Herr Gallert, der Fraktionsvorsitzende, wird in das Thema einführen. Anschließend wird für die Landesregierung Herr Minister Hövelmann das Wort nehmen. Danach folgen die Redner der anderen Fraktionen.
Meine Damen und Herren! Ich würde herzlich um Folgendes bitten: Das ist zwar ein Thema, das die Menschen im Lande bewegt. Ich würde mich aber trotzdem darüber freuen, wenn wir uns ein wenig an unsere Geschäftsordnung halten würden und die Redezeit in etwa einhalten könnten. Herzlichen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident, ich habe Ihre Mahnung verstanden. Ich werde mir ganz große Mühe geben, ohne Ihnen völlig versprechen zu können, alles so zu machen, wie Sie es im optimalen Fall erwarten.
Die Ereignisse in der Nacht vom letzten Freitag zum Sonnabend in Halberstadt waren aufgrund ihrer Brutalität dazu angetan, uns aus der schleichenden Gewöhnung an rechtsradikale Gewalttaten herauszureißen. Trotz der Spontaneität dieses Verbrechens wissen wir seit Langem, dass solche Gewalttaten Teil eines Bedrohungsszenarios sind, das die Rechtsextremen gegenüber der Zivilgesellschaft, insbesondere im Osten Deutschlands, insbesondere im Harz, anwenden.
Wer von uns bezweifelt eigentlich noch diese Strategien? Wer von uns glaubt noch immer, dass es sich hierbei nur um ein paar gelangweilte, zufällig braun angehauchte, verwirrte Jugendliche handelt?
So sehr wir uns bei der Verurteilung des Verbrechens in Halberstadt einig sind, umso differenzierter bewerten wir wahrscheinlich die gesellschaftlichen Ursachen, die dazu führten.
Aus unserer Sicht müssen wir eine mangelnde Akzeptanz demokratischer Prinzipien konstatieren. Die Schwäche der Demokratie führt in der Konsequenz zum Erstarken des Rechtsextremismus über die Schritte, die da lauten: erstens Ignoranz des Problems und der Gefahr, zweitens stillschweigende Akzeptanz und drittens offene Aggression - körperlich oder verbal. In Halberstadt haben wir es - wie in ganz Sachsen-Anhalt und in der ganzen Bundesrepublik - mit allen drei Formen zu tun.
Ausgangspunkt ist und bleibt jedoch die Schwäche der Demokratie. Woher kommt diese aber? Woher kommt der substanzielle Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und ihre Repräsentanten, der sich in Sachsen-Anhalt gerade bei der aktuellen Diätendiskussion ziemlich beeindruckend äußert, aber eigentlich spätestens mit dem Wahlbeteiligungsdesaster bei den letzten Landtags- und Kommunalwahlen in Sachsen-Anhalt deutlich wurde?
Aus unserer Sicht gibt es zwei große Komplexe, die dazu führen: Zum einen messen die Menschen Politik an ihrem Ergebnis, und zwar am Ergebnis für ihre indivi
duelle Situation. Gerade diese stellt sich für die Bürger in Sachsen-Anhalt ausgesprochen ambivalent dar. Das fängt bei der großen Gruppe von Menschen an, die im Hartz-IV-Bereich überhaupt nicht den Eindruck gewinnen, dass es hier aufwärts geht. Das betrifft in gleichem Maße die noch größere Gruppe von Menschen, die sich in ihrem sozialen Status substanziell bedroht sehen.
Die größte Gruppe von Menschen, die sich von der Einkommensentwicklung abgekoppelt sieht, und zwar auch durch politische Entscheidungen, sind die Rentner. Drei Nullrunden hintereinander und 0,54 % Erhöhung sind unter dem Strich ein dickes Minus. Ihnen zu erklären, dass das nun einmal die Konsequenz aus der demografischen Situation ist, an der gerade sie keine Schuld tragen, dürfte objektiv ein schwieriges Unterfangen sein. Übrigens bestätigen fast alle Untersuchungen, dass rechtsextreme Einstellungen, zumindest im Osten Deutschlands, unter den Rentnern die größte Akzeptanz haben.
Natürlich wissen wir, dass es keine einfache Kausalität zwischen sozialer Lage und Demokratieverdrossenheit gibt. Es gibt demokratisch engagierte Menschen, die Hartz IV bekommen. Es gibt hervorragend materiell gesicherte Rechtsextreme. Aber soziale Verunsicherung ist - und das nicht erst heute - ein hervorragendes Klima für die Entwicklung des Rechtsextremismus.
Ein weiterer substanzieller Vertrauensverlust in die demokratischen Institutionen ist die Folge der Entpolitisierung von Politik - vor allem, aber nicht ausschließlich. Die substanzielle Krise der öffentlichen Kassen als Ergebnis von politischen Entscheidungen engt die Handlungsspielräume demokratisch gewählter Institutionen immer weiter ein. Wenn dann nach den Kommunalwahlen festgestellt wird, wie zum Beispiel ii einem Kommentar in der „Mitteldeutschen Zeitung“, dass die Kandidaten in ihren Wahlaussagen kaum unterscheidbar waren, so hat das vor allem damit zu tun, dass sie im anderen Falle einfach gelogen hätten, weil die Handlungsspielräume objektiv extrem gering sind. All dies ist nicht Ergebnis eines Naturgesetzes. Es ist Resultat politischer Entscheidungen, zum Beispiel der Absenkung der Steuerquote und des Prinzips „Markt vor Staat“.
Soziale Polarisation und Entpolitisierung der Politik sind aus unserer Sicht zwei entscheidende Ursachen für den Vertrauensverlust in die Demokratie und das Fortschreiten rechtsextremer Positionen. Die meisten werden diese Diagnosen wahrscheinlich nicht teilen. Was wir wollen, ist eine grundsätzliche Diskussion über diese Ursachen, dann eine Einschätzung zur Dramatik der Situation und dann vielleicht eine gemeinsame Diskussion zur Lösung dieses Problems.
Über eines sollten wir alle uns aber im Klaren sein: Es nützt nichts und niemandem, sich über den vermeintlich demokratiemüden oder demokratieunreifen Bürger aufzuregen. Verändern können wir uns nur selbst. Deswegen verbietet es sich - zumindest aus meiner Sicht - für uns Politiker, das Problem mangelnder Demokratieakzeptanz durch eine Fehleranalyse beim Bürger auflösen zu wollen, wie es Richard Schröder in seinem Vortrag auf dem Ökumenischen Jahresempfang überwiegend getan hat. Das mag für ihn als Wissenschaftler noch passabel sein, für uns als Politiker verbietet sich dieser Weg. Ansonsten sollten wir uns wirklich auf den Weg machen und uns ein Volk suchen, das unseren Ansprüchen genügt. Insofern fand ich die Wortmeldung des
Neben dieser allgemeinen Bewertung müssen wir uns jedoch die Situation in Halberstadt genauer anschauen. Natürlich wird es vor Ort wieder die Reaktion geben, dass man sich um das Image der Stadt Sorgen macht. Ich sage aber hier ausdrücklich: Zuerst geht es um die Menschen, nicht um das Image. Sonst führt dies dazu, solche Verbrechen zu verschweigen, sie am besten nicht zu verfolgen, sie nicht in Statistiken zu erfassen, also wegzusehen.
Darüber hinaus müssen wir uns einer pauschalen Verurteilung der Stadt oder der Region widersetzen. Wir würden gerade denjenigen damit Unrecht tun, die sich mutig und couragiert gegen den braunen Mob wehren und sich vor Ort für Demokratie einsetzen. Es ist ganz maßgeblich der Stadt zu verdanken, dass es dort eine Außenstelle der Moses-Mendelssohn-Akademie gibt und dass schon zu DDR-Zeiten durch Vertreter der evangelischen Kirche intensive Kontakte zu ehemaligen jüdischen Familien in Halberstadt gepflegt wurden.
Wir konnten konstatieren, dass im April letzten Jahres die größte Demonstration in Sachsen-Anhalt unter der Überschrift „Bunt statt braun“ mit etwa 4 000 Teilnehmern stattgefunden hat - eine Mobilisierung der Bürger in dieser Stadt, die sonst kaum gelingt.
Wir erleben jedoch nach wie vor, dass vor allem Medien aus dem Westen der Bundesrepublik nicht in der Lage oder nicht willens sind, eine solche Differenzierung vorzunehmen. Man kann sich oftmals des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Pauschalverurteilung ein bisschen wie das Pfeifen im Walde ist und dass der Westen der Republik davon ablenken will, dass es auch dort viele Anzeichen für den Vertrauensverlust in demokratische Institutionen gibt. Auch in Bremen war die Wahlbeteiligung auf ihrem historischen Tiefpunkt.
Zu Beginn der Überlegungen zu dieser Aktuellen Debatte haben wir darüber nachgedacht, sie als eine kulturpolitische Debatte anzulegen. Wir sind letztlich davon abgekommen, weil das Problem noch umfassender ist. Es ist aber auch ein kulturpolitisches Problem. Mag es Zufall sein, dass die Opfer des Überfalls Mitglieder eines Theaterensembles waren, so ist doch die Bildhaftigkeit des Angriffs der Unkultur auf die Kultur nicht zu überbieten.
Gerade die Theater außerhalb der drei Oberzentren des Landes haben eine unwahrscheinlich wichtige Funktion für Demokratie und Toleranz in unserem Land. Sie übernehmen oftmals als letzte Institution mit einer relativen Existenzgarantie die Koordinierungsfunktion sowohl für demokratisches als auch für kulturelles Engagement. Vor diesem Hintergrund wäre die Präsenz des Kultusministeriums bei der Podiumsdiskussion am Dienstagabend in Halberstadt außerordentlich hilfreich gewesen.
Wir müssen auch in diesem Land darüber nachdenken, inwieweit wir kulturelle Institutionen wirklich einer Zentrumsorientierung nach dem Landesentwicklungsplan unterlegen wollen. Gerade die Diskussion um die Theaterdichte im Kontext von Benchmark-Studien führt sehr schnell zu einer unakzeptablen Einengung der Bewertungskriterien. Dies trifft übrigens auch auf die Präsenz anderer staatlicher Institutionen in der Fläche zu.
Ich habe bisher viel über die Verantwortung von Politik und Gesellschaft insgesamt gesprochen. Wir müssen
aber angesichts der Verbrechen von Halberstadt auch über das Versagen der Polizei reden. Viel ist darüber schon gesagt worden. Ich kann der Aussage nur zustimmen, dass man die Vorgänge in Halberstadt nicht auf das Versagen der Polizei reduzieren darf. Aber man darf auch gesellschaftliche Dinge, die vorher nicht passiert sind und deswegen vorher Versagen artikulieren, nicht als Entschuldigung für das Versagen der Polizei heranziehen. Weder das eine noch das andere ist statthaft.
Ja, die Polizei steht immer am Ende der gesellschaftlichen Kette. Aber das ist nun einmal die Definition der Polizei. Dafür ist sie da. Ansonsten brauchten wir sie nicht. Wenn eine Gesellschaft reibungslos funktionieren würde, dann brauchte man sie nicht.
Ein weiterer Satz ist: Die Polizei steht dann immer am Ende einer solchen Verantwortungskette. Bei ihr wird alles abgeladen. - Nein, in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend stand nicht die Polizei am Ende der Kette. In der Nacht vom Freitag zum Sonnabend standen die Opfer am Ende der Kette. Deren Perspektive ist ausschlaggebend.
Ich möchte an dieser Stelle zumindest noch einen Teil eines Augenzeugenberichts vorlesen können, der heute - das habe ich gerade gehört - in der „Halberstädter Volksstimme“ veröffentlicht worden ist. Ich glaube aber, es ist für die Aktuelle Debatte wichtig, dass wir die Sicht der Opfer im Landtag einmal artikulieren. Ich zitiere:
„Auf der anderen Straßenseite überlegten wir nun, wohin wir gehen sollten. Drei von uns waren schon auf der Höhe der Theaterkasse, als plötzlich acht bis neun Neonazis von der Treppe des Klubhauses auf uns zustürmten. Sie schlugen auf unsere fünf männlichen Begleiter ein, bis sie verletzt und stark blutend auf der Erde lagen und sie mit dem Treten beginnen konnten.
Wir riefen die Polizei und versuchten, uns und die Verletzten in Sicherheit zu bringen, obwohl dies so gut wie unmöglich war. Nach ca. fünf bis zehn Minuten traf die Polizei ein. Die Neonazis spazierten in Gruppen von je zwei Mann langsam davon. Wir baten die Beamten zunächst höflich, die Täter zu verfolgen. Sie taten nichts, sondern waren der Meinung, sie müssten zuerst unsere Personalien aufnehmen. Nach weiteren Aufforderungen, die Schläger zu verfolgen, passierte trotzdem nichts. Die Neonazis sind vor den Augen der Polizei davon spaziert. Warum?
Die Beamten kamen nach einiger Zeit auf die Idee, einen bzw. zwei Krankenwagen zu rufen. Um 3.15 Uhr trafen die Verletzten im Krankenhaus ein. Währenddessen ließen die Beamten vier weibliche und eine männliche Person am Ort des Geschehens zurück, ohne sich auch nur ein wenig dafür zu interessieren, wie diese nach Hause kommen sollten. Auf die Frage, ob sie uns denn begleiten oder fahren könnten, antworteten sie nicht.
Wir fünf sahen kurz vor der nächsten Kreuzung ca. fünf der Schläger, die laut grölten. Wir riefen sofort die Polizei. Nach genau 15 Minuten kamen die Beamten an. Natürlich waren die Neonazis verschwunden und wir durften uns Vorwürfe von den Beamten machen lassen, warum wir sie denn gerufen haben; hier ist doch niemand.
Einige Zeit später im Krankenhaus angekommen, warteten unsere Verletzten noch immer auf medizinische Versorgung. Der Chefarzt kam erst gegen 6 Uhr. Er erklärte uns, er sei aus Halberstadt aufgrund der Neonazis weggezogen; wir sollten es doch genauso machen.
Nach ca. 3,5 Stunden im Krankenhaus wurden die körperlich Unversehrten zum Polizeirevier gefahren, immer noch mit blutverschmierter Kleidung. Dort warteten wir wieder ca. fünf Stunden, bis mit der Vernehmung begonnen wurde. Zum Teil vollkommen unfähige Beamte haben uns ein bis zwei Stunden lang vernommen, ohne Interesse an dem Fall zu zeigen. Im Gegenteil, teilweise ließen das Verhalten und die Äußerungen einiger Beamter nur einen Schluss zu: Sie heißen das Geschehene gut. Dies gilt allerdings nicht für alle Beamten.“
Das ist die Sicht der Opfer. Wir wissen genau, dass diese Vorwürfe und Bewertungen, die realisiert worden sind, wahrscheinlich nie juristisch oder disziplinarrechtlich erfasst werden können. Davon kann man schon von vornherein ausgehen.
Aber wir wissen natürlich, wenn das die dominante Sicht potenzieller Opfer ist, werden sie sich in absehbarer Zeit nicht mehr auf die Polizei verlassen können. Es gibt eine Menge Anzeichen dafür, dass es sich nicht um ein einmaliges Versagen handelt. Wir haben sehr viele Informationen auch in Sachsen-Anhalt, dass es hier strukturelle Probleme gibt. Das ist keine Pauschalverurteilung. Ich glaube, die Polizeidirektion Halberstadt ist in den letzten Tagen sehr offensiv mit diesen Dingen umgegangen. Aber Opferberatungsstellen sagen uns ausdrücklich: Das, was uns hier geschildert wird, ist nichts Außergewöhnliches. Es ist eher etwas Typisches für eine solche Situation.
Ich sage ganz deutlich, ich wundere mich, dass es zum Beispiel Unterschriftenaktionen in der PD Dessau gegen die drei Staatsschützer gibt, die sich gegen die Behinderung ihrer Tätigkeit gegen Rechtsextreme zur Wehr gesetzt haben. Es sind Unterschriften des Personalrates, dass das wohl alles nicht sein kann. Die GdP hat sich zu dem Fall in Halberstadt bis heute leider nicht geäußert.
Ich will am Ende meiner Rede trotz alledem noch einmal vor allem denjenigen danken, die sich in der Kampagne „Hingucken“, aber auch weit darüber hinaus ehrenamtlich oder hauptamtlich im Kampf gegen den Rechtsextremismus engagieren. Das, was dabei geleistet wird, ist nicht genug zu würdigen. Aber es wird leider von zu wenigen geleistet. Und manchmal werden sie eben auch behindert.
Erfolgreich werden wir nur dann sein, wenn es uns gelingt, diese Bewegung gesellschaftlich zu verbreitern, innerhalb und außerhalb der staatlichen Institutionen, nicht nur, aber eben auch mit staatlicher Unterstützung für die ehrenamtlichen Strukturen in diesem Bereich. - Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Herzlichen Dank dem Fraktionsvorsitzenden Herrn Gallert für die Einführung. - Ich erteile nun für die Landesregierung Herrn Minister Hövelmann das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Für die Landesregierung will ich ohne Wenn und Aber drei Aussagen treffen:
Erstens. Die gesamte Landesregierung teilt den Zorn der Opfer von Halberstadt. Rechtsradikale haben in Halberstadt im wahrsten Sinne des Wortes die Würde des Menschen mit Füßen getreten. Gegenüber rechten Gewalttätern darf es keine Toleranz geben.
Zweitens. Unsere Polizei leistet gute Arbeit, nicht nur bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus. Unsere Polizei verdient das Vertrauen der Bevölkerung und auch des Landtages.
Fehler einzelner Polizisten im Einsatz - wie in Halberstadt geschehen - dürfen nicht zu unsachlichen Verallgemeinerungen führen. Dieses, meine sehr verehrten Damen und Herren, dürfen wir alle nicht zulassen.
Drittens. Diese Landesregierung muss sich von niemandem Vorhaltungen gefallen lassen, sie vernachlässige die Bekämpfung des Rechtsextremismus. Das Gegenteil ist der Fall.