Protokoll der Sitzung vom 21.06.2002

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es gibt meines Erachtens keinerlei Anzeichen dafür, dass diese Grundrechte in unserer Gesellschaft ge

fährdet wären. Viele jüdische Migranten aus Russland haben inzwischen in Sachsen-Anhalt eine neue Heimat gefunden. Wir alle finden das gut und unterstützen das nach unseren Kräften. In ganz Deutschland gehört jüdisches Leben und auch jüdische Tradition längst zu unserer Kultur.

Ich finde das auch gut so. Die Geschichte, die Deutschland gerade auch im Zweiten Weltkrieg erlebt hat, durch die wir uns betroffen fühlen, schuldig fühlen für das, was insbesondere den jüdischen Bürgerinnen und Bürger widerfahren ist, verpflichtet insbesondere uns Deutsche, dieses jüdische Leben als Bereicherung für unser Land zu empfinden und alles daranzusetzen, dass es nie wieder zu Antisemitismus in Deutschland kommt.

Ich frage mich, warum wir uns ausgerechnet heute in der aktuellen Stunde, die sich mit aktuellen Problemen des Landes beschäftigen soll, über dieses Thema unterhalten. Frau Dr. Sitte hat darauf hingewiesen: Am 5. Juni fand im Deutschen Bundestag, beantragt von der Regierungskoalition der rot-grünen Bundesregierung, eine Aktuelle Stunde dazu statt.

Der Liberalismus, die FDP, wendet sich gegen jegliche Vorurteile und Ressentiments rassistischer und religiöser Art. Wir stehen für Weltoffenheit und Toleranz, für Vielfalt in der Gesellschaft.

Aber vielleicht gibt es für diese aktuelle Stunde doch ein aktuelles Ereignis aus der Sicht der PDS. Ist es vielleicht ein Wahlkampf- oder Ablenkungsmanöver von den aktuellen Problemen, die wir im Lande haben, oder ist es die öffentliche Auseinandersetzung mit der Politik Scharons, Frau Sitte, die Ihnen nicht ganz gefällt?

(Herr Dr. Polte, SPD: Möllemann!)

Es ist keine Glaubens-, sondern eine Friedensfrage, eine Menschenrechtsfrage, die wir im Nahen Osten zu diskutieren haben, nämlich das Bekenntnis von Demokraten, dass Gewalt eben kein Mittel von Politik sein darf, dass es kein Widerstandsrecht der Welt gibt, das palästinensische Terroristen legitimiert, sich selbst zum Sprengsatz zu machen und unschuldige Menschen, Frauen und Männer, mit in den Tod zu reißen. Das muss Politik, das müssen alle Demokraten in diesem Land verurteilen.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Zustim- mung von der Regierungsbank)

Es gehört aber auch das Bekenntnis dazu, dass die israelische Regierung nicht legitimiert ist, durch ihre Siedlungspolitik palästinensische Gebiete zu besetzen.

Wir alle wollen und fordern Frieden im Nahen Osten. Seit langem haben sich liberale Außenminister in dieser Bundesrepublik, ob Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher oder Klaus Kinkel, dafür stark gemacht, dass es zu Friedensbeziehungen in dieser Region kommt. Wir machen uns zum heutigen Zeitpunkt für eine Konferenz für Frieden und Zusammenarbeit im Nahen Osten stark. Die Sprache des Nahen Ostens ist aber die Sprache der Gewalt und der Menschenrechtsverletzung.

Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte wird keiner je das Existenzrecht Israels infrage stellen. Frieden wird es im Nahen Osten aber erst geben, wenn es einen eigenständigen palästinensischen Staat gibt.

Warum bekommt man, wenn man diese Kritik an der israelischen Regierung, aber nicht am israelischen Volk

ausspricht, immer wieder den Vorwurf, man würde antisemitischen Vorurteilen oder Ressentiments anheim fallen? - Ich finde, es ist die Pflicht der Demokraten, von uns Demokraten, von allen politischen Parteien in diesem Land, darauf hinzuweisen, dass wir, wenn wir den Frieden wollen, nicht nur das Existenzrecht Israels gesichert sehen wollen, sondern wir auch einen eigenständigen Staat Palästina im Nahen Osten brauchen. Das ist verantwortungsvolles politisches Denken; denn wir alle können den Terror und die Gewaltszenen aus dem Nahen Osten nicht mehr ertragen und die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt auch nicht.

Ich stelle aber noch einmal die Frage: Warum diese Debatte heute im Landtag? Braucht die PDS ein Ablenkungsmanöver von ihrer schlechten Politik oder braucht sie zur Motivation der eigenen Leute ein Feindbild? - Dieses Manöver ist zu durchsichtig und es wird fehlschlagen.

Antisemitismus hat in Deutschland keine Chance, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP, bei der CDU und von der Regierungsbank)

Wir sollten uns deshalb nicht in Scheindebatten aufregen, sondern uns den wirklichen Problemen wie Arbeitslosigkeit oder besseren Bildungschancen in Sachsen-Anhalt widmen, wozu im Übrigen auch die Erziehung zur Toleranz gehört. Toleranz zeigt sich letztlich im Handeln und im Leben selbst. Je bessere Lösungen wir dafür finden, umso weniger werden Menschen auf Populisten hören - auf die von rechts nicht und auf die von links übrigens auch nicht.

„Antisemitismus darf und wird in Deutschland keine Chance bekommen. Das sind wir uns selbst, das sind wir unserer Geschichte und der Zukunft schuldig.“

Das waren die Worte Wolfgang Schäubles im Deutschen Bundestag. Ich zitiere in diesem Zusammenhang gern einen Demokraten aus einer anderen Partei. Ich glaube, das muss unser gemeinsames demokratisches Anliegen sein. - Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP, bei der CDU und von der Regierungsbank)

Herzlichen Dank, Frau Pieper. - Die Debatte wird fortgeführt durch einen Beitrag der SPD-Fraktion. Herr Dr. Fikentscher, bitte ergreifen Sie das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In diesen Wochen wird deutschlandweit über Antisemitismus debattiert, nun auch in den Parlamenten: vor zwei Wochen in Nordrhein-Westfalen, vorige Woche in Niedersachsen, jetzt bei uns und in der kommenden Woche noch einmal im Deutschen Bundestag.

Obwohl wir alle wünschen müssten, dass eine solche Debatte nicht nötig wäre, ist leider festzustellen, dass sie nicht nur nötig, sondern offenbar unumgänglich ist. Die meisten von uns, so auch ich, hätten es kaum für möglich gehalten, dass dieser Fall einmal eintreten würde.

Ausgangspunkt dafür sind Entwicklungen und Äußerungen, die in der nordrhein-westfälischen FDP ihren Ur

sprung haben, insbesondere in den Äußerungen von Herrn Möllemann. Folgerichtig ist auch die erste parlamentarische Debatte darüber im Düsseldorfer Landtag geführt worden. Dort wurde ein Antrag der Fraktionen der SPD, der CDU und des Bündnis 90/Die Grünen mit der Überschrift „Für Antisemitismus gibt es keine Rechtfertigung“ mit großer Mehrheit angenommen. Nur die FDP-Abgeordneten stimmten dagegen. Der Antrag enthält den Satz:

„Teile der FDP nutzen antiisraelische und antisemitische Stimmungen aus, um aus wahltaktischen Gründen gezielt rechtspopulistische Tendenzen zu verstärken.“

So beschlossen in Nordrhein-Westfalen.

Genau dies ist der zentrale Vorwurf; genau dies ist der Anlass für unsere heutige Debatte. Klarzustellen ist dabei zunächst: Niemand behauptet, die FDP sei eine antisemitische Partei.

(Herr Dr. Schrader, FDP, lacht)

Allerdings waren Liberalismus und FDP in ihrer Geschichte dafür wiederholt anfällig. Niemand sagt, Herr Möllemann sei ein Antisemit. Er hat jedoch den Eindruck erweckt, dass es sich bei dem von ihm Gesagten nicht um zufällige Äußerungen handelt, sondern dass hinter dem Ganzen eine Strategie, ein politisches Konzept steht.

Es ist nicht gelungen, Herrn Möllemann und damit Teile der FDP dazu zu bewegen, für die notwendige Klarheit zu sorgen.

(Zuruf von Frau Pieper, FDP)

Er arbeitet - so der begründete Vorwurf - daran, das antiisraelische und antisemitische Wählerpotenzial, das in Deutschland auf 15 % geschätzt wurde, durch gezielte Äußerungen an sich zu binden und deren Stimmen zu gewinnen. Das „Projekt 18“ - so wird vermutet - beruht auch auf solchen Überlegungen.

(Frau Pieper, FDP: Das ist falsch! Das ist reine Wahlkampfrhetorik!)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! An dieser Stelle sollte auch in einer Spaßpartei der Spaß ein Ende haben.

(Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Solche Haltungen haben schon einmal dazu beigetragen, bitteren Ernst entstehen zu lassen. Der Antisemitismus ist die Abneigung oder Feindschaft bis hin zum Hass gegenüber dem Judentum. Der moderne Antisemitismus richtet sich gegen die Menschen jüdischer Herkunft. Mit Religion hat das nichts mehr zu tun - im Gegensatz zu den bekannten Judenverfolgungen im Mittelalter. Der Jude wurde zum Inbegriff des Negativen und konnte anschließend allen Verfolgungen bis hin zur Vernichtung ausgesetzt werden.

Die Verbrechen der deutschen Nationalsozialisten an dem europäischen Judentum führten zu einer weltweiten Ächtung des Antisemitismus. In Deutschland gab es ernsthafte und erfolgreiche Bemühungen, den Antisemitismus zu überwinden. Nach dem Grundgesetz werden antisemitische Handlungen und Äußerungen strafrechtlich verfolgt.

Doch der Antisemitismus ist als kollektives Vorurteil keineswegs überwunden. Seine Ächtung jedoch erschwert ein offenes Bekenntnis zu ihm.

(Frau Pieper, FDP: Von wem denn, Herr Dr. Fi- kentscher?)

- Wer sich daran nicht hält, spielt mit dem Feuer, Frau Pieper.

Wer Unklarheiten nicht rasch und unmissverständlich aus der Welt schafft, setzt sich dem Vorwurf aus, ein politisches Kalkül zu verfolgen.

(Zuruf von der FDP: Das stimmt nicht!)

Es gibt feine Unterschiede bei diesem Thema. Bei solchen sensiblen Bereichen kann man nicht einfach daherkommen mit dem Satz „Man wird doch wohl noch sagen dürfen...“ und dann Dinge aussprechen, bei denen man wissen muss, dass das Publikum die Schlussfolgerung zieht: Jetzt muss endlich ein Schlussstrich her.

(Frau Pieper, FDP: Was wurde denn gesagt? - Zuruf von Herrn Bischoff, SPD - Unruhe)

Man ist im politischen Raum auch dafür verantwortlich, was geschlussfolgert werden kann, Frau Pieper. Man ist in gewisser Weise auch dafür verantwortlich, von welcher Seite der Beifall kommt. Und Herr Möllemann erhielt Beifall von Jörg Haider.

(Oh! und Unruhe bei der FDP)

Mit dem Sprachgebrauch über die grausamen Auseinandersetzungen im Nahen Osten ist es das Gleiche. Man muss die Selbstmordanschläge ablehnen, aber gleichermaßen die israelische Reaktion infrage stellen. Das alles darf man. Aber wenn man bei dieser Kritik hinzufügt, dass das Verhalten Israels den Antisemitismus schürt, dann darf man das nicht; denn damit hofft man auf die Mobilisierung jener 15 % in Deutschland, die heimlich so denken.

(Frau Pieper, FDP: Sie scheinen ziemliche Angst vor den 18 % der FDP zu haben! - Herr Bischoff, SPD: Unverschämtheit! Bei diesem Thema! - Un- ruhe)

Die Attacken gegen Michel Friedman sind ebenso differenziert zu betrachten. Er war Gast unseres SPD-Parteitages am 2. Juni und erhielt lang anhaltenden Beifall, und das gewiss nicht, weil er ein CDU-Politiker ist, nicht weil wir alle seine Talkshows besonders schätzen und nicht weil er als Person allen so sympathisch ist, sondern allein deshalb, weil wir uns dagegen wenden, dass er persönlichen Angriffen ausgesetzt ist, weil er ein Jude ist.