Protokoll der Sitzung vom 27.01.2005

Ich eröffne hiermit die 53. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, sehr verehrte Anwesende, auf das Herzlichste.

Meine Damen und Herren, Sie haben es bereits gemerkt: Es gibt unter uns ein Geburtstagskind. Der Ministerpräsident des Landes Sachsen-Anhalt Herr Professor Dr. Wolfgang Böhmer hat heute Geburtstag. Er ist trotzdem anwesend.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich habe ihm bereits heute Morgen im Namen aller Abgeordneten des Landtages herzliche Glückwünsche überbracht, möchte aber jetzt noch einmal ausdrücklich im Namen des Hohen Hauses sowie persönlich Ihnen, sehr geehrter Herr Ministerpräsident, herzlich gratulieren. Ich wünsche Ihnen im Namen aller Abgeordneten alles Gute, beste Gesundheit und weiterhin Schaffenskraft zum Wohle unseres Landes.

(Beifall im ganzen Hause)

Ich bedanke mich. Ich würde gern das „trotzdem“ durch ein „selbstverständlich“ ersetzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich darf nun fortfahren. Ich stelle zunächst die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Es liegen folgende Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung vor: Herr Minister Becker entschuldigt sich für die heutige Sitzung ab 12 Uhr. Er nimmt an der Bund-Länder-Gruppe anlässlich der 4. Tagung „Berufspolitik des deutschen Notarvereins“ in Berlin teil.

Herr Minister Professor Dr. Olbertz entschuldigt seine Abwesenheit in der Landtagssitzung am morgigen 28. Januar aufgrund der Teilnahme an der Sitzung des Wissenschaftsrates in Berlin.

Frau Ministerin Wernicke entschuldigt sich ebenfalls für die morgige Sitzung, aber erst ab 12 Uhr. Sie nimmt an der Preisverleihung im 21. Bundeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden - unser Dorf hat Zukunft“ in Berlin teil.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Nun zur Tagesordnung, meine Damen und Herren.

(Unruhe)

Die Tagesordnung für die 28. Sitzungsperiode des Landtages - ich bitte Sie, den Schallpegel etwas herabzusetzen - liegt Ihnen vor. Im Ältestenrat ist vereinbart worden, die Tagesordnungspunkte 4 und 5 als erste Tagesordnungspunkte am morgigen Beratungstag zu behandeln. Nunmehr hat die Fraktion der PDS signalisiert, den Tagesordnungspunkt 5 - Große Anfrage zur Geschlechtergerechtigkeit - zurückzustellen und für die Tagesordnung der Landtagssitzung im März vorzusehen. Die Fraktionen wurden hierüber unterrichtet. - Habe ich das richtig dargestellt, Herr Fraktionsvorsitzender, oder möchte sich jemand aus der Fraktion der PDS noch einmal dazu äußern? - Herr Dr. Thiel, bitte.

Nein, Herr Präsident, Sie haben den Sachverhalt richtig dargestellt.

(Unruhe)

Meine Damen und Herren, bitte etwas ruhiger!

Sie haben den Sachverhalt richtig dargestellt, Herr Präsident. Wir begründen es damit, dass die Abgeordnete Ferchland als Hauptrednerin kurzfristig erkrankt ist, und bitten darum, den Tagesordnungspunkt im März zu behandeln.

Vielen Dank für diese Erläuterung. - Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.

Nun zum zeitlichen Ablauf der 28. Sitzungsperiode. Die heutige Landtagssitzung werden wir vereinbarungsgemäß spätestens gegen 13.30 Uhr beenden.

An dieser Stelle, meine sehr geehrten Damen und Herren, möchte ich auf die in Bernburg stattfindende Gedenkveranstaltung anlässlich des 60. Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz hinweisen. Nutzen Sie bitte die gebotene Möglichkeit der Beförderung mit dem Bus. Dazu werden ab 13.45 Uhr vor dem Haupteingang zwei Busse bereitstehen. Die Abfahrt der Busse ist pünktlich um 14 Uhr vorgesehen. Ich bitte Sie, sich darauf einzustellen. Die Busse bringen Sie auch wieder nach Magdeburg zurück.

Die morgige 54. Sitzung beginnt wie üblich um 9 Uhr.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir kommen nun zum Tagesordnungspunkt 1 a:

Regierungserklärung des Ministers der Justiz Herrn Becker zum Thema: Justizpolitik des Landes Sachsen-Anhalt vor dem Hintergrund der großen Justizreform

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich erteile das Wort Herrn Minister Becker zur Abgabe der Regierungserklärung. Bitte sehr, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! In den letzten zwei Jahrzehnten ist in Deutschland im Bund wie in den Ländern auf den verschiedensten Gebieten oft und lautstark von Reformen geredet worden. Spätestens als das kräftige wirtschaftliche Wachstum der Nachkriegszeit abebbte, sich die sozialen Probleme durch Überalterung und Arbeitslosigkeit verschärften, die Einnahmen der öffentlichen Hand zurückfielen und das Bruttosozialprodukt anderer europäischer Staaten stärker anstieg, ergriff diese Diskussion die verschiedensten Themenfelder. Deutschland wieder fit zu machen für die künftigen Aufgaben, das war der Grundtenor dieser Überlegungen.

Was bisher als Ergebnis dieser Bemühungen herauskam, mutet eher mager an. Die unlängst unterbrochene

- ich möchte nicht sagen: abgebrochene - Arbeit der Föderalismuskommission gab der Diskussion um den Mut und die Kraft der Politik, Reformen zielstrebig durchzuführen, erneut einen Dämpfer.

Wenn sich nun an dieser Stelle die Justizminister der Länder zu Wort melden und von Eckpunkten einer großen Justizreform sprechen, werden Sie vielleicht, meine sehr verehrten Damen und Herren, angesichts der bisherigen Erfolglosigkeit von Reformbemühungen auf anderen gesellschaftlichen Gebieten die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer solchen Diskussion stellen. So sehr ich das nachvollziehen kann, möchte ich Sie doch mit diesen Überlegungen konfrontieren, weil die Justizminister aller Länder, insbesondere aber auch ich aus Sachsen-Anhalt zur Durchführung dieser Reform Ihre Unterstützung benötigen.

Die jetzige Diskussion um die große Justizreform unterscheidet sich im Übrigen von den früheren Diskussionen in zwei ganz wichtigen Punkten:

Bislang hat man immer nur an den Symptomen herumkuriert, ohne zu den Wurzeln vorzustoßen. Man hat einer Gesetzesänderung weitere Gesetzesänderungen nachgejagt, was die Arbeit der Richter, der Staatsanwaltschaften, der Rechtanwälte und Dritter erschwert und verteuert hat. So hat allein in der Zeit von 1989 bis 2003 die Strafprozessordnung 63 und das Strafgesetzbuch 60 Änderungen erfahren. Von anderen Rechtsgebieten ließen sich ähnliche Zahlen berichten.

Als schließlich im Jahr 2003 die Bundesregierung das Justizmodernisierungsgesetz auf den Weg brachte und die Opposition das Justizbeschleunigungsgesetz nachschob, ohne dass sich wirklich etwas bewegte, wurde auch dem Uneinsichtigsten deutlich: Das ist nicht zielorientiert.

Deshalb kamen nunmehr auf der Justizministerkonferenz im Juni 2004 in Bremerhaven alle 16 Landesjustizminister, übrigens im Beisein der Bundesjustizministerin, überein, es sei an der Zeit, den Parteienstreit beiseite zu legen und die Aufgabe gemeinsam anzupacken. Das ist nicht zuletzt ein Verdienst des Bremer Ersten Bürgermeisters Henning Scherf, damals der Vorsitzende der Justizministerkonferenz, dem es durch eine geschickte Verhandlungsführung gelang, die divergierenden Auffassungen zu bündeln, sodass wir im Herbst 2004 auf der Justizministerkonferenz in Berlin Eckpunkte einer großen Justizreform verabschieden konnten.

Nun stellt man sich natürlich als Realpolitiker die Frage: Wenn alle 16 Landesjustizminister gemeinsam diese Eckpunkte, wiederum im Beisein der Bundesjustizministerin, verabschieden, wo könnten dann die Fallensteller stehen, die alles wieder zum Einsturz bringen und die den Justizministern die Zähne ziehen? Zunächst: Überzeugungsarbeit wird erforderlich sein. Gerade deshalb habe ich auch Wert auf die direkte Information des gesamten Plenums gelegt, wohl wissend, dass sich in den Fraktionen nur wieder einzelne Kollegen und Kolleginnen justizpolitischer Themen annehmen. Doch die große Justizreform benötigt Sie alle als Verbündete.

Bedenken werden mit Sicherheit aus den Bundestagsfraktionen kommen, und zwar aus allen, weil man zum einen den Bundesländern vorhält, nur finanzpolitische Überlegungen würden diese leiten, und weil man zum anderen sagt, es handle sich hierbei um eine Aufgabe des Bundes, zu der man eigene Positionen finden müsse. Ich füge hinzu: „Finden müsse“ ist richtig, aber man

muss sie endlich einmal finden. Das wiederum schließt das Mitdenken der Länder nicht aus.

Auf eine unabhängige, selbstbewusste und leistungsfähige Justiz kann nicht verzichtet werden. Anderenfalls könne der Gerechtigkeit nicht zum Durchbruch verholfen werden, wie es einmal das Bundesverfassungsgericht formuliert hat.

Wir Landesjustizminister fordern Effizienz und Effektivität für die Justiz. Was bedeutet das nun? - Effektiver Rechtsschutz ist zu einem Verfassungsprinzip erhoben worden. Die Bürgerinnen und Bürger Sachsen-Anhalts haben einen Anspruch auf einfache und gleichmäßige Möglichkeiten, ihre Rechte gerichtlich und mittlerweile auch außergerichtlich zu verfolgen; denn was nützt es einem Handwerker, wenn er eine dem Grunde nach unstreitige Forderung erst nach zwei Jahren vollstrecken kann, weil der Schuldner die ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel zum Zeitgewinn missbraucht? Der Handwerker gewinnt vielleicht den Prozess. Inzwischen ist aber unter Umständen den Schuldner zahlungsunfähig geworden.

Wir Landesjustizminister sind uns einig, dass die notwendigen und berechtigten Sparvorgaben in den öffentlichen Haushalten nicht zu einer Schwächung der dritten Gewalt führen dürfen. Wenn das so ist, dann bleibt nur der Weg, die vorhandenen Mittel sinnvoller als bisher einzusetzen. Die Justiz soll Ballast abwerfen, damit sie sich ihren Kernaufgaben zügig und auf hohem Niveau widmen kann. Verfahren müssen vereinfacht, harmonisiert und entschlackt werden.

Meine Länderkollegen und ich wollen mit dem Gesamtkonzept einer großen Justizreform die notwendige Leistungsfähigkeit der Justiz langfristig sichern. Bei der Entwicklung dieses Konzeptes werden die Belange aller in der Justiz Tätigen einbezogen und - das unterstreiche ich doppelt -: Die richterliche Unabhängigkeit bleibt dabei unangetastet.

Meine vorläufigen Überlegungen zielen darauf ab, im Zusammenwirken mit den Länderkollegen noch in diesem Jahr detaillierte Vorschläge für eine große Justizreform zu erarbeiten, die, wie die „Süddeutsche Zeitung“ am 23. November 2004 textete, die größte Justizreform seit 1877 werden könnte.

Die Vorschläge kann man in etwa vier Schwerpunkten zusammenfassen: erstens Deregulierung, zweitens Übertragung und Auslagerung von Aufgaben, drittens Konzentration von Aufgaben und viertens Qualitätssicherung.

Lassen Sie mich zunächst etwas zur Deregulierung sagen. Aus meiner Sicht wird die Aufgabe der Deregulierung das Kernstück der angestrebten Justizreform sein. Sie wissen, meine sehr verehrten Damen und Herren, dass ich mich auch hier im Lande mit dem Ersten Rechts- und Verwaltungsvereinfachungsgesetz dafür eingesetzt habe, überflüssige Rechtsvorschriften abzubauen. Ich darf mit Dankbarkeit feststellen, dass die Beratungen zu diesem Gesetz in den Ausschüssen zügig vorankommen.

Auf Bundesebene soll die Reform dazu benutzt werden, das Gerichtsverfassungs- und -verfahrensrecht grundlegend zu vereinfachen. Es wird nämlich zu prüfen sein, ob die bestehenden Differenzierungen beim Aufbau und beim Verfahren der Gerichte tatsächlich sachlich begründet sind und daher fortgeführt werden müssen oder

ob sie sich lediglich über die Zeit hinweg gebildet haben. Selbstverständlich bleiben dabei rechtsstaatliche Standards gewahrt. Lassen Sie mich einige Anmerkungen dazu machen.

Erstens. Die unterschiedlichen Verfahrensordnungen der einzelnen Gerichtszweige sind zunächst zu sichten und so weit wie möglich anschließend zu harmonisieren. Dabei will ich gleich einem grundlegenden Einwand entgegentreten. Selbstverständlich sollen die zwingend notwendigen Verfahrensbesonderheiten, etwa beim Sozialgericht oder beim Arbeitsgericht, erhalten bleiben. Es ist nicht zu befürchten, dass im Strafprozess künftig die Parteimaxime gelten wird oder im Zivilprozess künftig etwa der Amtsermittlungsgrundsatz dominieren wird.

Aber es sollen rechtswegübergreifende Grundsätze gebildet und zusammengefasst werden, etwa in der Frage der Ablehnung von Richtern wegen Befangenheit und ähnliche Dinge mehr. Gemeinsame Verfahrensgrundsätze könnten im Rahmen einer großen gemeinsamen Prozessordnung quasi vor die Klammer gezogen werden und als allgemeiner Teil für alle Prozessordnungen gelten.

Ob unter dem Gesichtspunkt der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit eine Prozessordnung in Gänze für alle fünf Gerichtsbarkeiten geschaffen werden sollte oder aber die Verwaltungs-, Sozial- und gegebenenfalls auch die Finanzgerichtsbarkeit einerseits sowie die Arbeits- und die ordentliche Gerichtsbarkeit andererseits Verfahrensordnungen bekommen sollen, wird genau zu prüfen sein. Gleiches gilt für unser Gerichtsverfassungsgesetz, das aus dem 19. Jahrhundert stammt.

Eines scheint mir jedoch in diesem Zusammenhang besonders wichtig zu sein: Wir, die Justizministerkonferenz, müssen es schaffen, dass die in den Prozessordnungen geltenden Fristen und Rechtsmittel harmonisiert werden. Denn für den Bürger ist es nicht nachvollziehbar, gegen welche gerichtlichen Entscheidungen er Berufung, Revision, Zulassungs-, Berufungsbeschwerde oder sofortige Beschwerde einlegen muss oder kann und welche Fristen er dabei einhalten muss. Eine solche Harmonisierung wäre ein großer Schritt. Justitia wäre dann sicher um einige Pfunde erleichtert.

Ein weiterer Schritt zur Steigerung der Transparenz der Verfahrensordnungen ist die von mir unterstützte Einführung der funktionalen Zweigliedrigkeit im deutschen Rechtsschutz. Zur Klarstellung möchte ich eingangs verdeutlichen: Hinter dem Begriff der funktionalen Zweigliedrigkeit verbirgt sich nicht die Schaffung eines dreistufigen Gerichtsaufbaus, wie es meine Vorgängerin Frau Kollegin Schubert einst wollte, es aber heute als Senatorin von Berlin ebenfalls nicht mehr befürwortet.

Das heißt, Amts- und Landgerichte sollen nicht zu einem einheitlichen Eingangsgericht zusammengefasst werden. Die bisherigen sachlichen Zuständigkeiten der Amts- und Landgerichte bleiben erhalten. Auch die bestehenden Standorte der Amts- und Landgerichte - das ist für alle in diesem Hohen Hause hier wichtig - werden durch diese Reform nicht berührt.