Protokoll der Sitzung vom 12.06.2003

Wir sehen in diesen Zahlen von Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung kein temporäres Problem. Dass es vielen jungen Menschen schwer fällt, erfolgreich in ein selbstbestimmtes Leben einzusteigen, mag im Einzelfall subjektiv verursacht sein, als so massenhafte Erscheinung muss es jedoch als ein gesellschaftliches Grundproblem bewertet und behandelt werden.

(Beifall bei der PDS)

Maßnahmen zum Abbau der Jugendarbeitslosigkeit, zur Schaffung von betrieblichen und außerbetrieblichen Ausbildungsplätzen sind und bleiben wichtige Hilfsmittel, um Defizite abzufedern - gar keine Frage. Darin liegt sehr wohl auch staatliche Verantwortung. Auch die geplanten Initiativen der Bundesregierung, ihre Kampagne für Ausbildung und Beschäftigung, die gemeinsame Taskforce für mehr Ausbildungsplätze und das weitere Sofortprogramm Jump-plus werden hilfreiche Krücken sein; das Lahmen des Gesamtsystems dagegen werden sie nicht beheben.

Dass es nunmehr aber doch als Herausforderung der gesamten Gesellschaft angesehen wird, kommt zumindest in der Tatsache zum Ausdruck, dass man sich nach Jahren vergeblichen Forderns endlich entschlossen hat, die Verbindlichkeit der Verantwortung eben nicht allein auf staatlicher Ebene zu belassen. Die Bildung eines Fonds durch eine Ausbildungsplatzabgabe aus der Wirtschaft nimmt auch diese Seite in die Verbindlichkeiten der Gesellschaft mit auf.

Der Berufsbildungsbericht des Landes Sachsen-Anhalt belegt eindrucksvoll unser Problem. Durchschnittlich bildet fast jeder zweite ausbildungsberechtigte Betrieb nicht aus

(Herr Gürth, CDU: Warum?)

und längst nicht jeder ausbildungsfähige Betrieb hat sich um eine Ausbildungsberechtigung bemüht.

Allerdings sind es auch in Sachsen-Anhalt vor allem die kleinen Betriebe, welche die Hauptlast der Ausbildung tragen. Das ist positiv und spricht für eine verantwortungsbewusste Zukunftsplanung im Sinne der Unternehmen, aber auch im Sinne der jungen Leute. Den Ausbildungskosten steht durchaus ein erheblicher Ausbildungsnutzen gegenüber, und sie bewirken eine Kostenersparnis im Zusammenhang mit so genannten Rekrutierungskosten pro Fachkraft bei der Personalgewinnung.

Dennoch unterstützen auch wir weiterhin Ausbildungs- und Beschäftigungszuschüsse. Frau Pieper hat Ihren Vorschlag, 3 500 € für jeden Platz zu zahlen, der über dem Vorjahresniveau angeboten wird, sicher auch mit dem Finanzminister und den Finanzpolitikern der FDP abgestimmt.

Der Vorschlag des Arbeitgeberpräsidenten Hundt, die Ausbildungsvergütung für Lehrlinge zu halbieren, um doppelt so viele Ausbildungsplätze zu besetzen, ist allerdings die Ankunft des Niedriglohnsektors in der beruflichen Ausbildung.

(Zustimmung bei der PDS)

Wir kriegen sozusagen Schnäppchen-Azubis.

Da stellt sich bald auch wieder die Frage nach der Qualität der Bildung, wenn die Ausbildereignungsverordnung für fünf Jahre ausgesetzt wird, wie es in der Agenda 2010 verankert ist. Dass gute berufliche Bildung immer noch der wichtigste Schutz vor Arbeitslosigkeit ist, bleibt dabei außen vor.

(Zustimmung bei der PDS)

Meine Damen und Herren! Junge Leute, denen der Start ins Leben misslingt, die keinen Ausbildungsabschluss schaffen, tauchen nicht ganz plötzlich am Ende der Schul- und Berufsbildungszeit auf. Das hat alles eine lange Vorgeschichte, der wir uns gleichermaßen stellen müssen. Insofern sind der Antrag der SPD und der Beitrag von Herrn Püchel Ausdruck dafür, wie selektiv in der Politik das Scheitern von jungen Leuten am Arbeitsmarkt wahrgenommen und behandelt wird.

Die Landesregierung aufzufordern, ihr Paket von Gegenmaßnahmen vorzulegen, ist durchaus logisch. Logisch ist für mich aber auch, dass Politik endlich andere Prioritäten gegenüber jungen Menschen setzt. Es handelt sich doch heute insbesondere in den neuen Ländern um diejenigen, die als Nachwende-Generation voller Hoffnungen und Pläne es einmal besser haben sollten.

Einer Umfrage des Polis-Instituts im Auftrag die Bundespräsidialamtes zufolge sehen 44 % der Befragten der Zukunft mit großen Hoffnungen und 47 % mit gemischten Gefühlen entgegen. Für Jugendliche - das wird in dieser Studie auch belegt - sind ein guter Arbeitsplatz und die berufliche Ausbildung wichtiger denn je. Das heißt, auf Leistungsbereitschaft können wir bauen.

Dass der Bundespräsident gerade eine Tour durch junge Lebenswelten unternimmt, kann dabei insgesamt nur hilfreich sein, wenn es denn am Ende auch wirklich praktische Folgen hätte.

(Zustimmung bei der PDS)

Jugendliche haben nicht die gleichen Startchancen hinsichtlich eines guten Arbeitsplatzes und einer guten be

ruflichen Bildung. Für viele gehört, wie mit dem Armutsbericht des Landes erst unlängst belegt wurde, Armut zur ersten großen Lebenserfahrung. Vor allem Kinder und Jugendliche sind immer mehr auf Sozialhilfe angewiesen. Konsumarmut, Armut an gesundheitsfördernden Lebensumständen, räumliche Armutsmilieus in der Wohngegend und Kontakt- und Kommunikationsarmut können zu Passivität, Kompetenzverlust und zu einer Atmosphäre der Lähmung und Lethargie führen, die von jungen Leuten nur ganz schwer aufgebrochen werden kann; denn Einkommensarmut steht in engstem Zusammenhang mit Bildungsarmut.

Kinder von Eltern mit niedriger Schulbildung realisieren seltener höhere Bildungsabschlüsse. In der Folge wird das Verlassen einer qualifikationsbedingten Einkommensarmut erheblich schwerer. Unterdurchschnittliche Qualifikationen bergen ein weit überdurchschnittliches Arbeitslosigkeitsrisiko, sodass künftige Armutspotenziale vorprogrammiert sind.

Bis zum Jahr 2005 wird die Zahl junger so genannter Erwerbspersonen noch steigen. Danach wird ein Mangel an Nachwuchskräften einsetzen und es wird unter den Ländern einen massiven Wettbewerb um Qualifizierte geben. Schon heute wandern aus Sachsen-Anhalt überdurchschnittlich viele beruflich und akademisch Gebildete aus.

Hinsichtlich der daraus abzuleitenden politischen Schlussfolgerung will ich nichts weiter tun als den Armutsbericht des Landes Sachsen-Anhalt zitieren. Darin heißt es:

„Zusammenfassend deutet vieles darauf hin, dass der Humankapitalbestand des Landes nicht die notwendigen Voraussetzungen zur Entfaltung einer ausreichenden Innovationsdynamik erfüllt. Dies wäre jedoch erforderlich, wenn die Produktionslücke zu den alten Bundesländern geschlossen und damit das Arbeitsmarktproblem gelöst werden soll.

Dieser Befund wiegt umso schwerer,“

- heißt es weiter -

„als die relevanten Indikatoren für die zukünftige Entwicklung“

- also Wanderungssalden und Ausbildungsverhalten -

„eher eine Verschlechterung denn eine Verbesserung der Situation erwarten lassen.“

Damit ist auch anhand des Armutsberichtes des Landes Sachsen-Anhalt eindrucksvoll belegt, dass es bei der Prioritätensetzung der Landespolitik einer Korrektur bedarf. Das Streichen und Kürzen in Bereichen, die über Chancen der Nachfolgegeneration entscheiden, entzieht übrigens nicht nur dem Finanzminister das Potenzial, durch welches die Schuldentilgung des Landes erarbeitet werden soll. Streichungen im Bereich von Kindern und Jugendlichen, angefangen bei Kindertagesstätten über Schulen bis hin zu Hochschulen sowie Forschung und Technologie, bedeuten auch ein Austrocknen der einzigen Bereiche mit bedeutsamen qualitativen Wachstumspotenzialen. Ein Fluss hört auf zu fließen, wenn die Quelle austrocknet.

(Beifall bei der PDS)

Der Ministerpräsident hält sich etwas darauf zugute, dass man ihm nachsagt, er schüre keine Illusionen. Dramatisch geht damit aber auch der Verlust von Visionen

einher. Ein fehlendes Zukunftskonzept macht mutlos, erst recht junge Leute.

„Wenn heute“

- so sagt der Wirtschaftssenator Harald Wolf in Berlin -

„auf die wachsende Bedeutung von Investitionen in das Humankapital hingewiesen wird, dann geht es um weit mehr als um eine qualifizierte Fachausbildung, Nachwuchsförderung, Begabtenförderung usw. Gemeint sind immer auch die sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Umstände, unter denen sich Wissenschaft und Wissen kreativ entwickeln und ihre Potenzen entfalten. Eigentlich sind es die sozialen Kompetenzen einer Gesellschaft, also das Vertrauen der Gesellschaft in die eigenen Fähigkeiten, Probleme zu bewältigen und neue Wege und Lösungen zu finden.“

Dafür sind Wissensvorsprünge zu organisieren, die zugleich zu unserer Botschaft werden. Wir stehen in einem Wettlauf um die Zukunft. Eine Wirtschafts- und Beschäftigungsregion ohne Wissenschaft, ohne Innovationskultur ist keine Wirtschafts- und Beschäftigungsregion.

(Zustimmung bei der PDS)

Sachsen-Anhalt als Bildungsland - das ist die Vision, die jungen Leuten eine Motivation bieten könnte. Lassen Sie mich ein kleines Beispiel zum Abschied bringen: Dem jungen Firmengründer und Forscher Dr. Alexander Olek wurde im Bundesministerium einmal gesagt: Wie, das haben die Amerikaner noch nicht gemacht? Wieso sollten wir dann glauben, dass es funktioniert? - Dazu sage ich: Weil wir es wirklich erst wissen können, wenn wir es überhaupt ausprobiert haben. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Dr. Sitte. - Bevor ich für die FDPFraktion Frau Dr. Röder das Wort erteile,

(Heiterkeit der FDP)

habe ich die Freude, zwei Besuchergruppen begrüßen zu können. Es sind Schülerinnen und Schüler des Friedrich-Gymnasiums Wolmirstedt und Damen und Herren der Selbsthilfegruppe der Rheuma-Liga aus Schönebeck.

(Beifall im ganzen Hause)

Nun bitte Frau Röder.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Erst einmal möchte ich mich bei Herrn Dr. Fikentscher für die ungewohnte Ehre bedanken. Mit „Doktor“ betitelt zu werden, steht mir nicht zu. Aber trotzdem danke.

Die SPD hat einen Antrag auf eine Aktuelle Debatte zu dem Thema „Perspektiven für junge Menschen“ vorgelegt. Frau Dr. Sitte hat es schon gesagt: Das ist ein Thema, das die Politik schon seit Jahren und seit Jahrzehnten beschäftigt und das in diesem Sinne zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich aktuell ist.

(Herr Kühn, SPD: Doch!)

Es ist ein gesamtgesellschaftliches Thema. Die alte Landesregierung stellte sich diesem Thema und die neue

Landesregierung stellt sich ihm in ganz besonderem Maße. Die Landesregierung tut vieles, um die Arbeitsmarktchancen und die Zukunftsperspektiven junger Menschen zu verbessern.