Protokoll der Sitzung vom 12.06.2003

Die Abwanderung setzt sich fort. Im letzten Jahr hatten wir in Sachsen-Anhalt wiederum einen negativen Wanderungssaldo. Die Bevölkerung hat noch einmal um fast 32 000 Menschen abgenommen. Wir alle wissen, dass es oft die Jungen, gut Ausgebildeten sind, die uns verlassen. Und wir wissen, dass sich darunter überproportional viele junge Frauen befinden.

Man muss kein Bevölkerungswissenschaftler sein, um daraus die Konsequenzen für die zukünftige demografische Entwicklung abzuleiten. Kurzfristig mag uns die Abwanderung in den nächsten Jahren entlasten, weil dadurch Druck vom Arbeitsmarkt genommen wird. Auf Dauer stellt sie jedoch ein gravierendes Problem dar. Die Politik ist daher aufgefordert, mit allen Mitteln gegenzusteuern.

Die Landesregierung aber tut auf diesem Weg der Zukunftssicherung entschieden zu wenig. Nicht nur das, sie verstärkt den negativen Trend noch.

Meine Damen und Herren! Wir werden im Verlauf dieser Landtagssitzung ausführlich über das Thema Hochschulen reden. Deshalb will ich mir weitergehende Ausführungen an dieser Stelle dazu sparen.

Meine Damen und Herren! Die Jugend braucht Zukunft. Diesen Satz würden alle im Landtag sofort unterschreiben. Aber die Jugend hat nur dann eine Zukunft, wenn die Politik dazu beiträgt, Perspektiven zu entwickeln und junge Menschen zu fördern, wenn die Politik die richtigen Konzepte entwickelt und Schwerpunkte setzt.

(Zustimmung bei der SPD)

Aber diese Landesregierung und die sie tragenden Fraktionen haben kein Konzept zur Förderung junger Menschen im Land. Systematisch sind seit ihrem Amtsantritt

die beruflichen Chancen innerhalb der Landesverwaltung reduziert worden, und zwar mit der Konsequenz, dass viele, die wir wahrlich gut gebrauchen könnten, ihr Glück außerhalb von Sachsen-Anhalt suchen. Wer möchte es ihnen verdenken, wenn sie solche Signale bekommen, wie sie kürzlich mit einem Brief des Kultusministeriums an die Referendare sowie an die Lehramtsanwärter versandt wurden. Ich zitiere daraus:

„Gleichwohl ist es in Zeiten angespannter finanzieller Situationen erforderlich, Prioritäten zu setzen, die sich nachhaltig auf Einzelne auswirken können. Ungeachtet dieses allgemeinen Hinweises bemühe ich mich weiterhin darum, die Voraussetzungen für die Einstellung von Lehramtsstudierenden in den Vorbereitungsdienst ebenso wie für die Gewinnung von abschließend ausgebildeten Lehrkräften zu schaffen.“

Man muss sich das einmal vorstellen: Das Kultusministerium bemüht sich noch im Juni, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass junge Menschen im August in den Schuldienst eintreten können. Ein solches Vorgehen ist unglaublich, ist ein Affront gegen junge Menschen, die eigentlich glaubten, gute Chancen auf eine Einstellung im Land zu haben.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Frau von Angern, PDS)

Meine Dame, meine Herren auf der Regierungsbank, ich fordere Sie auf, Ihre Politik zu korrigieren. Machen Sie Ihre Hausaufgaben! Auch vor dem Hintergrund der schwierigen Haushaltslage müssen sich Wege finden lassen, jungen Menschen innerhalb der Landesverwaltung eine berufliche Perspektive zu eröffnen. Die Einstellungskorridore für Lehramtsreferendare und junge Lehrer sowie für Polizisten müssen unverzüglich wieder geöffnet werden. Die Landesregierung muss darüber hinaus ihrer Ausbildungsverpflichtung gerecht werden.

(Zustimmung bei der SPD)

Ausbildungsplätze innerhalb der Landesverwaltung müssen in gleicher Anzahl wie in den Vorjahren zur Verfügung gestellt werden. Angesichts der enorm hohen Jugendarbeitslosigkeit muss auch über die Möglichkeit diskutiert werden, den Auszubildenden bzw. Absolventen eine Weiterbeschäftigung zu ermöglichen, die ansonsten von der Arbeitslosigkeit betroffen wären.

Meine Damen und Herren von der Koalition! Junge Menschen brauchen Perspektiven, auch und gerade in Sachsen-Anhalt. Vergessen Sie deshalb bei all Ihren Investitionserleichterungsüberlegungen und Deregulierungsinitiativen nicht, dass es in der Politik auch um konkrete Einzelschicksale geht. Es wäre dringend an der Zeit, dass Sie sich gezielt um diese kümmern. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Dr. Püchel. - Für die CDU-Fraktion erteile ich Frau Marion Fischer das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die jüngsten Arbeitslosenzahlen für Sachsen-Anhalt - hierunter insbesondere ca. 28 000 arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren - spiegeln die Dramatik auf dem Arbeitsmarkt

in Sachsen-Anhalt wider. Auch wir können uns mit dieser hohen Arbeitslosigkeit nicht abfinden. Der Anteil der arbeitslosen Jugendlichen mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen. Aufgrund der lang anhaltend schlechten Konjunkturlage bzw. der ostspezifischen Situation in der Wirtschaftsentwicklung gibt es für junge Leute zum einen das Problem, einen Ausbildungsplatz zu finden, und zum anderen, wenn sie ihn dann gefunden haben, das Problem, den nahtlosen Übergang zu einem gesicherten Arbeitsplatz zu realisieren.

Die Schuld hierfür bei der Wirtschaft zu suchen, ist meiner Ansicht nach grundfalsch. Allen ist nämlich klar, dass die reichhaltige Verfügbarkeit qualifizierter und motivierter Fachkräfte entsprechend den zukünftigen Anforderungsprofilen der Wirtschaft einerseits die beste Vorbeugung gegen Arbeitslosigkeit und Jugendarbeitslosigkeit und andererseits Voraussetzung für ein Wachstum der Wirtschaft ist.

(Beifall bei der CDU)

Um überhaupt beschäftigungswirksam werden zu können, müsste das Wirtschaftswachstum die so genannte Beschäftigungsschwelle überschreiten. Diese Schwelle liegt in den neuen Bundesländern bei ca. 5 %. Gestern gab es die neuen Zahlen zum Wirtschaftswachstum. Ich glaube, von dieser Zahl sind wir noch weit entfernt.

Gerade in den letzten Jahren gingen von der Wirtschaftspolitik der SPD-geführten Landesregierung keinerlei Beschäftigungsimpulse aus.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zuruf von der SPD)

Höchste Insolvenzraten, Betriebe, die mit dem Rücken bereits an der Wand standen, eine negative Gründungsbilanz prägten das Bild der Wirtschaft. Ihre Denkfehler, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, sind Ihnen nicht einmal aufgefallen. Sie haben dafür die Quittung bekommen und wir haben einen Sanierungsfall übernommen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP - Zurufe von der SPD)

Die jetzige Landesregierung hat den richtigen Weg, wenn auch einen steinigen, eingeschlagen.

(Zuruf von der SPD: Ja, ja!)

Die nationale Wirtschaft muss von Bürokratie und Überreglementierung befreit und dadurch gestärkt und wettbewerbsfähiger gemacht werden. Mit den beiden Investitionserleichterungsgesetzen,

(Unruhe bei der SPD)

mit Bundesratsinitiativen zum Beispiel zur Entrümpelung und Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, zur Verbesserung der Liquidität der Unternehmen und zum Bürokratieabbau eröffnet uns die Landesregierung Chancen für eine solide Wirtschaftsentwicklung und damit Chancen für junge Leute, dieses Land mitzugestalten und ihm nicht den Rücken zu kehren.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Die Unternehmen müssen fit gemacht werden und nicht mit Strafabgaben, wie im Moment schon wieder in SPDKreisen diskutiert, nämlich die Ausbildungsplatzabgabe, belegt werden.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Begrüßenswert sind Anreize für Unternehmen, die erstmals ausbilden, wobei der Begriff „erstmals“ durch die Landesregierung neu definiert worden ist, nämlich dahin gehend, dass auch gefördert wird, wenn drei Jahre lang nicht ausgebildet worden ist. Wichtig sind Überlegungen der Landesregierung, bei der Übernahme der Auszubildenden das Bruttoarbeitsentgelt mit bis zu 30 % in Form eines Lohnkostenzuschusses zu fördern.

Eine gute berufliche Erstausbildung als Einstieg in das Berufsleben verbunden mit einem verlässlichen System der Weiterbildung sowie eine vorsorgende Qualifizierung machen das Land für Investitionen attraktiv und bestehende Unternehmen zukunftsfähig. Obwohl die Ausbildungsbereitschaft in Sachsen-Anhalt im Vergleich zu anderen Bundesländern recht hoch ist, reichen die Lehrstellenangebote nicht aus. Um die Ausbildung im dualen System weiterzuentwickeln, gilt es, die wirtschaftliche Basis zu stärken, das heißt, wer mehr Arbeitsplätze will, braucht mehr Arbeitgeber.

Jeder Existenzgründer schafft im Durchschnitt drei Arbeitsplätze. Wenn wir die Selbstständigenquote in Deutschland nur um 0,1 % steigern könnten, würde das 100 000 Arbeitsplätze zusätzlich bedeuten.

Die Gründerbilanz in Sachsen-Anhalt ist mehr als unerfreulich. Mit einer neuen, qualifizierten Existenzgründeroffensive versucht die Landesregierung, bei jungen Menschen Neugier und Bereitschaft zu wecken, selbst unternehmerisch tätig zu sein. Das ist für mich eine höchst wirksame arbeitsmarktpolitische Maßnahme. Die Kommunen, die Hochschulen und die Universitäten werden mit ins Boot geholt, um einer Generation von kreativen Unternehmerinnen und Unternehmern den Weg zu bahnen. Unternehmergeist darf nicht durch überzogene rechtliche, steuerliche oder bürokratische Bestimmungen gebremst werden.

(Zuruf von der CDU: Richtig!)

Mit Experimentier- und Öffnungsklauseln müssen für die neuen Bundesländer Möglichkeiten eröffnet werden, auf spezifische Herausforderungen gezielte Antworten zu geben. Ich verweise auch hierbei auf die Bewerbung Sachsen-Anhalts als Modellregion für Deregulierung und Bürokratieabbau.

Wir werden es uns als Land nicht mehr lange leisten können, durch Abwanderung gut ausgebildetes Humankapital zu verlieren. Wir hoffen nun auf den Reformwillen und auf die Reformfähigkeit der rot-grünen Bundesregierung, mit mutigen Entscheidungen staatlich verordnete Kosten und Regulierungen für Beschäftigung zu senken. Regulierungswahn verspielt Beschäftigungschancen und nimmt nicht nur jungen Menschen die Perspektive.

(Beifall bei CDU und bei der FDP - Herr Gürth, CDU: Sehr richtig!)

Vielen Dank, Frau Fischer. - Nun bitte für die PDS-Fraktion Frau Dr. Sitte.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der SPDFraktion war der Rekordanteil von unter 25-Jährigen an den Arbeitslosenzahlen und die anhaltende Abwanderungswelle unter jungen Menschen Anlass, eine Aktuelle

Debatte zu beantragen - jedenfalls geht das aus der Begründung hervor.

(Herr Gürth, CDU: Das hätte sie schon vor zwei Jahren beantragen können!)

Beide Entwicklungen sind so neu nicht, sie halten seit längerem an; der Versuch, dieser Entwicklung entgegenzusteuern, hält ebenfalls an. Es wurde in den letzten Jahren aber durchaus einiges erreicht.

Das Land Sachsen-Anhalt hat in den vergangenen Jahren aufgrund der Kombination von Landes-, Bundes- und EU-Mitteln Entwicklungen aufzuzeigen, die sich positiv von Tendenzen in anderen Ländern abheben. Frau Fischer hat eben darauf hingewiesen. Es bleibt aber insgesamt ein außerordentlich mühsames Unterfangen.

Alle Gegenmaßnahmen - das muss man ehrlicherweise feststellen - haben sowohl in Sachsen-Anhalt als auch in allen anderen neuen Ländern nur verhindert, dass die Zahlen noch höher steigen konnten. Den Prozess wirklich aufzuhalten oder gar umzukehren, gelingt nur in einzelnen Bereichen bzw. Branchen. Das Grundproblem ist uns geblieben.

Dass dieser Antrag nun mit der Verabschiedung der Agenda 2010 auf dem Sonderparteitag der SPD zusammenfällt, ist zeitlich natürlich rein zufällig, inhaltlich dagegen überhaupt nicht. Nicht nur die SPD, sondern alle Parteien, ja die gesamte Gesellschaft müssen sich dieser Aufgabe stellen. Schon im Herangehen wird klar, dass es deutliche Unterschiede zwischen den politischen Kräften gibt.

Wir sehen in diesen Zahlen von Jugendarbeitslosigkeit und Abwanderung kein temporäres Problem. Dass es vielen jungen Menschen schwer fällt, erfolgreich in ein selbstbestimmtes Leben einzusteigen, mag im Einzelfall subjektiv verursacht sein, als so massenhafte Erscheinung muss es jedoch als ein gesellschaftliches Grundproblem bewertet und behandelt werden.