Protokoll der Sitzung vom 16.05.2003

Bei unserer von April bis Mai dieses Jahres durchgeführten Kommunaltour wurden wir gerade in Bezug auf die Gebietsreform von der Mehrzahl der besuchten Gemeinden und Verwaltungen darauf aufmerksam gemacht, dass die Aussetzung der Reform ein entscheidender Fehler gewesen sei. Aber offensichtlich ist es wie bei Wahlen: Im Nachhinein will es keiner gewesen sein.

Werte Damen und Herren! Wenn jetzt durch das Innenministerium eingeschätzt wird, dass der Katalog zukünftiger Aufgabenübertragungen an die Verwaltungsgemeinschaften rechtlich problematisch sei, weil diese in gesetzlich geschützte Bereiche der kommunalen Selbstverwaltung eingriffen, dann kann man nur sagen: wie wahr, wie wahr.

Diese Erkenntnis war jedoch schon im Jahr 2001 vorhanden; denn bei der Wahl des Gemeindemodells ging es genau um dieses Problem. Nur weil bestimmte Kernbereiche der kommunalen Selbstverwaltung im Sinne von Effizienz und Bürgernähe verlagert werden sollten, war das Modell der Verwaltungsgemeinschaften an seine Grenzen gestoßen.

Der nunmehr von der SPD-Fraktion eingebrachte und in der letzten Legislaturperiode mit der PDS-Fraktion verhandelte Gesetzentwurf zur Qualifizierung der Verwaltungsgemeinschaften - kurz das Verbandsgemeindeeinführungsgesetz - schafft ein demokratisch legitimiertes

Gremium, was einen Eingriff in den Kernbereich der kommunalen Selbstverwaltung rechtfertigen würde.

Der Unterschied zur bisherigen Verwaltungsgemeinschaft, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, der Ihnen offensichtlich entgangen ist, besteht in dem genauen Aufgabenkatalog, bezogen auf die Flächennutzungsplanung, die Schulträgerschaft oder die Vorhaltung und Durchführung von Infrastruktureinheiten und -maßnahmen, die allen Gemeinden zugute kommen, um nur einiges zu nennen.

Ein weiterer Unterschied besteht in der Qualifizierung des Ortschaftsverfassungsrechtes, welches Zusammenschlüsse von Gemeinden mit bis zu 1 000 Einwohnern erleichtern soll und gleichzeitig die Entscheidungskompetenzen der Ortschaftsräte bei Ortsangelegenheiten gegenüber den Gemeinderäten stärkt. Das ist bisher einmalig in der Bundesrepublik und korrigiert auch Fehlentwicklungen solcher Länder - darin haben Sie recht, Herr Wolpert - wie Niedersachsen und Rheinland-Pfalz, die eben auf dieser Strecke festgestellt haben, dass örtliche kommunale Politik nicht mehr möglich ist, wenn die Bürger ausgeschlossen werden.

Weitere Unterschiede bestehen auch darin, dass das Modell der Verbandsgemeinde alternativ zur Einheitsgemeinde besteht - bei gleicher notwendiger Verwaltungs- und Veranstaltungskraft - und insbesondere für den dünn besiedelten Bereich oder Verwaltungsgemeinschaften mit gleicher Kommunalstruktur Anwendung finden kann.

Ihre bisherigen Vorstellungen, meine Damen und Herren der Regierungskoalition, gehen davon aus, großzügige Eingemeindungen der Städte zu befürworten, da Sie das Trägergemeindemodell entsprechend aufwerten. Dies hat bereits zur Folge, dass bestehende Verwaltungsgemeinschaften auseinander gerissen werden und Gemeinden künftig nicht mehr die Möglichkeit haben, mit anderen Gemeinden zu fusionieren, weil sie eben nicht mehr mit ihrem Gemeindegebiet an das der Nachbargemeinde angrenzen. Wer das nachvollziehen will, braucht sich nur Roßlau anzugucken. Das ist ein Beispiel dafür, wie im Prinzip mit einer Fusion vorgeprescht wurde, bei der man im Nachhinein sicherlich ein Problem mit der Neustrukturierung bekommt.

Ein weiteres Problem haben Sie bisher absolut ausgeklammert, vielleicht auch politisch ignoriert. Wie sollen sich Gemeinden und Verwaltungsgemeinschaften über Kreisgrenzen hinweg finden, wenn damit die Existenz des bisherigen Landkreises entsprechend § 10 Abs. 2 der Landkreisordnung und die Existenz der Verwaltungsgemeinschaften entsprechend § 76 Abs. 1 und 2 der Gemeindeordnung gefährdet sind? Diese Erfahrung haben die Gemeinden Leitzkau, Ladeburg und Dornburg schon machen müssen. - So viel zur Frage der Freiwilligkeit.

Wenn jedoch die Kreisstruktur trotz der Aufgabenübertragung erst nach dem Jahr 2006 - laut FDP - bzw. erst nach 2009 - entsprechend dem Regierungsentwurf - geändert werden soll, wird eine Orientierung zur Erreichung der entsprechenden Mindesteinwohnerzahlen erheblich erschwert und raumordnerische und siedlungsspezifische Schwerpunkte sind dann kaum noch beeinflussbar und nicht mehr korrigierbar.

Da wir gerade die Unterschiede deutlich machen, möchte ich noch einen Aspekt erwähnen. Nach den Vorstellungen der Regierung und der sie tragenden Fraktionen

sollen dem gemeinsamen Verwaltungsamtschef Kompetenzen nach § 63 der Gemeindeordnung, insbesondere das Widerspruchsrecht übertragen werden. Diese Regelung führt faktisch zu einer Entmachtung der ehrenamtlichen Bürgermeister - sie sind noch Chef der Verwaltung, auch wenn sie keine Verwaltung mehr haben - und zu einer neuen Kommunalaufsicht.

Da aber die Mitgliedsgemeinde als Gebietskörperschaft weiter existiert und die Verwaltungsgemeinschaft eben keine Gebietskörperschaft ist und dies auch nicht sein soll, liegen die Kompetenz und das Widerspruchsrecht eindeutig beim zuständigen Bürgermeister. Einem nicht in freier, allgemeiner und geheimer Wahl gewählten Verwaltungsbeamten soll nun nach Ihren Vorstellungen diese Kompetenz übertragen werden.

Wenn man dazu noch bedenkt, dass im Zuge der Haushaltskonsolidierung, die etwa 70 % der Kommunen betrifft, alle freiwillige Aufgaben auf null gefahren werden sollen, wird klar, dass die Kommunen praktisch nur noch untere staatliche und ausführende Behörde sind. Wie hatte Finanzminister Paqué im Zuge der Kürzungen der allgemeinen Finanzausstattung gesagt: „Aufgrund der finanziellen Misere werden sich die Kommunen zusammenfinden müssen.“ - Wie wahr. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungskoalition, hat aber nun wirklich nichts mehr mit kommunaler Selbstverwaltung zu tun.

Folgerichtig ist aus unserer Sicht, dass eine Qualifizierung der Verwaltungsgemeinschaften, wie sie in dem von der SPD- und der PDS-Fraktion ausgehandelten Gesetzentwurf enthalten ist, den die SPD-Fraktion wieder eingebracht hat, eine wirkliche zukunftsfähige Alternative darstellt, das kommunale Selbstverwaltungsrecht stärkt und eine ausreichende Gewähr für eine bürgernahe und effiziente Verwaltung auch unter dem Aspekt der weiteren Aufgabenübertragung bietet.

Experimente, wie sie aufgrund falscher Wahlversprechen durch die jetzige Landesregierung permanent und mit sich ständig ändernden Inhalten praktiziert werden, werden unser Land nicht zukunftsfähiger machen. Sie gehen zulasten der Demokratie und führen zu geringen Wahlbeteiligungen.

Wenn heute Landräte mit weniger als 10 % der Stimmen der wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger gewählt werden, sagt das auch, dass die Bürger den Stellenwert kommunaler Selbstverwaltung und die Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunen als sehr gering einschätzen. Eine Aufhebung der Direktwahl ändert an diesem Desaster nichts. Sie führt zu einer weiteren Abstinenz der Bürgerinnen und Bürger, sich aktiv für ihre Kommunen einzusetzen.

Wenn also die Äußerungen des Ministerpräsidenten Professor Dr. Böhmer ernst gemeint sind, dann fordern wir Sie auf, verehrte Mitglieder der Regierungskoalition, mit uns gemeinsam diese Prozesse zu klären, die Zukunftsfähigkeit unseres Landes im kommunalen Bereich in einer sachlichen Atmosphäre ohne Tabus und Ausgrenzungen zu ordnen. Wir als PDS-Fraktion sind dazu bereit.

Weil ich nicht davon ausgehe, dass es einen zeitweiligen Ausschuss geben wird - das war ja zu hören -, stimmen wir der Überweisung des Gesetzentwurfes in den Innenausschuss als dem federführenden Ausschuss zu. Nun liegt es an Ihnen, ob Sie uns gemeinsam zur Gestaltung der Zukunftsfähigkeit dieses Landes mit an den Tisch

holen oder ob Sie weiter wie bisher Ihre Spiele spielen wollen. - Ich danke.

(Beifall bei der PDS)

Herzlichen Dank, Herr Grünert. Sie waren bereit, eine Frage des Abgeordneten Herrn Schulz zu beantworten. - Bitte sehr, Herr Schulz.

Ich habe keine Zwischenfrage, sondern ich möchte eine Zwischenbemerkung machen.

Herr Grünert, Sie sprachen ebenso wie Genosse Gallert Äußerungen des Ministerpräsidenten auf einer Veranstaltung in Seehausen an. Ich möchte etwas dazu sagen. Wenn Sie bei dieser Veranstaltung dabei gewesen wären, dann hätten Sie vernommen, dass der Ministerpräsident nicht von einer Gemeinde- und Gebietsreform gesprochen hat, sondern nur von einer Verwaltungsreform.

(Zustimmung bei der CDU - Herr Gallert, PDS: Er ist mit „Gemeinde- und Gebietsreform“ zitiert wor- den!)

Schönen Dank für die Anmerkung. Bei den ständig wechselnden Informationen, die der Presse zu entnehmen sind, ist es natürlich kompliziert, immer zu wissen, welches das letzte Highlight der Regierung und der Regierungskoalition ist.

(Beifall bei der PDS - Unruhe bei der CDU und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Grünert. - Meine Damen und Herren! Als vorerst letzter Redner hat für die Landesregierung Herr Innenminister Jeziorsky um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Große Worte sind gefallen: „Glaubwürdigkeit“ und „Rettungsring“. Ich gehe einmal auf den Einstieg von Kollegen Rothe und auf den Einstieg von Kollegen Gallert sowie auf die Diskussion in der Verwaltungsgemeinschaft Nördliche Börde, die dann auch über die Presse kam, ein.

Herr Rothe hat zitiert, was in diesem Bereich hinsichtlich der Glaubwürdigkeit gesagt worden ist. Herr Gallert hat es ein bisschen erweitert und hat gesagt - ich habe es jedenfalls so verstanden -, den PDS-Leuten sei dort gesagt worden: „Wir haben euch abgewählt, weil ihr die Verbandsgemeinde wolltet.“

(Beifall bei der CDU)

„Wir haben euch abgewählt“, haben die Vertreter der Verwaltungsgemeinschaft Nördliche Börde gesagt.

Herr Rothe, jetzt werfen Sie uns einen Rettungsring

(Zuruf von Herrn El-Khalil, CDU)

in Form des Verbandsgemeindeeinführungsgesetzes zu.

(Zuruf von Herrn Schomburg, CDU)

Ich weiß nicht, ob Sie in verschiedenen Veranstaltungen in der Nördlichen Börde waren, weil Sie von der SPD und der PDS hierzu unterschiedlich votieren. Aber das ist egal.

„Glaubwürdigkeit“ und „Rettungsring“, das können wir uns, glaube ich, an dieser Stelle schenken. Wir haben deutlich gemacht, dass wir in dieser Legislaturperiode eine Verwaltungsreform im Land Sachsen-Anhalt umsetzen wollen. Das beinhaltet viel. Der Weg ist nicht einfach - das haben andere auch schon gemerkt, nicht nur in Sachsen-Anhalt -, wenn man Verwaltungszuständigkeiten aus bisher bekannten Ebenen in andere verlagern will.

Kollege Polte, die Diskussion über Größen in NordrheinWestfalen kann ich zumindest unter dem Blickwinkel der knappen Kassen auch nicht verstehen. Im Land Nordrhein-Westfalen haben auch die großen Städte, die großen Kommunen erhebliche Schwierigkeiten, all das, was als Verwaltungshandeln, und all das, was als Daseinsvorsorge für den kommunalen Bereich gewünscht und erforderlich ist, noch zu finanzieren.

(Beifall bei der CDU)

Das betrifft auch die ganz großen Gemeinden des Landes Nordrhein-Westfalen.

Für mich beschreibt das zumindest, dass allein die Frage „Wie groß ist eine Kommune?“ die Finanzprobleme, die wir heute insgesamt haben, überhaupt nicht löst. Es geht darum, wie viel Aufwand der Staat, auf welcher Ebene auch immer, bei der Verwaltung betreibt. Dort haben wir Potenziale, und es gilt die Gesetzesvorhaben der Koalition zunächst darauf zu konzentrieren und eine Entrümpelung dessen, was Land und Kommunen im Verwaltungshandeln machen sollen, als Erstes auf die Tagesordnung zu setzen.

Wenn diese Entrümpelung stattgefunden hat, was aus meiner Sicht die meisten Potenziale für finanzielle Spielräume ermöglicht, soll auch - das ist richtig - die Frage des Wo für die Erledigung von Verwaltungsaufgaben beantwortet werden. Bisher sind wir nur im Bereich des Verwaltungshandelns.

Meine Damen und Herren! Ich bitte Sie wirklich, das auseinander zu halten. Das ist bei den vorhergehenden Debattenbeiträgen - auch bei Ihnen, Herr Kollege Polte - eben nicht auseinander gehalten worden. Verwaltung muss man auch durch Strukturangebote organisieren, wie Gemeinden ihre Verwaltungserledigung denn wahrnehmen wollen. Kommunale Selbstverwaltung ist etwas anderes. Kommunale Selbstverwaltung beschreibt, welches Organ für die originären Angelegenheiten vor Ort die letzte Entscheidung treffen soll.

(Herr Dr. Heyer, SPD: Das ist jetzt ja wirklich neu!)

- Anscheinend muss man das immer wieder einmal wiederholen, weil nämlich bei der gesamten Diskussion „kommunale Selbstverwaltung“ und „Verwaltung“ durcheinander gebracht werden.

Das, was wir als Anspruch für die gemeindliche Verwaltungsebene brauchen, ist zweierlei: Die gemeindliche Verwaltung soll auch weitere neue Aufgaben der staatlichen Verwaltung - durch Übertragung aus dem Zuständigkeitsbereich der Landkreise - erledigen. Gleichzeitig müssen diese Verwaltungen natürlich auch die kommunalen Selbstverwaltungsprozesse verwaltungstechnisch begleiten.

Die Frage ist zu beantworten: Wie muss eine solche gemeindliche Verwaltung dann aussehen, damit sie beides kann: eine ordentliche, sachgerechte Begleitung der kommunalen Selbstverwaltungsprozesse und gleichzeitig die Übernahme staatlicher Verwaltungsaufgaben vor Ort sowie die Beachtung der Vorgaben, über die wir noch nicht abschließend gesprochen haben, bezüglich derer wir uns jetzt mit den Fraktionen der CDU und der FDP im Abschlussgespräch befinden?

Die Frage, wie diese Notwendigkeiten zusammengeführt werden können - Verwaltungseffizienz bei der Übernahme von staatlichen Verwaltungsaufgaben und die Begleitung kommunaler Selbstverwaltungsprozesse im Bereich der gemeindlichen Verwaltungen -, ist zum augenblicklichen Zeitpunkt noch nicht vollständig beantwortet. Aber wir sind festen Willens und wir werden es schaffen, dass unser Gesetzentwurf zur Weiterentwicklung der gemeindlichen Verwaltungsstrukturen, nämlich der Verwaltungsgemeinschaft und nicht einer Verbandsgemeinde, diesem Hohen Haus noch vor der Sommerpause vorgelegt werden kann. Wir werden es auch schaffen, denke ich, dass die Diskussion vor Ort zu den Fragen „Wo soll es mit uns als Gemeinde, auch als eine kleine Gemeinde, hingehen?“ und „Ist unsere Existenz als Gemeinde gefährdet oder nicht?“, noch vor der Sommerpause aufgrund der Vorlage unseres Gesetzentwurfs endgültig beendet wird.

(Beifall bei der CDU)