Herr Dr. Volk, ich gebe Ihnen Recht, dass ein Hauptschulabschluss besser ist als kein Hauptschulabschluss.
Das ist schon wahr. Nur, wann haben Sie das letzte Mal mit den Industrie- und Handelskammern und den Handwerkskammern darüber gesprochen, wie hoch der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Hauptschulabschluss ist, die eine ordentliche Lehrstelle erhalten?
Frau Dr. Hein, ich kenne die Systemdefizite. Ich glaube, an diesen Defiziten muss massiv gearbeitet werden. Aber der Hauptschulabschluss ist viel besser als gar kein Abschluss. Auch eine Verschleierung durch ein Kurssystem, durch einen reduzierten Sekundarschulabschluss, löst das Problem in letzter Konsequenz nicht. Auch diese Schüler haben bei der Aufnahme einer Berufsausbildung schlechte Karten und werden auch an dieser Stelle aussortiert. Ich denke, wenn es uns gelingt, mithilfe eines qualifizierten Abschlusses im Hauptschulbereich einen Markt für eine Berufsausbildung zu öffnen, ist uns allen gedient.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich glaube, in der Zielstellung des Antrags sind sich alle Parteien einig. Über die Wege dahin gibt es sicherlich hier und da unterschiedliche Vorstellungen, wie meine Vorredner schon bewiesen haben.
Egal wie, auf jeden Fall muss in unserem Land die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss verringert werden. Das ist eine der vordringlichen Aufgaben in den nächsten Jahren, und zwar, denke ich, unabhängig davon, welche Partei gerade die Regierung stellt.
Es ist ein Problem, dass im Jahr 2004 knapp 14 % der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs die Schule ohne einen Hauptschulabschluss verlassen haben. Das bedeutet für diese Jugendlichen, dass sie einer sehr ungewissen Zukunft entgegensehen. Meine Damen und Herren! Ohne Schulabschluss keine Berufsausbildung, ohne Berufsausbildung keine Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Damit wird ein selbstbestimmtes Leben kaum mehr möglich, und es nimmt eine persönliche Tragödie ihren Lauf, die für den Einzelnen, aber auch für die Gesellschaft viel Schaden bringt.
Deshalb muss man sich erstens fragen: Warum hat unser Land diese hohe Zahl von Schulabgängern ohne Abschluss? Und zweitens: Wie kann man die Quote senken, damit unser Land im Bundesvergleich nicht Schlusslicht bleibt?
Es gibt viele Gründe für diesen traurigen Spitzenplatz. Ich will einen Grund nennen, der auch schon genannt ist, aber der sich für viele nicht vordergründig erschließt, nämlich der extrem hohe Anteil von Schülerinnen und Schülern an Sonderschulen in Sachsen-Anhalt. Sie verlassen die Schule zwar mit einem Abschluss, aber eben nicht mit einem Abschluss, der mit einem Hauptschulabschluss vergleichbar ist.
Meine Damen und Herren! - Herr Tullner, vielleicht hören Sie in dem Fall auch einmal zu. - Es gibt ein in allen Schulformen durchgängig anzutreffendes Problem - das
ist eigentlich das hauptsächliche Problem -, das der nicht ausreichenden Kultur der individuellen Förderung.
Last, but not least sehen wir eine wesentliche, aber auch nicht die alleinige Ursache in der frühen Bildungswegetrennung, die entwicklungspsychologisch gesehen vielen Spätentwicklern zu viele Chancen nimmt, sie zu früh ausgrenzt und ihnen damit auch die Motivation nimmt.
Das ist in diesem bestehenden gegliederten Schulsystem nun einmal gang und gäbe, und die Durchlässigkeit in den qualitativ anspruchsvolleren Bildungsgang ist bei weitem nicht gewährleistet, auch wenn es immer behauptet wird. Häufig, meine Damen und Herren, sind es die Jungen, die Opfer dieser Systemfalle werden.
Wir brauchen kein Stückwerk, sondern ein Gesamtkonzept zur individuellen Förderung. Meine Damen und Herren! Ich verweise diesbezüglich ganz kühn auf ein Papier, das wir geschrieben haben, das Zukunftspapier „Bildungsland Sachsen-Anhalt 2020“. Dort haben wir eine Reihe von Vorschlägen gemacht. Wenn ich es recht übersehe, dann stelle ich fest, dass fast alle Punkte, die Sie in Ihrem Antrag aufgeschrieben haben, bei uns ähnlich oder sogar genauso formuliert sind.
Ich will auf ein paar Punkte speziell eingehen. Wir fordern nachdrücklich die flächendeckende Einführung von Formen des produktiven Lernens. Wir fordern die konsequente Nutzung von Stundenreserven durch die Schulen für Förderangebote. Wir fordern auch die gesetzliche Verankerung des Anspruchs auf eine individuelle Förderung von mindestens einem Jahr bei einem Wechsel des Bildungsganges. Des Weiteren fordern wir, wieder mehr Augenmerk auf die Bildung von Reintegrationsklassen zu legen, die es schon einmal gab, die aber in den letzten Jahren etwas stiefmütterlich behandelt wurden.
Tatsache ist, meine Damen und Herren, dass sich die sichtbaren Probleme unseres Schulwesens ständig weiter verschärfen. Das gilt sowohl für das Leistungsproblem - ich verweise auf die Pisa-Studie - als auch für das Gerechtigkeitsproblem. Ich verweise wieder auf die PisaStudie. Deshalb sind konzeptionelle Überlegungen zur Zukunft des Bildungssystems einfach erforderlich. Ich denke, dazu brauchen wir keinen Streit der Parteien im Landtag, sondern einen breiten gesellschaftlichen Diskurs.
Wir haben in unserem Papier deshalb die Gründung eines Bildungskonvents vorgeschlagen, in dem die Betroffenen, Eltern, Schüler, Lehrkräfte, Gewerkschaften, Kirchen, Arbeitgeber und Wissenschaft, mit der Politik darüber diskutieren, wie wir die Schule von heute verändern müssen, damit sie zu einer Schule von morgen wird, also zu einer Schule der Zukunft, die jedem Kind und jedem Jugendlichen besser als bisher unabhängig von der sozialen Herkunft die individuell bestmögliche Bildung und Ausbildung gibt.
Meine Damen und Herren! Wir treten deshalb nicht nur konsequent für die Fortsetzung der inneren Schulreformen ein - das ist für uns eigentlich so selbstverständlich, dass ich mich manchmal weigere, das immer wieder zu nennen -, sondern wir fordern umfassendere Veränderungen unter Beachtung der Bildungsergebnisse in Deutschland und in Europa.
Wegen der demografischen Entwicklung und auch wegen der Finanzsituation sind weitere Veränderungen nötig. Wir sprechen uns für ein längeres gemeinsames Lernen aus und sind damit gegen die viel zu frühe Trennung der Bildungswege. Wir schlagen vor, in einer anderen Schulform, die wir als allgemein bildende Oberschule bezeichnen, die Schülerinnen und Schüler gemeinsam bis zur 8. Klasse lernen zu lassen, wobei die individuelle Förderung ein nicht wegzudenkender Bestandteil dieser Schule sein wird.
Die Förder- und Beratungszentren sollen Teile der AOS werden, damit die pädagogische Kompetenz auch für die allgemein bildende Schule genutzt werden kann. Damit kann der Umfang des reinen Sonderschulwesens aus unserer Sicht erheblich reduziert werden. Es gibt einen schönen Satz, der lautet: Kompetenzen sollen sich ergänzen. Denn aus der Erfahrung der letzten Jahre ist uns auch klar: Neuerliche Veränderungen in unserem Schulwesen brauchen eine breite gesellschaftliche Mehrheit und nicht nur die Debatte der politischen Parteien.
Meine Damen und Herren! Wir werden dem Antrag zustimmen, wobei ich natürlich die grundsätzliche Kritik von Frau Hein teile und gesagt habe, auch bei uns ist das alles aufgeschrieben. Vom Prinzip her hätte man das alles anders organisieren müssen.
Aber ich glaube, der Antrag gibt die Chance, im Bildungsausschuss über die Dinge noch einmal komplex zu reden und möglicherweise schon einen Ansatz für die Zukunftsdebatte zu erarbeiten, die wir bezüglich unseres Bildungspapiers vorschlagen, ohne die Arbeit eines Bildungskonventes und dessen Ergebnisse vorwegzunehmen. - Vielen Dank.
Frau Mittendorf, Ihre konzeptionellen Veränderungen, die Sie fordern, enthalten auch massive strukturelle Veränderungen im Schulsystem. Wie wollen Sie in der nächsten Legislaturperiode diese strukturellen Veränderungen umsetzen?
Vielen Dank für die Nachfrage, Herr Volk. Sie gibt mir die Gelegenheit, noch einmal auf zwei Dinge ein besonderes Augenmerk zu legen. Wir werden in der nächsten Legislaturperiode keine Strukturveränderungen durchführen, wenn wir die Gelegenheit haben, uns an der Regierung zu beteiligen. Wir wollen vielmehr einen breiten gesellschaftlichen Diskurs, weil wir wissen, dass wir die Leute mitnehmen müssen. Wir wollen zum Beispiel in einem Bildungskonvent - oder wie immer man das bezeichnet - die Debatte führen, die bisher immer nur unter uns geführt wurde.
Im Rahmen dieses Bildungskonvents wollen wir Vorschläge für das Verhalten der Politik in diesem Land bekommen. Wir bringen unsere Vorstellungen mit der allgemein bildenden Oberschule, mit dem längeren gemeinsamen Lernen, mit der inneren Schulreform, mit all den Dingen, die Sie fordern, als Vorschlag mit ein, damit wir weniger Schülerinnen und Schüler haben, die die Schule ohne Abschluss verlassen. All das haben wir aufgeschrieben. Das wollen wir als Angebot in die Debatte geben. Wir sind offen für weitere Angebote und Diskussionen.
Dann, denke ich, muss so ein übergreifender Konvent Vorschläge machen. Wir, die wir politische Verantwortung tragen, egal in welcher Partei und in welcher Regierungskonstellation, haben die Aufgabe, eine vernünftige Lösung anzubieten, die mittel- und langfristig ein Bildungssystem schafft, das zukunftstauglich ist, das dafür sorgt, dass weniger Schüler ohne Abschluss die Schule verlassen und dass mehr Schülerinnen und Schüler höhere Bildungsabschlüsse erwerben, weil wir in Zukunft mehr junge Leute brauchen, die studierfähig sind. All das leistet das System heute nicht. Diese Debatte ist zu führen.
Dann muss die Politik im Landtag vernünftige Entscheidungen treffen, die aber erst mittelfristig wirksam werden. Die müssen ordentlich vorbereitet werden. Die müssen umgesetzt werden. Es wird, zumindest solange wir mitsprechen werden - das wollen wir -, keine hektischen und kurzfristigen Aktionen geben.
Danke, Frau Mittendorf. - Für die CDU-Fraktion wird der Abgeordnete Herr Dr. Schellenberger sprechen.
Frau Präsidentin! Mein sehr geehrten Damen und Herren! Ich habe eigentlich versucht, alles in meine Einführung vorhin hineinzulegen, um Ihnen mein nochmaliges Auftreten zu ersparen. Aber ich bin der Meinung, es wäre vielleicht ganz günstig, wenn ich noch einmal kurz einige Worte sage.
Für meine Einlassung vorhin muss ich mich bei Ihnen entschuldigen. Ich hatte das etwas anders aufgefasst. Ich hatte vorher vermutet, dass wir diesem Antrag einstimmig zustimmen werden. Nach dem, was ich jetzt gehört habe, ist es aber nicht so. Das wundert mich schon. Des Weiteren wundern mich natürlich die Ausführungen dazu. Ich staune ohnehin darüber, wie es hier immer abgeht. Im Bildungsausschuss sind wir viel friedlicher, ruhiger, konzentrierter und sachlicher.
(Zustimmung von Herrn Tullner, CDU - Frau Dr. Hein, PDS: Ich habe nicht dazwischenge- brüllt! - Zuruf von Frau Dr. Kuppe, SPD)
Das muss man einmal so feststellen. Dadurch wird im Parlament der Eindruck erweckt, wir wären ein streitbarer Haufen. Selbstverständlich streiten wir, aber in einer ganz anderen Kultur, als das hier manchmal herüberkommt.
Zu der Bankrotterklärung. Wenn Sie uns vorwerfen, dass das, war wir hier gemacht haben, eine eigene Bankrotterklärung ist, dann wundere ich mich natürlich schon darüber. Eigentlich liegt es nicht in meiner Art, daraufhin zu sagen: Eine Bankrotterklärung in Bezug auf die Bil
dungspolitik haben wir vor drei Jahren erlebt. Eigentlich begebe ich mich nicht auf ein solches Niveau. Das weiß eigentlich jeder. Das ist nicht meine Art. Aber man muss damit rechnen. So, wie man in den Wald hineinruft, schallt es auch wieder heraus.
Man kann nicht sagen: In den drei Jahren habt ihr eine ganze Menge gemacht; ihr habt das als Möglichkeit genutzt, das einmal aufzulisten. Wir sind uns darin einig: Bildungspolitik, Bildungsprozesse sind langfristige Prozesse. Wenn man schon jetzt das Ergebnis der Politik in den drei Jahren sehen will, dann ist man - das muss man wirklich sagen - zu kurz gesprungen. An der Stelle sind Sie, Frau Dr. Hein, wahrscheinlich etwas zu kurz gesprungen.
Wir sind zu 100 % darin einig - das wissen wir auch; so lange sind wir noch nicht in der Regierung, dass wir das mit einem ordentlichen Ergebnis versehen konnten -, dass man nicht sagen kann: Die individuelle Förderung ist so passiert, wie wir uns das alle vorstellen. Frau Mittendorf hat das vorhin angedeutet; sie hat gesagt: Die individuelle Förderung ist das Stichwort, das wir alle unterschreiben. Wenn Sie genau aufgepasst haben, dann haben Sie festgestellt, dass die CDU, die FDP und die SPD gemeinsam dafür geklatscht haben, dass in diesem Bereich weiter gearbeitet werden muss.
Natürlich gibt es unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf die Bildungsabschlüsse. Das brauchen wir nicht wegzudiskutieren. Das ist einfach so. Aber unser Ziel ist es - das habe ich eingangs betont -, die Abschlüsse weiter zu verbessern. Ich habe vorhin bereits erwähnt habe, dass es auch unser Anspruch ist, durch die individuelle Förderung zu erreichen, dass erstens überhaupt mehr Schüler einen Abschluss bekommen und dass zweitens nicht nur notenmäßig, sondern auch stufenmäßig bessere Abschlüsse erreicht werden. Aber jeder nach seinen Leistungen, jeder nach seinen Fähigkeiten - das kennen wir alles irgendwo her.
Frau Mittendorf, mich freut es, wenn Sie, die in Ihrem Papier sehr viel Schönes und Wichtiges geschrieben haben, feststellen, dass vieles aus Ihrem Papier auch in unserem Papier auftaucht. Das sind ja die Gemeinsamkeiten.