Protokoll der Sitzung vom 07.05.2004

Der Prozess der Osterweiterung bietet die Chance, dass sich Deutsche und Bürger aus den Beitrittsländern noch eher auf Augenhöhe begegnen als bisher. Leider habe ich in den vergangenen Jahren nicht selten erleben müssen, dass sich manche Ostdeutsche gerade auch in Tschechien ähnlich überheblich aufgeführt haben, wie ich es in den 70er-Jahren bei Westdeutschen in Rumänien erlebt habe. Das ist nicht gut; denn für diese Überheblichkeit gibt es keinen Anlass.

Die osteuropäischen Staaten hatten nach der Wende keinen starken Partner an der Seite wie wir. Sie mussten allein auf sich gestellt den Umbau der Gesellschaft bewerkstelligen. Die große Solidarität, die wir nach der Wiedervereinigung gerade aus dem Westen erfahren haben, können wir jetzt ein Stück an die weitergeben, mit denen wir 40 Jahre Seite an Seite mehr oder weniger brüderlich verbunden waren.

Meine Damen und Herren! Die Osterweiterung kann auch endgültig Wunden heilen, die der Krieg und die damit verbundene Vertreibung geschlagen haben. Unionsbürger können sich innerhalb der gesamten EU frei bewegen, aufhalten, arbeiten und wohnen. Sie haben sogar die Möglichkeit des Erwerbs von Grundeigentum, nach Übergangsfristen zum Beispiel auch in Polen und Tschechien. Gerade auch dadurch erledigen sich viele Diskussionen von selbst, die in der Vergangenheit mit diesen Nachbarn immer wieder aufgeflammt sind.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang auch daran, dass Bürger aus den Beitrittsländern, die schon seit vielen Jahren bei uns leben, nun als EU-Bürger endlich an Europa- und Kommunalwahlen teilnehmen können und dies auch unbedingt tun sollten.

Meine Damen und Herren! Wir dürfen auch die weiteren Beitrittskandidaten nicht vergessen. Ich erwähne hier Bulgarien. Es ist auch ein schöner Erfolg für uns, dass die Leiterin der Begegnungsstätte des Landes SachsenAnhalt in Plovdiv Frau Dr. Mariana Tcholakova am 23. April 2004 das Bundesverdienstkreuz am Bande für ihre Arbeit im Rahmen der Völkerverständigung verliehen bekommen hat. Ich möchte von dieser Stelle aus

und, wenn ich es darf, auch in Ihrem Namen Frau Tcholakova hierzu gratulieren.

(Zustimmung bei allen Fraktionen)

Wenn es zum Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 kommt, ist Sachsen-Anhalt an dieser Stelle gut positioniert.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich zum Abschluss ein Wort in eigener Sache sagen. Als Landtag sind wir bisher leider nicht in der Lage gewesen, beständige Kontakte nach Osteuropa aufzubauen. Ich denke, dies ist eine Herausforderung für die Zukunft, der wir uns alle stellen sollten; denn Europa ist eben mehr als nur eine Wirtschaftsunion, Europa ist auch eine politische und eine soziale Union. In all diesen Bereichen muss ein jeder von uns seiner Funktion, seiner Verantwortung gerecht werden, auch der Landtag von Sachsen-Anhalt. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Dr. Püchel.

Herr Präsident, wenn Sie gestatten, möchte ich noch einen Satz in eigener Sache sagen.

Am gestrigen Tage hatten wir eine Diskussion über die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses. Im Anschluss daran gab Herr Gallert ein Fernsehinterview, in dem er sich in Bezug auf einen Zeitungsartikel so äußerte, dass es ein Gespräch zwischen Herrn Böhmer und mir gegeben habe, in dem Herr Böhmer versucht habe, Einfluss auf mich zu nehmen, dass dieser Untersuchungsausschuss nicht eingesetzt wird. - Dies ist nicht der Fall. Dies habe ich nie gesagt.

Ich habe über dieses Gespräch geschwiegen, aber ich sage jetzt, worüber es in diesem Gespräch eindeutig ging: Es war zu einem Zeitpunkt, als die Einsetzung des Untersuchungsausschusses überhaupt noch nicht in Sicht war, als darüber noch gar nicht diskutiert wurde. Es ging darum, wie wir mit den Kleinen Anfragen und den Antworten darauf umgehen - für sie war Vertraulichkeit festgelegt worden -, wie wir diese öffnen können. Um mehr ging es nicht und um nichts anderes.

Das, was in der Zeitung stand und gestern im Fernsehen wiederholt wurde, stimmt so nicht. Das muss klargestellt werden.

(Frau Feußner, CDU: Tolle Leistung! Sehr schön! - Zuruf von der CDU: Prima!)

Das ist auch eine Frage des Vertrauens zwischen Herrn Böhmer und mir. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung bei der FDP)

Das war also eine nicht angemeldete Erklärung außerhalb der Tagesordnung. - Jetzt geht es mit dem Beitrag der FDP-Fraktion weiter. Bitte, Herr Kosmehl.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Kollege Püchel, richtig ist, Ängste im Bereich

der inneren Sicherheit zu schüren, ist Panikmache. Dann aber, Herr Dr. Püchel, verstehe ich Ihre zentrale Werbebotschaft, die der SPD, im Europawahlkampf nicht: Friedensmacht.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Das ist nur eine Bot- schaft!)

Mehr haben Sie anscheinend inhaltlich nicht zu bieten.

(Frau Budde, SPD: Das ist die Voraussetzung für alles andere! Sie müssen mal nachdenken!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am 16. April 2003 wurde in Athen mit der Unterzeichnung der Beitrittsverträge die fünfte Erweiterungsrunde der Europäischen Union besiegelt. Vor sechs Tagen, am 1. Mai 2004, ist diese Erweiterung nun Wirklichkeit geworden. Die Europäische Union hat zehn neue Mitgliedstaaten.

Oft wird von der größten Erweiterung der Union gesprochen. Die Statistik belegt dies nur teilweise. So war der Beitritt Österreichs, Schwedens und Finnlands im Jahr 1995 die flächenmäßig größte Erweiterung und der Beitritt Großbritanniens, Dänemarks und Irlands im Jahr 1972 die bevölkerungsmäßig größte Erweiterung. Einzig im Hinblick auf die Anzahl der beigetretenen Staaten ist die nun vollzogene Erweiterung Spitze. Diese Erweiterung um zehn neue Mitgliedstaaten ist aus meiner Sicht aber auch die historisch bedeutsamste Erweiterung der Europäischen Union.

Mit dem Beitritt überwiegend osteuropäischer Staaten wird die Teilung Europas, die unseren Kontinent beinahe sechs Jahrzehnte beherrscht hat, endlich überwunden. Wir begrüßen daher insbesondere Ungarn, Polen, Tschechien und die Slowakei. Die Menschen in diesen Staaten haben vor 15 Jahren das Ende des eisernen Vorhangs eingeleitet und uns Deutschen damit erst die Möglichkeit zur Wiedervereinigung unseres Volkes eröffnet.

Während die neuen Bundesländer automatisch Teil der Europäischen Union wurden, mussten diese Länder bis heute warten. Nun sind auch sie Teil der Europäischen Union.

Wir begrüßen auch die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die ihre erst vor knapp zwölf Jahren errungene Unabhängigkeit zumindest teilweise zugunsten der Mitgliedschaft in der Europäischen Union aufgegeben haben.

Wir heißen Slowenien und Malta willkommen und zudem die Republik Zypern, wenn auch bedauerlicherweise vorerst nur den griechischen Teil. Ich glaube, wir Deutschen können beurteilen, welche Folgen die Teilung eines Volkes mit sich bringt und wie wichtig es ist, diese zu überwinden. Das Problem des geteilten Zyperns ist nun ein europäisches Problem, das es auf absehbare Zeit zu lösen gilt. Dafür muss sich Deutschland gerade aufgrund seiner eigenen Erfahrungen besonders einsetzen.

Um eine Feststellung kommt man aber auch nach dem 1. Mai 2004 nicht herum: Die Europäische Union ist an ihre Grenzen gestoßen. Eine Union mit 25 Mitgliedern kann einfach nicht mit den Institutionen gelenkt werden, die ursprünglich nur für eine Union der sechs Mitgliedstaaten geschaffen wurden. Die Europäische Union ist nicht bestens vorbereitet auf die Herausforderungen der Erweiterung, aber auch nicht auf die Herausforderungen einer sich mehr und mehr globalisierenden Welt.

Wir Deutschen - das hat Staatsminister Herr Robra angesprochen - sollten aber nicht nur nach Brüssel oder Straßburg schauen. Wir haben längst den Anschluss verloren. Deutschland war lange Zeit Lokomotive für das Wirtschaftswachstum in Europa. Heute sind wir nur noch der letzte Wagen und manchmal, meine Damen und Herren, habe ich das Gefühl, Schröder und Fischer stehen schon an der Bremse.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die europäische Integration kann nur voranschreiten, wenn es gelingt, den bestehenden Reformbedarf zugunsten einer starken Union, einer Union der Bürger, zu lösen. Hierzu müssen Organisation und Entscheidungsabläufe für die Bürger transparenter und somit verständlicher und bürgernäher gestaltet werden.

Erst dann wird es beispielsweise auch gelingen, bei Wahlen zum Europäischen Parlament eine akzeptable Wahlbeteiligung zu erreichen. Dies wäre gerade am 13. Juni 2004 wichtig; denn in den kommenden Jahren werden noch große Entscheidungen, weiter reichende Entscheidungen als bisher, für die Bürger der erweiterten Union getroffen. Es ist also unser aller Aufgabe, die Wählerinnen und Wähler in Sachsen-Anhalt in den nächsten Wochen zu mobilisieren und ihnen die Wichtigkeit dieser Wahl zu verdeutlichen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Der im Juli 2003 vom Konvent vorgelegte Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa hat für die Erweiterung und für die sich damit zuspitzenden Herausforderungen und Probleme bereits einige Lösungswege aufgezeigt. Leider konnte die Regierungskonferenz von Rom keine Einigung herbeiführen.

Die sich nun abzeichnende Verabschiedung der Verfassung noch im ersten Halbjahr 2004 macht Hoffnung darauf, dass es gelingen wird, die Europäische Union, wenn auch im Nachgang, doch noch fit zu machen für die Aufgaben einer Union mit 25 Mitgliedstaaten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es wird Sie sicherlich nicht überraschen, dass ich Sie an dieser Stelle, auch angesichts von Erklärungen führender Politiker der SPD, des Bündnis 90/Die Grünen und der CDU/CSU, nochmals auf einen Volksentscheid über die europäische Verfassung ansprechen möchte, so wie ich das bereits in vergangenen Plenardebatten getan habe.

Die FDP-Fraktion will die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen. Sie sollen an der Weiterentwicklung Europas teilnehmen können und so ein Stück mehr Identifikation mit Europa erlangen. Aus diesem Grunde wird die FDPBundestagsfraktion in den nächsten Wochen erneut einen Gesetzentwurf einbringen, um einen Volksentscheid zur europäischen Verfassung im Grundgesetz zu verankern. Vielleicht hat er diesmal mehr Erfolg.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Europäische Union wächst vor allem nach Osten. SachsenAnhalt rutscht vom Rand in die Mitte der erweiterten Union. Ich möchte feststellen, dass trotz der Schwierigkeiten, die die erweiterte Union noch zu lösen hat, die Chancen, die sich durch diese Erweiterung ergeben, auch für Sachsen-Anhalt deutlich überwiegen. Lassen Sie mich dies kurz an zwei Beispielen verdeutlichen.

Das erste Beispiel ist der Tourismus. Die Tourismusbranche in Deutschland rechnet in den nächsten Jahren mit einem deutlichen Wachstum. Bereits im Jahr 2003 sind 15 % der Auslandsreisen aus den osteuropäischen

Staaten auf das Reiseziel Deutschland entfallen. Ein Wachstum mit steigender wirtschaftlicher Prosperität ist zu erwarten. Zusätzliche Wirtschaftsbeziehungen werden auch das Segment der traditionellen Geschäftsreisen weiter vergrößern.

Nach Einschätzung der Deutschen Zentrale für Tourismus dürften davon insbesondere die benachbarten ostdeutschen Bundesländer profitieren. Sachsen-Anhalt sollte diese Chance nutzen und diese Wachstumsbranche unseres Bundeslandes weiter ausbauen, wie wir das bereits in den vergangen zwei Jahren zielstrebig verfolgt haben.

Das zweite Beispiel ist das Handwerk. Im Vorfeld der Erweiterung sind durch zahlreiche Kontaktbörsen bereits viele Verbindungen zu den Beitrittsländern geknüpft worden. Auch ein Kontaktbüro im Beitrittsland Estland, in Tallinn, und der Austausch von Lehrlingen und Gesellen mit den Beitrittsländern haben die Chancen Sachsen-Anhalts, in den Beitrittsländern Fuß zu fassen, erhöht. Trotz erhöhtem Wettbewerbsdruck sehen auch die Handwerkskammern Magdeburg und Halle gute Chancen, qualitativ hochwertige Erzeugnisse in den Osten zu exportieren und damit von der Erweiterung zu profitieren.

Diese konkreten Beispiele, aber auch die Chancen auf größere kulturelle und geistige Vielfalt, eine intensivere Zusammenarbeit in den Bereichen Polizei und Justiz und die Stärkung von Frieden und Sicherheit in Europa zeigen mir, dass wir den Bürgern die Angst vor einer erweiterten Union nehmen sollten.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Als Teil der jungen Generation, die die Ursachen der Teilung des Kontinents und die Zeit der Teilung des Kontinents nicht oder nur teilweise miterlebt hat, möchte ich abschließend noch eine Bemerkung anfügen: Ohne die wirtschaftliche Weiterentwicklung in allen Regionen Europas, ob alt oder neu, kann Europa im internationalen Vergleich nicht bestehen. Daher gilt es, uns nicht entmutigen zu lassen, sondern schwierige Probleme mutig anzupacken und zu lösen.

Wir haben einen langen Weg vor uns - in Europa, aber auch in Deutschland. Wir sollten auf diesem Weg eines nicht vergessen - und diejenigen, die es vergessen, sollten wir an die folgenden Worte erinnern, die der Altbundeskanzler Helmut Kohl am 1. Mai 2004 gesagt hat -:

„Das“

- die Erweiterung -

„ist eine Glücksstunde, und ich möchte uns allen wünschen, dass uns dieses Glück erhalten bleibt, auch im Alltag mit all seinen Problemen, und dass wir nicht die Visionen aus den Augen verlieren.“

Ähnlich hat es Hans-Dietrich Genscher formuliert:

„Nicht das alte oder das neue Europa, sondern das junge Europa beginnt eine Zukunft.“