Protokoll der Sitzung vom 09.07.2004

Mit einer breiten öffentlichen Debatte über die Verfassung, ihre Vor- und Nachteile hätten die Chancen und die Grenzen der Europäischen Union verdeutlicht werden können.

Zweitens. Die EU-Erweiterung wurde in diesem Hause mit einer Regierungserklärung gewürdigt. Das war gut so; denn der Beitritt von zehn Staaten wird die Union in den nächsten Jahren erheblich verändern. Die europäische Verfassung wird, wenn sie denn im Jahr 2007 in Kraft treten sollte, de facto eine Neugründung der EU sein und nicht nur eine bloße Fortschreibung der Verträge, wie es bisher gewesen ist. Deshalb wird ihre Unterzeichnung am 20. November 2004 auch in Rom stattfinden, wo schon die Verträge zur Gründung der EWG unterzeichnet wurden.

Insofern wäre ein Debatte im Landtag zum Thema Verfassung vor der Zustimmung im Bundesrat durch die Landesregierung aus unserer Sicht ein Akt gewesen, der diesem historischen Einschnitt - unabhängig davon, wie man zu dieser Verfassung steht - angemessen gewesen wäre.

(Zustimmung bei der PDS und von Herrn Rothe, SPD)

Und es wäre ein Stückchen Demokratie gewesen, das den Landeshaushalt nicht belastet, aber Positionen und Auffassungen nachvollziehbarer gemacht hätte.

Drittens. Seit knapp einem Jahr wird im Rahmen einer Kommission von Bundestag und Bundesrat über das Verhältnis von Bund und Ländern, Landesregierungen und Bundesregierung debattiert. Auf die Tagesordnung, wenn auch nicht auf die dieser Kommission, gehörte eigentlich auch das Verhältnis von Landesregierungen zu Landesparlamenten.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen! Wir alle sind zwar gewählt, aber manchmal merken wir doch, wie eng unsere Grenzen sind, wenn es gilt, als Abgeordnete etwas zu bewirken. Ich weiß, dass Europapolitik Bundespolitik ist und dass wir als Landesparlament dann bestenfalls EU-Richtlinien über nationales Recht in Landesrecht umsetzen dürfen.

Ich habe nichts gegen Debatten, die uns auch noch künftig bevorstehen werden, zum Beispiel über die Umsetzung der fleisch- und geflügelfleischhygienerechtlichen Vorschriften. Diese Debatte hat meine Partei sehr ernst genommen,

(Herr Gallert, PDS: O ja! - Heiterkeit und Zustim- mung bei der PDS)

um nur ein Beispiel der Wirkungen der EU-Politik zu nennen.

Insofern wäre eine Debatte zur EU-Verfassung jetzt, nachdem sie vorliegt, auf Landesebene nur recht und billig gewesen.

Die Regierungschefs haben am 18. Juni 2004 einem Verfassungsentwurf zugestimmt, den wir im Detail noch nicht kennen. Während der Regierungskonferenz und bei den EU-Gipfeln gab es Veränderungen.

Gerade hierbei ist es der Teufel, der im Detail steckt. Uns liegt jetzt eine vorläufige Fassung vor. Aber erst im Oktober wird eine autorisierte deutsche Fassung vorliegen. Da diese Änderungen aber im Unterschied zur Arbeitsweise im Konvent hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wurden, sollten wir uns mit den Inhalten und deren Auswirkungen auseinander setzen, bevor ein Votum gefällt wird.

Ich möchte nur auf einige wenige Punkte verweisen, zu denen es zum einen grundsätzlich verschiedene Positionen von Landesregierung und PDS-Fraktion gibt, zum anderen aber auch Auswirkungen auf die Entwicklung in unserem Land möglich sind, denen wir uns unabhängig von unserem politischen Grundansatz stellen müssen.

Im Verfassungsentwurf wird die Ausrichtung auf eine neoliberale Wirtschaftspolitik der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb festgeschrieben. Das wird nun durch die zu Artikel 376 eingefügte Erklärung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt zusätzlich bekräftigt. In der Pressemitteilung der Landesregierung begrüßt diese den Stabilitäts- und Wachstumspakt als tragende Säule der europäischen Wirtschafts- und Finanzpolitik und kritisiert die Bundesregierung für ihre Haushaltspolitik.

Abgesehen davon, dass die Koalition mit dem gestrigen Nachtragshaushalt einer weiteren Nettoneuverschuldung des Landes zugestimmt hat, warnen inzwischen nicht nur PDS-Politikerinnen und -Politiker vor dem Festhalten an den Defizitkriterien und an der starren und willkürlichen Begrenzung der Neuverschuldung auf 3 %. Außerdem bleibt die europäische Verfassung mit der nachdrücklich herausgehobenen Bedeutung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes und dem Vorrang des Ziels der Preisstabilität hinter dem deutschen Grundgesetz zurück, das von der prinzipiellen Offenheit der Wirtschaftsordnung ausgeht.

Nicht unwichtig für die künftige Entwicklung sind auch die Auswirkungen der künftig alleinigen Zuständigkeit der Europäischen Union in Handelsfragen. Der Ministerrat beschließt künftig die internationalen Handelsabkommen, und die Mitgliedstaaten brauchen diese nicht mehr, wie es bisher üblich war, zu ratifizieren. Wie groß sind dann noch die Spielräume der Mitgliedstaaten und der Regionen bei der Gestaltung der internationalen Handelsverträge? Dazu gehören künftig auch die Aushandlung und der Abschluss von Handelsverträgen, die kulturellen Dienstleistungen sowie Dienstleistungen des Sozialen, des Bildungs- und des Gesundheitswesens umfassen.

Nach dem Vertrag von Nizza fielen diese bisher in den Bereich der geteilten Zuständigkeit von Union und Mitgliedstaaten. Jetzt wird lediglich eine einstimmige Entscheidung des Rates benötigt - ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis -, „wenn diese Abkommen die kulturelle und sprachliche Vielfalt in der Union beeinträchtigen könnten bzw. wenn diese Abkommen einzelstaatliche Organisationen ernsthaft stören und die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für ihre Erbringung berühren könnten.“

Wer stellt nun fest, wann wer oder was ernsthaft gestört ist? Sind es die Organisationen, die Mitgliedstaaten oder entscheidet das die Europäische Kommission?

Im Bereich der Daseinsvorsorge ist die EU nach wie vor am Wirken. Auch wenn es zunächst keine Rahmengesetzgebung für Dienstleistungen von allgemeinem, nicht wirtschaftlichem Interesse geben soll, so scheint es

doch möglich, dass auf der Grundlage der Verfassung die EU in Zukunft Vorgaben machen könnte, zum Beispiel zur Wasserversorgung oder zur Erbringung sozialer Dienste. Selbst der Tourismus ist nur im Zuge der Veränderungen in das Blickfeld der EU gerückt.

Wir können auch nicht die positive Wertung von Herrn Staatsminister Robra zum so genannten Frühwarnsystem teilen. Es stimmt, es ist notwendig und sinnvoll, dass die nationalen Parlamente bereits im Vorfeld zu EU-Gesetzen ihr Veto einlegen können, wenn sie nachweisen, dass die europäischen Regelungen in die nationale Gesetzgebung eingreifen. Aber der Zeitraum von sechs Wochen ist viel zu knapp, um die Meinung der Länderparlamente einzuholen. Selbst für die Landesregierungen dürfte das Zeitfenster mehr als eng sein. Dieses System wird also höchstens die Bundesregierung nutzen können.

Die Palette der offenen und diskussionswürdigen Fragen ist groß. Auf die Probleme der militärischen Aufrüstung bin ich wiederholt eingegangen. Wir erachten es deshalb als sinnvoll, dass sich alle Ausschüsse mit dem Verfassungsentwurf beschäftigen; denn es gibt kein Politikfeld, das von europäischer Politik nicht betroffen ist. Vor allem aber sind die Bürgerinnen und Bürger betroffen.

Insofern ist es für die Zukunft Europas ungeheuer wichtig, dass über die europäische Verfassung nicht nur der Bundesrat und der Bundestag, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik abstimmen könnten, wie es in vielen anderen EU-Staaten der Fall sein wird.

(Beifall bei der PDS)

Der in der Verfassung enthaltene Werte- und Zielkanon, zu dem solche Begriffe wie Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichstellung von Frauen und Männern, Solidarität zwischen den Generationen gehören, kann erst dann Realität werden, wenn ihnen die Politik gerecht wird und somit allen Bürgerinnen und Bürgern die Chance gibt, sich mit diesen Begriffen zu identifizieren. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Dr. Klein, für die Einbringung. - Für die Landesregierung hat nun der Herr Staatsminister Robra um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Staatsminister.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Verehrte Frau Dr. Klein, ich schätze Sie sonst sehr als europapolitische Mitdisputantin, aber das, was Sie gesagt haben, hat die Verfassung wirklich nicht verdient, nämlich auf vergleichsweise billige Art und Weise landespolitische Polemik zu betreiben.

(Beifall bei der CDU)

Wir haben am 4. Juli 2003, also vor ziemlich genau einem Jahr, den Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrages diskutiert. Damals hat der Landtag, und zwar einstimmig, einem interfraktionellen Antrag zugestimmt, der den Entwurf des Konvents als - ich zitiere - „Erfolg für Europa“ und - ich zitiere weiter - „einen wichtigen Fortschritt für die Weiterentwicklung der europäischen

Integration und damit auch für eine bessere Wahrnehmung der Interessen der Länder, Regionen und Kommunen und Bürgerinnen und Bürger in der EU“ begrüßte.

Heute liegt der am 18. Juni 2004 von den Staats- und Regierungschefs gebilligte Verfassungsentwurf vor, der nach Einschätzung aller Experten und unserer eigenen Einschätzung - auch meiner persönlichen - zu weit mehr als 90 % auf dem Text des damaligen Konvententwurfs beruht. Wer glaubt ernsthaft daran, im europäischen Kontext jetzt noch etwas ändern zu können?

Es ist der Entwurf, den wir alle seit langem gewollt und gefordert haben. Es ist der Entwurf, den die EU dringend braucht, wenn sie mit 25 und mehr Mitgliedstaaten nach innen und außen handlungsfähig bleiben soll. Es ist der Entwurf, der wieder ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Union herstellen soll. Es ist der Entwurf, der der Union ein neues demokratisches Gesicht verleihen soll, mit dem sich die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft mehr als bei den letzten Europawahlen - darin gebe ich Ihnen völlig Recht, es ist beklagenswert - identifizieren können. Es ist der Entwurf für ein Europa, der Frieden, Freiheit, Demokratie, Wohlstand und Solidarität für einen ganzen Kontinent sichern will, und es ist ein Entwurf, der am Ende mit einem Kompromiss aller 25 Mitgliedstaaten zu einem Erfolg geführt worden ist. Das müssen wir, auch wenn wir in den Details anderer Auffassung sind, respektieren.

Heute wie vor einem Jahr haben wir ein umfangreiches Vertragswerk vorliegen, das sicherlich zurzeit niemand bis ins Detail analysieren kann. Der Verfassungsentwurf hat 464 Artikel. Das sind 325 Druckseiten. Dabei sind die Protokolle und Erklärungen nicht mitgerechnet. Wir haben, weil wir die Verfassung insgesamt in den Mittelpunkt unserer weiteren Öffentlichkeitsarbeit als Landesregierung stellen wollen, den Text in das Landesportal eingestellt, sodass er von interessierten Bürgerinnen und Bürgern zur Kenntnis genommen und ganz subjektiv bewertet werden kann.

Obwohl das Thema sehr komplex ist, hat nicht nur die Landesregierung entschieden, dem Ergebnis insgesamt zuzustimmen, sondern auch die Bundesregierung und wohlgemerkt alle im Bundestag vertretenen Parteien haben in der Debatte zur Regierungserklärung am 2. Juli 2004 einmütig für eine schnelle Ratifizierung des Entwurfes nach seiner Unterzeichnung, die im November in Rom stattfinden soll, votiert.

Das ist der Stand der Dinge, und zwar auch auf der Ebene des Bundestages, ohne zuvor alle Einzelheiten in den Ausschüssen einer Detailanalyse zu unterziehen.

Meine Damen und Herren! Der Bundeskanzler - lassen Sie mich das durchaus kritisch anmerken - hat in seiner Regierungserklärung versucht, den Verfassungsvertrag einseitig als Erfolg der Bundesregierung zu verkaufen. An dieser Stelle muss aber deutlich gesagt werden, dass das Ergebnis zumindest ein gemeinsamer Erfolg von Bund und Ländern ist. Dem Druck der Regierungschefs der Länder und ihrer damaligen Drohung, dem Vertrag von Nizza nicht zuzustimmen, ist es zu verdanken, dass sich der Bund die Forderung nach einer Verbesserung der Kompetenzabgrenzung in Europa zu Eigen gemacht hat.

Auch das Prinzip der doppelten Mehrheit, das die Bundesregierung jetzt als größten Verhandlungserfolg feiert,

haben die Länder im Jahr 1995 - im Vorfeld der Regierungskonferenz von Amsterdam - entwickelt. Noch in der Regierungskonferenz von Nizza hat die Bundesregierung das für nicht durchsetzbar gehalten. Dass das so gekommen ist, verdanken wir ganz wesentlich der Verhandlungskunst des Vertreters der Länder, des Ministerpräsidenten Teufel aus Baden-Württemberg, dem sicherlich an dieser Stelle unser ausdrücklicher Dank gebührt.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich bin sehr dafür, dass wir auch im Parlament über die weitere Entwicklung der Verfassung in allen Bereichen, die von Bedeutung, von Interesse sein können, diskutieren. Wir werden auch sonst alle Initiativen unterstützen, die dazu geeignet sind, die europäische Verfassung den Bürgerinnen und Bürgern näher zu bringen. Ich freue mich, wenn wir wie im bisherigen Verfassungsprozess auch in dieser Frage Seite an Seite mit dem Landtag zusammenarbeiten können. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der CDU, bei der FDP und von der Regierungsbank)

Vielen Dank, Herr Staatsminister. - Wir treten jetzt in eine Debatte mit einer Redezeit von fünf Minuten je Faktion ein. Zunächst erhält für die FDP-Fraktion der Abgeordnete Herr Kosmehl das Wort. Bitte sehr, Herr Kosmehl.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wer die heutige Ausgabe der „Welt“ aufschlägt, der kann sich einen ersten Überblick über die Artikel der neuen, angenommenen europäischen Verfassung, zumindest was die Regierungskonferenz betrifft, verschaffen.

Frau Dr. Klein, ich gebe Ihnen in der Tat Recht: Bis vor kurzem war noch nicht einmal eine deutsche Fassung im Internet zu finden. Deshalb ist es auch sehr schwierig, auf Einzelheiten einzugehen. Nach dem ersten Durchsehen der Verfassung kann ich aber zumindest für die FDP-Fraktion feststellen, dass die Einigung über die europäische Verfassung, die richtigerweise als die bedeutendste Integrationsschrift Europas seit der Unterzeichnung der Römischen Verträge bezeichnet wird, eine riesige Chance und ein Erfolgserlebnis für Europa darstellt.

Wir Liberalen bewerten die europäische Verfassung positiv. Wir werden im anstehenden Ratifikationsprozess - wie auch immer er letztlich ausgestaltet wird; dazu komme ich gleich - nachdrücklich um die Zustimmung der Parlamentarier wie auch um die Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger werben.

Dennoch - darauf möchte ich heute ganz kurz eingehen - sollte man durchaus einige Verschlechterungen, die aus meiner Sicht bestehen, aufzeigen. Dazu ist zunächst der sehr merkwürdige Kompromiss im Bereich der Mehrheitsentscheidung, der doppelten Mehrheit, zu nennen. Es hat hierbei eine Erhöhung um 6 % bzw. um 5 % gegeben. So ist im Bereich der Justiz und des Innern das Quorum auf 72 % der Mitglieder erhöht worden, sofern diese mindestens 65 % der Bevölkerung der Union repräsentieren. Im Entwurf des Konvents, den wir - so glaube ich - alle in diesem Hohen Hause begrüßt

haben, waren es noch 66 % der Mitglieder und 60 % der Bevölkerung.

Das, meine sehr geehrten Damen und Herren, wird die Integration weiter erschweren

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)