Protokoll der Sitzung vom 27.04.2007

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Vielen Dank, Herr Gallert. - Es gibt noch eine Meldung von Frau Rogée. Eine Frage oder eine Zwischenbemerkung, Frau Rogée? - Eine Frage. Bitte.

Zu der Frage des Marktes, den wir angeblich nicht wollen. Herr Gallert, wissen Sie eigentlich, dass gerade im Bereich der Firmen, die Briefe verteilen, die Beschäftigten gar nicht mehr nach einem Stundenlohn, sondern danach bezahlt werden, wie viele Brief sie verteilen? Das heißt, pro Brief bekommen sie 5 oder 6 Cent. Wenn sie Glück haben, dann verteilen sie am Tag 25 bis 30 Briefe und dann kann man sich ausrechnen, wie hoch das Tageseinkommen für die Betroffenen ist.

Natürlich, Frau Rogée, weiß ich das. Mir würde es auch nicht gut stehen, dass ich dies nicht wissen würde, nachdem Sie mich gefragt haben. Aber diesbezüglich gibt es auch andere Situationen. Vor Kurzem ist im MDR in einem Bericht über Sachsen-Anhalt auch diese Objektlohnvariante als Alternative aufgeführt worden. Eine Reinigungsfirma hat gesagt: Okay, ihr bekommt einen Objektlohn. Wir haben eine Arbeitszeit von 2,5 Stunden für eine Schule mit einer Grundfläche von 250 m² ausgerechnet und dann könnt ihr mit 6,60 € nach Hause gehen. - Natürlich brauchen sie dafür mindestens fünf Stunden.

Wir müssen ganz deutlich sagen, dass die Variante des gesetzlichen Mindestlohnes die einzige ist, die uns absolut praktikabel erscheint, weil alles andere natürlich permanent unterlaufen wird, und bei dieser Arbeitsmarktlage kann es permanent unterlaufen werden; das ist das Problem. Die Leute haben keine Alternative, sie müssen Arbeit zu jedem Preis annehmen. Daher komme ich in eine solche Situation. Deswegen kann der Staat nicht weggucken, sondern muss handeln. - Danke.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Vielen Dank, Herr Gallert. - Zunächst haben wir die Freude, Schülerinnen und Schüler der Berufsbildenden Schulen Dr. Schlein aus Magdeburg auf der Nordtribüne begrüßen zu können.

(Beifall im ganzen Hause)

Jetzt erteile ich Herrn Minister Haseloff das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Gestatten Sie mir einige kurze Vorbemerkungen. Das Thema ist im Landtag nicht neu. Wir haben bereits mehrfach versucht, eine Meinungsbildung für das Land gemeinsam herbeizuführen. Dass es kein einfaches Thema ist, zeigt die regelmäßige Wiederaufnahme der Stichworte und auch der Tagesordnungspunkte.

Erstens. Herr Gallert, natürlich muss ein Markt reguliert werden. Das erfolgt auch. Es sind Gesetze vorhanden, die für Wettbewerb sorgen. Es wird bei den Starken abgeschöpft, damit den Schwachen, die auf diesem Markt nicht existenzsichernd arbeiten und leben können, etwas gegeben werden kann. All das - das wissen Sie - verbirgt sich hinter dem großen Thema der sozialen Marktwirtschaft. Ich glaube, es bleibt ein gesondertes Markenzeichen Deutschlands, dass wir diese soziale Marktwirtschaft im Unterschied zu anderen Marktwirtschaften auf diesem Globus durchaus haben.

Zweitens. Wenn wir in dieser Thematik echt und ehrlich weiterkommen wollen, dann müssen wir versuchen, ein paar Begriffe sehr deutlich und definitorisch richtig anzuwenden. Wenn wir den Mindestlohn benennen, dann wissen wir, dass es unterschiedliche Wege und Möglichkeiten gibt, einen Mindestlohn zu definieren. Unser Gesellschaftsverständnis ist so, dass der Staat nur das machen sollte, was die anderen, die eigentlich zuständigen und nach der Verfassung definierten Kräfte der gesellschaftlichen Bereiche nicht hinbekommen,

(Zustimmung von Herrn Prof. Dr. Paqué, FDP)

und der Staat somit nachrangig tätig wird. Der Ministerpräsident meint mit seiner Aussage, er sei nicht für einen gesetzlichen Mindestlohn, also die Totalintervention des Staates zum jetzigen Zeitpunkt und an dieser Stelle, dass die Tarifpartner gefordert sind, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen und für entsprechende Lohnfindungsprozesse zu sorgen.

Wenn allerdings an verschiedenen Stellen ein konkreter Mindestlohn benannt wird und internationale Vergleiche angestellt werden, dann muss ich immer wieder darauf hinweisen, dass wir nicht Äpfel mit Birnen vergleichen dürfen. Wenn wir einen Mindestlohn von 7,50 € nennen, dann meinen wir im Allgemeinen den Bruttolohn für einen Arbeitnehmer, wissen aber, dass noch einmal etliche Prozent für den Arbeitgeberanteil dazukommen und dass wir damit hinsichtlich der unmittelbaren personenbezogenen Arbeitskosten locker bei einem Betrag von ca. 10 € liegen.

Damit würden wir im internationalen Ranking ganz woanders liegen, nämlich deutlich über dem, was unsere internationalen und europäischen Wettbewerber an dieser Stelle organisieren wollen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir das Risiko eingehen wollen, Arbeitsplätze zu verlieren, so wichtig es ist, an dieser Stelle auch im Sinne der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu diskutieren und weiterhin Lösungsmöglichkeiten innerhalb des laufenden Prozesses anzubieten.

Der nächste Punkt, den wir klären müssen, ist: Was ist die Rolle des Staates in diesem Zusammenhang? Eine Marktwirtschaft zu haben, auf deren Grundlage sich vieles abspielt, die reguliert ist und die demzufolge die vorhin genannten Kriterien sicherzustellen hat? Hat der Staat die Aufgabe, einen existenzsichernden Lohn zu verordnen, oder hat er als Sozialstaat nicht ein existenzsicherndes Einkommen zu sichern? - Das ist ein großer Unterschied.

In dem Moment, in dem ich einen existenzsichernden Lohn verordne, greife ich in Wirtschaftsstrukturen ein, sage ich: Du Unternehmer mit einem bis fünf Beschäftigten hast den gleichen Lohn für diese Leistung zu zahlen, obwohl deine Voraussetzungen anders sind als die eines Großkonzerns. - Das heißt, wir greifen in einen Lohnfindungsprozess ein und lösen einen Marktlohn, der sich zwischen den Akteuren nach natürlichen Gesetzen bilden muss, durch eine Staatsverordnung ab, auch auf die Gefahr hin, dass wir damit die Insolvenz oder Wettbewerbsnachteile im internationalen Bereich erzeugen usw. usf.

Ich will nur darauf hinweisen, es ist nur eine Aufzählung von Fakten, damit wir wirklich über vergleichbare Dinge sprechen und uns innerhalb von Parametern bewegen, die zumindest einen Gesamtkonsens möglich machen.

Ein weiterer Punkt, der auch geklärt werden muss, ist: Wenn wir sagen, die Lohnfindung muss am Markt laufen, aber wir wollen ein existenzsicherndes Einkommen in einem Sozialstaat garantieren, dann heißt das auf der anderen Seite, wenn der Lohn, der erzielt wird, für die Existenzsicherung nicht reicht, muss der Staat aufstocken. Dafür hat er Mechanismen. Das kann er über verschiedene Wege machen, von negativer Einkommensteuer bis hin zu Kombilohnvarianten bzw. nach dem Motto: Wir haben das komfortabelste Grundsicherungssystem der Welt. Das heißt, eine untere Existenzsicherung ist für jeden Bürger dieser Gesellschaft gegeben. Diese darf nicht unterschritten werden. Sie liegt

übrigens deutlich über dem Einkommen, das in manch anderem Land überhaupt durch Erwerbstätigkeit erzielt werden kann.

(Zuruf von Frau Penndorf, Linkspartei.PDS)

Wenn wir also über einen Mindestlohn weiter diskutieren wollen, dann heißt das auch - das als nächster Punkt -, dass wir sehen müssen, welche Strukturen schon existieren. Wir wissen, dass die Zahlen, die zurzeit diskutiert werden, in einer Höhe liegen, unter der viele abgeschlossene Tarifverträge liegen. Es gibt Dutzende von Tarifverträgen, die irgendwo bei 4 €, 5 €, 6 € liegen - in Sachsen-Anhalt, in Ostdeutschland, aber auch in ganz Deutschland, was bestimmte Branchen anbelangt. Das heißt, staatliches Intervenieren über einen gesetzlichen Mindestlohn würde unmittelbar in die Tarifautonomie, in die Vertragsverhandlungen und in die Vertragsabschlüsse eingreifen.

Herr Minister, möchten Sie eine Frage beantworten?

Zum Schluss bitte. - Ich will damit nicht sagen, dass das das Ende der Tarifautonomie wäre. Aber es wäre ein deutlicher Eingriff, und die Spielregeln, was man den Tarifpartnern überlässt und was sich der Staat ständig heranzieht und für sich reklamiert, müssten völlig neu justiert werden. Ich weiß nicht, ob das nach den Erfahrungen, die wir in der deutschen Geschichte mit Eingriffen des Staates in die Gesellschaft gemacht haben, der richtige Weg ist und ob wir an dieser Stelle nicht Augenmaß bewahren sollten - bei aller Diskussionsnotwendigkeit, die ich auch unterstelle.

(Zustimmung bei der CDU und bei der FDP)

So weit die Vorbemerkungen, die so eigentlich nicht vorgesehen waren.

Jetzt zur unmittelbaren Beantwortung. Sie haben sich bei der Einbringung Ihres Antrages darauf bezogen, dass im Koalitionsvertrag auf Seite 13 steht: Die in Sachsen-Anhalt praktizierten Kombilohnvarianten werden bis Ende 2007 auf ihre Nachhaltigkeit und Wirksamkeit hinsichtlich der Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze evaluiert. In diesem Zusammenhang sollen Empfehlungen zur Einführung von Mindestlöhnen gegeben werden.

Das ist eine ganz klare Vereinbarung und diese wird eingehalten werden. Diese Vereinbarung ist notwendig und sie muss auch eingehalten werden, weil wir in Sachsen-Anhalt versuchen, alle Möglichkeiten zu erschließen, um Menschen auf unterschiedlichen Qualifikationsstufen und in unterschiedlichen Situationen zu erreichen. Dazu gehört auch die Möglichkeit, die der Gesetzgeber eingeräumt hat, im Niedriglohnbereich Tätigkeiten auf den Markt zu bringen, damit Langzeitarbeitslose mit nicht nachgefragten Qualifikationen eine Einstiegschance haben.

Wir haben das Einstiegsgeld im Sinne der administrativen Praktikabilität gewählt. Wir haben es auf den Markt gebracht. Wir haben in Sachsen-Anhalt über 6 000 Jobs damit geschaffen, haben Beschäftigungsverhältnisse angebahnt. Wir haben in Sachsen-Anhalt in den letzten anderthalb Jahren - die Wohnbevölkerung in SachsenAnhalt hat an der Bevölkerung in der Bundesrepublik einen Anteil von 2,9 % - 30 % aller Einstiegsarbeitsverhältnisse in Deutschlands realisiert.

Wenn Sie sich mit den Betroffenen unterhalten - ich mache das regelmäßig -, dann hören Sie, dass die Menschen, die vorher langzeitarbeitslos waren, für diese Einstiegsmöglichkeit dankbar sind. In sehr vielen Fällen ist auch eine Weiterentwicklung in ihrer beruflichen Biografie möglich gewesen. Sie sind heute in besseren Arbeitsverhältnissen tätig.

Natürlich ist dieses Einstiegsgeld vom Gesetzgeber als befristete Möglichkeit eingeräumt worden und ist logischerweise in vielen Fällen auch befristeter Natur geblieben. Man überlegt aber gerade im Bundesarbeitsministerium, inwieweit man die Befristung wegnimmt, weil man die guten Erfahrungen des Landes SachsenAnhalt - wir haben den ersten Zwischenbericht zur Evaluierung mit den Herren dort besprochen - durchaus als interessant ansieht.

Ich lese gerade „Ende der Redezeit“. Deswegen versuche ich, noch einige letzte Gedanken ganz kurz und kompakt zu formulieren.

Bei der Implementierung des Einstiegsgeldes, die in Sachsen-Anhalt erfolgreich praktiziert wurde, haben wir gemerkt, dass aus verschiedenen Gründen - aus sozialpolitischen Gründen eher nachrangig -, aus Gründen der Praktikabilität und der Fehlallokation bzw. des Vermeidens von Mitnahmeeffekten, eine untere Lohnschranke durchaus angebracht ist. Diese praktizieren wir. Wir haben aufgrund der 6 000 Jobs, die wir sozusagen im Evaluierungspool haben, die untere Lohnschranke für uns mit 4,50 € definiert. Auf diese werden dann die Zuschüsse des Kombilohnmodells - das Einstiegsgeld - gesetzt. Wir mussten aber feststellen, dass diese untere Lohnschranke für Sachsen-Anhalt im Vergleich zu der sonstigen Wirtschaft, die vorhanden ist, sogar etwas zu hoch ist,

(Lachen bei der Linkspartei.PDS)

weil es Tätigkeiten gibt, die man ansonsten alternativ - ich sage „alternativ“, von Tätigkeit zu Tätigkeit -

(Zuruf von Frau Penndorf, Linkspartei.PDS)

in China in einem anderen Betriebsteil erledigen würde.

Das heißt doch nicht, dass diese Menschen diese 4 € oder 4,50 € bekommen. Sie bekommen aufgrund unserer Aufschläge 6 €, 7 €. Ich sagte ja vorhin: Lohnfindung ist das eine, und das, was der Staat diesen Menschen im Sinne einer Existenzsicherung unbedingt gewährleisten muss, das zahlen wir obendrauf. Das haben diese Menschen. Sie sind damit sehr zufrieden und liegen über Hartz IV.

Ich sage nur: Wir gehen mit dieser unteren Lohnschranke zurzeit in das weitere Verfahren. Wir haben eine untere Lohnschranke,

(Zuruf von Frau Bull, Linkspartei.PDS)

weil wir sagen: Über einen Betrag darunter lassen wir mit uns nicht verhandeln, weil die Löhne, die ansonsten zustande kommen, auch bezüglich dessen, was der allgemeine Steuerzahler aufzubringen hat, um diese Löhne darzustellen, einfach nicht opportun sind und nicht zugelassen werden sollten.

Deshalb experimentieren wir ganz offensiv mit diesem Instrument, Arbeit zugunsten der betroffenen Langzeitarbeitslosen zu schaffen, die sonst ohne Job wären. Wir werden am Jahresende die Evaluierung so weit betrieben haben, dass wir ein gutes Fundament haben wer

den, um die in der Koalition durchaus vorhandenen Interessenlagen und fachlichen Ansätze so zu einem Ausgleich zu bringen, dass wir uns bundespolitisch aufstellen können, wenn es darum geht, das SGB II weiterzuentwickeln, damit wir mit Kombilöhnen, mit Mindestlohndiskussionen und auch mit der Integration von Langzeitarbeitslosen einen Schritt weiterkommen.

Wenn wir das nicht machen würden, dann würden wir die Chancen, die uns jetzt gegeben wurden, nicht nutzen. Wenn wir zum jetzigen Zeitpunkt einen Mindestlohn von 7,50 € ohne Rücksicht auf die Region, in der wir uns befinden, einführen würden, dann würde das bedeuten, dass 25 % der existenten Jobs in Sachsen-Anhalt davon betroffen wären. Ich sage bewusst abstrakt „betroffen wären“, weil wir uns dann entscheiden müssten, ob wir diese alle hoch subventionieren - wir können das einmal für den Haushalt ausrechnen - oder ob wir letztlich auf diese Arbeitsplätze verzichten, weil sie ansonsten woanders, aber nicht mehr in Deutschland geschaffen würden.

Ich glaube, dass wir deshalb aufgefordert sind, diese Diskussion sachlich, produktiv und emotionsfrei - nicht emotionslos, sondern emotionsfrei - im Sinne des technischen Vorgehens zu führen. Emotionslos können wir nicht sein, weil es hierbei um die gemeinsame Bekämpfung der Arbeitslosigkeit geht. Jeder Mensch, den wir in Arbeit bringen, hat einen besseren Status. Das muss unser Ziel sein. Deswegen stellen wir uns dieser gesamten Diskussion sehr offensiv und produktiv. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und von der Regierungsbank)

Herr Minister, es gab noch eine Frage von Frau Dr. Klein. - Bitte schön, Frau Dr. Klein, fragen Sie.

Herr Minister, ich habe zwei Fragen. Es ist wirklich ein sehr kompliziertes Thema. Sie haben in Ihren Vorbemerkungen gesagt und haben auch jetzt noch einmal zum Ausdruck gebracht, dass ein gesetzlicher Mindestlohn zu Insolvenzen und zu weiterer Arbeitslosigkeit führen könnte. Nun gibt es in 20 Ländern der EU gesetzliche Mindestlöhne. Gibt es Erfahrungswerte, wie dort die Entwicklung der Arbeitslosigkeit und der Insolvenzen war?

Eine zweite Frage. Glauben Sie eigentlich noch ernsthaft daran, dass die Tarifautonomie angesichts des Lohndumpings noch funktioniert, dass sie in diesem Land noch Ordnungskraft hat, wenn der Staat bei Tarifverträgen, die auf Druck der Arbeitgeber so auszugestalten sind, noch etwas draufzahlen muss? Ist denn das wirklich noch Tarifautonomie oder ist die Tarifautonomie bei uns in der Bundesrepublik nicht schon längst ausgehebelt?

Ich glaube, dass die Tarifautonomie eine Chance hat. Sie hat eine Chance, obwohl sie zurzeit in einer kritischen Phase ist, der Organisationsgrad auf beiden Seiten sinkt und demzufolge auch die Ergebnisse, die erreicht werden, nicht besonders zielführend sind.