Protokoll der Sitzung vom 15.03.2002

Sie werden nachher genau darauf abzielen und sagen, dass die Einnahmesituation noch ganz andere Ursachen habe. Es geht aber einfach um nicht beeinflussbare Risiken und dazu gehören nach der Alters- und Geschlechtsstruktur auch die unterschiedlichen Strukturbedingungen hierzulande. Diese gilt es abzufedern und auszugleichen. Es ist eben eine Tatsache, dass die Versicherten in den ostdeutschen Ländern leider mit mehr Risiken behaftet sind.

Für alle, die es noch nicht wussten: Die Transferleistungen fließen nicht ausschließlich in den Osten. Das haben Sie in den letzten Tagen zu Recht gesagt. Gerade die Allgemeinen Ortskrankenkassen erhalten aufgrund der Risikostruktur ihrer Versicherten hohe Ausgleichszahlungen. Davon profitieren auch die Länder Bayern, Hessen und andere.

Die Forderung Bayerns - daran ist es deutlich geworden; auch an der Reaktion der dortigen Gesundheitsministerin - nach einem regional überschaubaren und praktikablen Risikostrukturausgleich bedeutet eigentlich nichts anderes, als dass Bayern und die anderen Länder aufgrund ihrer Versichertenstruktur die Mittel behalten wollen und das Geld nicht in die Kassen im Osten fließen lassen wollen, bei denen eine ungünstigere Versichertenstruktur vorhanden ist. Das kann nicht im Sinne

einer solidarischen Finanzierung sein. Erklären Sie mal den Wählern und sagen Sie es ihnen deutlich, was das für die Zukunft ihrer Arbeitsplätze bedeuten würde.

Die CDU kann sich nicht davon freisprechen, dass Sachsen-Anhalt bei einem Erfolg der Klage - - Die Klage ist tatsächlich - wir haben darauf noch einmal hingewiesen - eine Normenkontrollklage, ein Normenkontrollverfahren wurde angestrengt. Es geht nämlich um die Struktur.

(Herr Schomburg, CDU: Ja!)

Die Gesundheitsministerin hat hinzugefügt, sie sei nicht bereit, die Rechnungen anderer Kassen zu begleichen. Aber darum geht es überhaupt nicht. Es geht nicht um die Frage, ob die Kassen hier ungünstiger wirtschaften, ob sie sich etwas leisten. Es geht tatsächlich nur um die Risikogruppen. Dazu gehören die chronisch Kranken, dazu gehört die Morbidität. In dieser Beziehung ist die Versichertenstruktur in den neuen Ländern anders verfasst als die in den alten Ländern. Daher halte ich es für zwingend notwendig, dass ein gesamtdeutscher Risikostrukturausgleich auch von West nach Ost geht.

(Zustimmung bei der SPD und von Ministerin Frau Dr. Kuppe)

Sie sagen an einer anderen Stelle, es sei die Aufgabe eines Ministerpräsidenten, dafür zu sorgen, dass in seinem Land die Mittel zusammengehalten würden, und wenn in dem Land nicht gut gewirtschaftet würde, sollte er auch dafür geradestehen.

Das ist richtig, aber es ist auch zu berücksichtigen, dass erstens Bayern und die anderen Länder jahrelang - und auch heute noch - von dem Strukturausgleich anderer Länder leben. Zweitens hätte Stoiber zumindest zu dem Zeitpunkt, als er Kanzlerkandidat wurde, den Blick erweitern und darauf richten müssen,

(Zuruf von Frau Lindemann, SPD)

dass die Solidarität weiter reicht und nicht nur auf Bayern beschränkt ist. Wir klagen an, dass die Klage nicht zurückgenommen wird und der Klageweg weiter beschritten wird, und zwar zuungunsten der Menschen und auch der Wirtschaft hierzulande. Dagegen wollen wir angehen. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der PDS und von Ministerin Frau Dr. Kuppe)

Danke sehr. - Meine Damen und Herren! Wir haben Besuch aus Halberstadt. Es sind Schülerinnen und Schüler der Gleim-Schule. Wie begrüßen sie ganz herzlich.

(Beifall im ganzen Hause)

Für die Landesregierung spricht jetzt Ministerin Frau Dr. Kuppe.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Herren und Damen Abgeordneten! Zum wiederholten Mal beschäftigt sich der Landtag von Sachsen-Anhalt mit dem Risikostrukturausgleich in der gesetzlichen Krankenversicherung. Der Grund für die heutige Befassung mit dieser sehr komplexen und sehr komplizierten Materie ist die Klage der Länder Bayern, Baden-Württemberg und Hessen vor dem Bundesverfassungsgericht. Mit dem Normenkon

trollverfahren wollen diese drei Länder die Regelung des Risikostrukturausgleichs und darüber hinaus den so genannten gesamtdeutschen Risikostrukturausgleich überprüfen und in der jetzigen Form für nichtig erklären lassen.

Der Risikostrukturausgleich wurde mit dem Gesundheitsstrukturgesetz erstmals zum 1. Januar 1994 eingeführt. Er sollte die unterschiedlichen Risiken der Krankenkassen ausgleichen. Dies wurde erforderlich, weil Zeitgleich eine allgemeine Kassenwahlfreiheit eingeführt wurde, die es bis dahin nicht gab. Erstmals konnten beispielsweise auch Arbeiterinnen und Arbeiter Mitglied in einer Ersatzkrankenkasse werden.

Man muss allerdings auch wissen, dass die Wahlfreiheit im Hinblick auf die Kassenart für die Allgemeinen Ortskrankenkassen mit gewissen Risiken verbunden ist. Waren sie vor der Gesetzesänderung quasi eine Auffangkasse für alle Versicherten, ist es seitdem möglich, dass sie mehr als andere Kassen ihre Versicherten verlieren und dass sich die Einnahmen- und Ausgabenbilanz außerordentlich ungünstig entwickelt.

Die Allgemeinen Ortskrankenkassen versichern in hohem Maße Personen mit besonderen Risiken, und zwar in einer Größenordnung von bis zu 80 %, zum Beispiel alte Menschen, Menschen mit niedrigem Einkommen und eine hohe Anzahl von beitragsfrei mitversicherten Familienangehörigen. Deshalb liegen die Beitragssätze der Allgemeinen Ortskrankenkassen größtenteils über dem Durchschnitt der übrigen Kassenarten. Um dieser Kassenart eine Chance im Wettbewerb zu geben, sollten solche Risiken über den Risikostrukturausgleich praktisch ausgeglichen werden.

Zunächst wurde dieser Risikostrukturausgleich in Ost und West getrennt durchgeführt; es gab die „Sozialmauer“. Im Jahr 1999 wurde diese Trennung per Gesetz aufgehoben und die Einführung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleichs in sieben Jahresstufen beschlossen.

Das Transfervolumen des Risikostrukturausgleichs ist in den vergangenen Jahren beständig gestiegen. Das gilt innerhalb der früheren Rechtskreise und jetzt auch im Hinblick auf die ostdeutschen Länder. Diese hohen Transfers sind Beleg dafür, meine Damen und Herren, dass die Risikostrukturen innerhalb der Kassenarten nach wie vor sehr unterschiedlich sind und dass ein solches Ausgleichsverfahren wirklich notwendig ist.

Tatsache ist, dass in den ostdeutschen Ländern mehr Personen mit Risiken zu versichern sind als in den westdeutschen Ländern. Das hat auch etwas mit den gesundheitlichen Altlasten aus DDR-Zeiten zu tun. Trotzdem fließen Transferleistungen - Herr Bischoff hat darauf hingewiesen - eben nicht nur ausschließlich gen Osten, sondern durchaus auch in Allgemeine Ortskrankenkassen in Bayern und Baden Württemberg, weil auch dort Risiken ausgeglichen werden müssen.

Im Februar 1998 stellte der damalige Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer ausdrücklich fest, dass beim Risikostrukturausgleich zwei Dinge permanent übersehen würden:

Erstens gleicht der Risikostrukturausgleich nicht unwirtschaftliche Ausgaben aus, sondern er ist einnahmeorientiert.

Zweitens werden vielmehr Risiken ausgeglichen, für die die Krankenkassen nichts können. Weder freiwillige Leis

tungen noch Verwaltungskosten noch überdurchschnittliche Ausgaben werden im Rahmen des Risikostrukturausgleiches ausgeglichen. Deshalb sei es einfach ungerecht - so Horst Seehofer - zu sagen, der Risikostrukturausgleich belohne die Unwirtschaftlichkeit.

(Zuruf von Herrn Felke, SPD)

Dem kann ich, meine sehr geehrten Damen und Herren, nur zustimmen.

(Beifall bei der SPD)

Die bayerische Sozialministerin Frau Stewens spricht dagegen von verfassungswidrigen Transferleistungen in Milliardenhöhe von einer Krankenkasse zur anderen. Nach ihrer Aussage will Bayern gemeinsam mit BadenWürttemberg und Hessen die extreme Benachteiligung der Versichertengemeinschaft in diesen drei Ländern auf ein erträgliches Maß zurückführen. Das bedeutet doch eindeutig, meine Damen und Herren, die Aufkündigung der Solidarität.

(Beifall bei der SPD)

Es ist eben nicht so, Herr Kollege Böhmer, wie Sie immer darstellen, dass Bayern vor allem die Zuflüsse in die süddeutschen Krankenkassen überprüfen lassen will. Nein, es geht darum - das besagen die Aussagen von Frau Kollegin Stewens ganz eindeutig -, dass die Zahlungen aus Bayern heraus gestoppt werden sollen, und das ist das Übel.

(Beifall bei der SPD - Herr Prof. Dr. Böhmer, CDU: Sie können ja nicht mal zuhören!)

Das Transfervolumen in die ostdeutschen Bundesländer betrug im Jahr 2001 im Saldo ca. 2 Milliarden €. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Um diese Summe geht es, wenn wir über den Wegfall des Risikostrukturausgleiches diskutieren - um 2 Milliarden €.

(Herr Schomburg, CDU: Wegfall!)

Die Überprüfung des Transfersystems ist übrigens bereits im Gesetz enthalten und erfolgt in diesem Jahr. Deswegen müsste keine Normenkontrollklage angestrengt werden.

Auch die in Sachsen angekündigte Senkung des Beitragssatzes auf 12,9 % hat mit unserem Thema gar nichts zu tun. Hierbei handelt es sich um einen nicht kostendeckenden Beitragssatz, der ein Finanzpolster abbauen soll, das sich praktisch schon seit 1990, also vor dem Inkrafttreten des Risikostrukturausgleiches, bilden konnte.

(Herr Bischoff, SPD: Gucke an!)

Ich teile die Auffassung der SPD-Fraktion, wie sie im vorliegenden Antrag zum Ausdruck kommt, dass die Abschaffung des gesamtdeutschen Risikostrukturausgleiches für Ostdeutschland und damit auch für Sachsen-Anhalt verheerende Auswirkungen hätte. Ohne diese Transferleistungen müsste insbesondere unsere AOK - es sind aber auch noch andere Kassen betroffen Beitragssätze von 20 % und mehr erheben, wenn die Leistungen auf dem jetzigen angemessenen Niveau bleiben sollten; ansonsten müsste mit ihnen über eine Leistungskürzung diskutiert werden.

Über einen Wirtschaftsstandort Sachsen-Anhalt bräuchten wir dann überhaupt nicht mehr zu reden. Wir wären nicht mehr konkurrenzfähig, der Mittelstand würde in die Knie gehen und die Versicherten in Ostdeutschland

würden belastet werden wie sonst in keiner Region in Deutschland. Das ist nicht zu verantworten.

(Beifall bei der SPD)

Ein weiterer Aspekt, der auch nicht außer Acht gelassen werden darf, sind die unwirtschaftlichen Krankenkassen. Die müssten von der Aufsichtsbehörde geschlossen werden. Die Versicherten müssten dann versuchen, eine andere Krankenkasse für sich zu finden. Stellen Sie sich die Situation vor, wenn Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger nicht wissen, wie es um ihren Krankenversicherungsschutz bestellt ist und an welche Kasse sie sich wenden sollen.

(Zuruf von Frau Wiechmann, FDVP)

Zudem wäre die Frage zu klären - bzw. von Ihnen die Antwort zu geben -, wer die vorhandenen Defizite und Verbindlichkeiten der zu schließenden Kasse zu tragen hätte. Soll das das Land Sachsen-Anhalt machen?

(Herr Schomburg, CDU: Polemik! - Herr Dr. Berg- ner, CDU: Das sind Wahlkampfreden! - Herr Dr. Daehre, CDU: Werden Sie doch mal sach- lich!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! In seinen Reden bekundet Kanzlerkandidat Stoiber in diesen Tagen immer wieder seinen Willen, Ostdeutschland wirtschaftlich voranzubringen. Das ist zu hören.

(Herr Dr. Daehre, CDU: Ja, so wie er Bayern nach vorn gebracht hat! - Zurufe von Frau Wiech- mann, FDVP, und von der SPD)

In seiner Regierungserklärung vom Februar 1998 mit dem viel sagenden Titel „Föderaler Wettbewerb Deutschlands Stärke, Bayerns Chance“ ist dieser Wille jedenfalls nicht erkennbar.