Es gibt eine Reihe von Indizien. Wir hatten zum Beispiel die Situation bei der Bürgermeisterwahl in Halle, dass die Wahlbeteiligung in den Stadtteilen mit besser betuchten Bürgern doppelt so hoch gewesen ist wie in den Plattenbauten, sozusagen im Satellitenbereich, und das, obwohl die Wahlbeteiligung insgesamt schon extrem gering gewesen ist.
- Ja, aber es ist immer noch ein Unterschied, ob 36 oder 18 % zur Wahl gehen. Damit haben wir schon einmal eine Situation, die wir einfach mal sehen müssen, Herr Tullner: Es koppeln sich immer mehr Menschen in Abhängigkeit von ihrer sozialen Situation vollständig von diesem politischen System ab. Wir haben möglicherweise unterschiedliche Antworten auf dieses Problem. Aber wichtig ist, dass wir dieses Problem erst mal akzeptieren. Das habe ich so zumindest noch nicht gehört.
- Ich will das politische System, das genau auf die Menschen zugeht, die sich massenhaft davon abzukoppeln drohen. Ich will, dass wir selbst uns die Frage stellen: Wie können wir es erreichen, dass wir wieder auf ihre Interessen eingehen können, dass sie den Eindruck haben, dass das, was sie an Interessen artikulieren, sich im politischen System auch reflektiert?
- Das wäre kein grundsätzlich anderes System. Das wäre ein System, in dem Politiker möglicherweise besser auf die Interessen gerade dieser Menschengruppen reagieren, heller sind, wacher sind, sich tiefer in diese Probleme einarbeiten, als die Leute es uns zurzeit bescheinigen. Das wäre kein anderes System. Das wäre möglicherweise ein System mit etwas aktiveren und besseren Politikern in dem Kontext. So viel Selbstkritik muss auch hier erlaubt sein.
(Beifall bei der LINKEN - Herr Stahlknecht, CDU: Das ist keine Systemfrage, das sind Personalfra- gen! - Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Genau!)
- Irgendwann wird die Personalfrage möglicherweise auch zur Systemfrage, nämlich dann, wenn das Personal es nicht mehr schafft, das System zu legitimieren.
Lassen Sie mich am Ende noch einmal zu dem viel diskutierten Problem des DDR-Bildes etwas sagen. Ich bin mir durchaus bewusst, dass es sich hierbei um politische Bewertungen von höchster Sensibilität handelt. Dem einen oder anderen Politiker im Westen werden wieder alle Vorurteile bestätigt werden, dass die Ossis ja eigentlich ihre DDR wiederhaben wollen.
Ich sage hier ausdrücklich: Das ist natürlich Quatsch. Es ist sogar Quatsch bei den knapp über 20 % der Befragten, die das so angegeben haben.
Es gibt aber eine Reihe interessanter Aspekte, die wir näher beleuchten sollten. Immerhin gibt es doch eine Mehrheit von Menschen in diesem Land Sachsen-Anhalt, aus deren Sicht die Vorteile der Wiedervereinigung überwiegen und damit auch die Vorteile des jetzigen politischen Systems gegenüber dem der DDR.
Noch deutlicher wird dies bei der Frage nach der persönlichen Situation. Dort sehen wir die großen Unterschiede. Arbeitslose, vor allem Langzeitarbeitslose sagen sowohl für die gesamte Gesellschaft als auch für sich persönlich, die Wiedervereinigung, das neue politische System habe ihnen mehr Nachteile gebracht, als sie sie in der DDR gehabt hätten. 66 %, zwei Drittel dieser Personengruppe, geben das an. Das müssen wir erst einmal zur Kenntnis nehmen.
Daran sehen wir sozusagen das Grundproblem, vor dem wir stehen: Die DDR-Reflexion, die sich in dieser Umfrage widerspiegelt, ist nicht wirklich die Reflexion der DDR; es ist die Reflexion der eigenen sozialen Situation und es ist in einer gewissen Art und Weise - das ist zumindest mein Eindruck - eine Trotzreaktion auf enttäuschte Erwartungen, auf nicht erhaltene Positionen, die man in dieser neuen Gesellschaft haben wollte.
Interessant ist übrigens unter soziologischen Aspekten, dass gerade die Personengruppen - sowohl soziale Gruppen als auch Altersgruppen - am tiefsten enttäuscht sind, die in den Jahren 1989/1990 die Wende zutiefst bejaht haben. Gerade Arbeiter in dem Bereich ab 45 Jahren waren diejenigen, die damals diese Dinge ganz wesentlich getragen haben. Sie sind heute oftmals diejenigen, die am enttäuschtesten sind, und diejenigen, die in diesen Umfragen der DDR-Reflexion die besten Werte geben.
Das ist im Grunde genommen tatsächlich die Fragestellung, vor der wir hierbei stehen. Diejenigen, die das angegeben haben, bringen damit ihre Kritik an ihrer aktuellen Situation zum Ausdruck. Dann kommen wir natürlich genau dazu, dass der Wert der Demokratie, dass der Wert des politischen Pluralismus bei den Menschen vor dem Hintergrund stattfindet: Was bedeutet er für meine persönliche Situation? Demokratie und Pluralität wird sich erst bei den Menschen wirklich unter Beweis stellen, wird erst wirklich eine substanziell gefestigte Mehrheit in der Gesellschaft finden, wenn die persönliche Bilanz der Menschen so ausfällt, dass sie sagen: Jawohl, damit kann ich mich identifizieren.
Da das bei vielen jetzt noch nicht der Fall ist, haben wir es mit einer DDR-Reflexion zu tun. Diese Umfrage ist so positiv ausgefallen - das glaube ich doch mit einiger Sicherheit sagen zu können -, wie sie in den letzten 20 Jahren der DDR wahrscheinlich bei denselben Befragten nie ausgefallen wäre.
- Das könnte möglicherweise eine Überinterpretation sein. Aber ich glaube, wenn Sie im Jahr 1980 denselben Leuten dieselben Fragen gestellt hätten, wäre wahrscheinlich das DDR-Bild damals deutlich negativer ausgefallen, als es jetzt im Jahr 2007 ausgefallen ist.
- Darüber können wir gerne diskutieren, Herr Tullner. Es ist natürlich eine gewagte These; das kann man durchaus sagen. Aber ich sage: Wenn heute vor dem Hintergrund der Zahlen, die Herr Böhmer genannt hat, eine
überwiegende Mehrheit der Meinung ist, dass das Gesundheitssystem zu DDR-Zeiten unter dem Strich durch die Bank substanziell besser war, so glaube ich, dass bei einer ganz sachlichen Bewertung viele Menschen, die das heute angeben, durchaus anderer Meinung wären. Sie reflektieren es aber vor der eigenen enttäuschten Erwartungshaltung. Sie reflektieren es davor, dass sie als Kassenpatient eine andere Stellung bekommen als als Privatpatient. Das ist das, was in diesen Antworten steht. Die positive DDR-Reflexion ist zum großen Teil die Konsequenz der eigenen als defizitär empfundenen Situation. Das müssen wir uns im Grunde genommen vor Augen führen.
Es gibt einen gewaltigen Dissens gegenüber Herrn Böhmer, den ich noch einmal deutlich artikulieren will. Er ist nicht neu. Vor etwa einem Jahr hatten wir das erste Mal mit dieser Situation zu tun. Damals, Herr Böhmer, haben Sie öffentlich vertreten, dass der repressive Bereich in der DDR nicht schlichtweg Selbstzweck war, sondern letztlich die notwendige Konsequenz sozial motivierter Umverteilungspolitik. Das hat Ihnen eine Menge Ärger eingebracht. Es wurde gesagt, dass man damit etwas verharmlosen würde, dass man damit möglicherweise noch etwas legitimieren würde.
Mich hat damals schon immer gewundert, dass die Kritiker Sie nicht richtig verstanden haben. Denn die These ist aus unserer Sicht in einer ganz anderen Richtung fatal und zu kritisieren, nämlich dann, wenn diese These als allgemein gültiger Satz der gesellschaftlichen Entwicklung aufgestellt wird, dass die sozial motivierte Umverteilungspolitik zwanghaft zur Diktatur führt oder sie voraussetzt. Dazu sage ich: Das ist eine kreuzgefährliche These. Das ist nicht nur eine kreuzgefährliche These für jemanden, der sich in einer Partei befindet, die das Ziel des demokratischen Sozialismus in ihr Programm hineingeschrieben hat. Das ist für viele andere auch eine kreuzgefährliche These.
Herr Böhmer, ich sage Ihnen einmal ganz deutlich vor dem Hintergrund der Monitor-Umfrage: Wenn wir die Menschen in Sachsen-Anhalt wirklich vor diese Alternative stellen, dass sozial motivierte Umverteilungspolitik in die Diktatur führt, dann weiß ich nicht einmal, wie viele Menschen sich möglicherweise vor dem Hintergrund dieser zwingenden Alternative von der Demokratie abwenden würden. Einige dieser Befragungen würden diesen Schluss durchaus nahe legen.
Deswegen warne ich vor diesem Zusammenhang. Deswegen sage ich sehr wohl: Sozial verantwortliche Politik, ja auch Sozialismus ist mit Demokratie vereinbar. Das hat die DDR nicht bewiesen, aber sie hat es auch nicht bis in alle Ewigkeit widerlegt.
(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von Frau Feuß- ner, CDU - Herr Stahlknecht, CDU: Wollen Sie das alte wiederhaben, das alte System, ja?)
- Sehen Sie, Herr Stahlknecht, wenn Sie jetzt zugehört hätten und mich verstanden hätten, dann hätten Sie genau gewusst, dass ich das nicht haben will. Ich sage Ihnen, nicht einmal diejenigen, die das in der Umfrage gesagt haben, wollen das alte System wieder.
Es gibt allerdings unter dem Aspekt DDR-Bild noch eine andere Konsequenz bzw. noch andere Aspekte, die sehr deutlich sind. Wir haben eine Fragestellung innerhalb dieses Monitorings, die in etwa lautet: Sind Sie dafür, dass in der medialen Darstellung die DDR nicht nur auf Stasi und SED-Diktatur beschränkt wird? - Diese Frage bejahen 96 %.
Und bei der gesamten Einschätzung der DDR, ihrer sozialen Motivation, ihres inneren Zusammenhangs, der Lebensqualität sind die Umfragewerte nun weiß Gott nicht so, wie man sie aus den normalen Festtagsreden von Feierlichkeiten zum 3. Oktober erwarten dürfte. Nein, wenn wir ehrlich sind, sind sie sogar an vielen Stellen diametral entgegengesetzt. Dazu sage ich mit aller Deutlichkeit: Wir bekommen bei der Frage des DDRBildes die Renaissance eines Phänomens aus der DDR, die Renaissance eines völlig dualen Weltbildes.
Das nämlich kennen die Menschen aus Sachsen-Anhalt. In den Betrieben der DDR wurden Feierlichkeiten abgehalten. Bei diesen Feierlichkeiten wurden noch in den 80er-Jahren Reden mit Hochgesängen auf die DDR, auf die SED und auf die Planwirtschaft gehalten. Alle diejenigen, die dabei waren und in diesem Raum gesessen haben, wussten, dass es Quatsch ist. Die meisten, die in diesem Raum gesessen haben, wussten, dass sogar die Redner, die das vorgetragen haben, nicht mehr daran geglaubt haben.
Aber man hat dieses Ritual auf der offiziellen und auf der medialen Seite durchgezogen. Man hat diese Gesänge abgehalten und ist nach Hause gegangen. Jedes Mal nach so einem Gesang ist das individuelle DDR-Bild substanziell schlechter gewesen als vorher, weil jeder Folgendes gesagt hat: Das ist das, was du da erzählen musst, und das ist das, was du glaubst.
Nachdem ich diesen Monitor gelesen habe, habe ich so ein bisschen den Eindruck, dass dieses Phänomen wiederkommt.
Natürlich, DDR war - das wissen wir - SED-Diktatur, Stacheldraht usw. Aber daneben habe ich mein persönliches Bild. Dieses persönliche Bild hat damit fast nichts zu tun. Dieser Dualismus scheint hier wieder aufzuleben. Hierzu sage ich ganz deutlich: Diesen Dualismus muss man überwinden. Ansonsten - das sage ich im vollen Bewusstsein dessen, was es bedeutet - wird das individuelle Bild der DDR zumindest bei denjenigen, die sie noch erlebt haben, wahrscheinlich in einer Art und Weise schöngefärbt, dass das Fehlen von demokratischen Grundstrukturen nachher überhaupt nicht mehr als Belastung empfunden wird. Wir brauchen eine ehrliche gesellschaftliche Kommunikation und Auseinandersetzung über dieses DDR-Bild.
Wenn man hierbei den Satz „DDR war SED-Diktatur, Stacheldraht und Schießbefehl“ voranstellt, wird man genau die folgende Reaktion erzeugen: Lass sie reden; ich habe mein eigenes DDR-Bild, das damit nichts zu tun hat. Das wäre in der Konsequenz wirklich fatal für die ungefestigte und ungesicherte Demokratie in diesem Land Sachsen-Anhalt, weil man sich dann wirklich in einer vorbehaltlosen Nostalgie demokratischer Spielregeln, die manchmal schwierig sind und die manchmal wehtun, entledigen könnte.
Das darf nicht passieren. Deswegen müssen wir diesem Dualismus begegnen und dürfen ihm nicht noch Vorschub leisten.
Die logische Konsequenz der Datengrundlage des Sachsen-Anhalt-Monitors ist tatsächlich die Aufforderung an uns Politiker, für Demokratie zu kämpfen, indem wir die Leistungen des demokratischen Systems erzielen, die die Menschen von dem Wert der Demokratie überzeugen. Ein Jammern über Demokratiemüdigkeit, Desinteresse oder darüber, dass wir es einfach mit den falschen Menschen zu tun hätten, hilft uns nicht. Solche Urteile fallen nur auf uns selbst zurück. Dafür muss jede Fraktion und jede Partei ihre eigenen Konzepte entwickeln und versuchen, im Meinungsstreit die Bürger des Landes zu überzeugen. Dabei, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben wir alle noch genug zu tun. - Danke.
Vielen Dank für den Beitrag, Herr Gallert. - Bevor ich dem nächsten Debattenredner das Wort erteile, begrüße ich Seniorinnen und Senioren der Arbeiterwohlfahrt, Ortsverein Halle-Neustadt und der Arbeitsgruppe „60plus“ aus Halle. Herzlich willkommen!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Herr Ministerpräsident hat seine Regierungserklärung unter das Thema „Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft“ gestellt. Ich habe das Thema als Aufforderung dazu verstanden, erneut, über die aktuelle Tagespolitik hinaus, über die gesellschaftspolitischen Grundlagen unseres politischen Handelns nachzudenken und darüber hier im Landtag zu diskutieren und zu debattieren.
Ich begrüße dies im Übrigen sehr. Denn es ist unsere originäre Aufgabe als gewählte Abgeordnete des Landes, neben den täglichen Auseinandersetzungen um Haushaltspläne, um Haushaltstitel, um Rasselisten und um Brückenbauten den Blick für das große Ganze nicht zu verlieren und auch unseren eigenen Kompass immer wieder neu zu justieren.
Herr Ministerpräsident, es ist vermutlich nicht ganz zufällig, dass ich auf ähnliche, nahezu die gleichen Themen gekommen bin, bevor ich Ihre Rede, die wir freundlicherweise im Vorfeld zur Verfügung gestellt bekommen haben, erhalten habe, sodass es an meiner Rede überhaupt nichts mehr zu ändern gab. Es sind die ähnlichen Themen, die mir dabei als Gedanken kamen.