlich zahlen und die Lohnnebenkosten würden um 760 € steigen.

(Zuruf von Herrn Dr. Daehre, CDU)

Die gesamte zusätzliche Belastung würde demnach auf 1 215 € und die Lohnnebenkosten auf 2 430 € pro Jahr steigen. Die Steigerung der Lohnnebenkosten - das ist viel katastrophaler - würde für viele kleine und mittlere Betriebe das wirtschaftliche Aus bedeuten.

Dies werden wir nicht zulassen und wir gehen gemeinsam mit den ostdeutschen Ländern, den Kassen und der Ärzteschaft gegen diese Klage an.

(Zustimmung bei der SPD und von Ministerin Frau Dr. Kuppe)

Die Weiterentwicklung des Risikostrukturausgleichs ist im Jahr 1992 fraktionsübergreifend beschlossen worden.

(Herr Prof. Dr. Böhmer, CDU: Und Sie wissen auch, von wem das kam!)

Die Beteiligten haben damals die Auffassung vertreten, man brauchte diesen Ausgleich nur eine Zeit lang, dann könnte es wieder normal laufen oder der Ausgleich könnte sogar ganz abgeschafft werden. Jetzt, zehn Jahre nach dieser Entscheidung, sagen alle Gutachter und alle Experten, die sich damit beschäftigen: Wir brauchen den Risikostrukturausgleich, und zwar noch differenzierter als er bisher war, weil in der Zwischenzeit -

(Herr Prof. Dr. Böhmer, CDU: Das ist es!)

- Ja, dazu komme ich gleich. Sie versuchen hier immer Nebenschauplätze aufzumachen. Ich bin nachher gespannt -

(Herr Dr. Daehre, CDU: Nein, Sie!)

- Nein, ich bleibe beim Thema. - Die wettbewerblich ausgerichtete Krankenversicherung ist zwingend notwendig. Denn wozu dient der Risikostrukturausgleich? - Er soll den Krankenkassen gleiche wettbewerbliche Chancen bezüglich - jetzt kommt es - nicht beeinflussbarer Versicherungsrisiken geben.

Sie werden nachher genau darauf abzielen und sagen, dass die Einnahmesituation noch ganz andere Ursachen habe. Es geht aber einfach um nicht beeinflussbare Risiken und dazu gehören nach der Alters- und Geschlechtsstruktur auch die unterschiedlichen Strukturbedingungen hierzulande. Diese gilt es abzufedern und auszugleichen. Es ist eben eine Tatsache, dass die Versicherten in den ostdeutschen Ländern leider mit mehr Risiken behaftet sind.