Protokoll der Sitzung vom 16.11.2007

Wenige Monate später, am 3. Oktober 2007, äußerte sich Frau Tiedge in einem deutschlandweit ausgestrahlten Interview von „Report München“. Befragt nach ihrer früheren Tätigkeit als Staatsanwältin in der DDR stellte sie fest, dass sie nichts bereue und ein Staatsanwalt in

der DDR zum größten Teil die gleichen Arbeiten gemacht habe wie ein Staatsanwalt in der alten Bundesrepublik. - So weit, meine Damen und Herren, in groben Zügen der Ablauf der Ereignisse.

Daran ist aus meiner Sicht klar geworden, dass bei der seinerzeitigen Personalentscheidung des Landtages drei Dinge falsch eingeschätzt wurden:

zum Ersten das hohe Maß an Sensibilität und Verletzlichkeit, das auch 17 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung die Opfer im Umgang mit den DDR-Verantwortlichen kennzeichnet,

zum Zweiten das hohe Maß an Besorgnis und Empörung, das in der Öffentlichkeit über die Ratsbesetzung herrscht und in Briefen, Anrufen und E-Mails aus ganz Deutschland zum Ausdruck kam,

und zum Dritten das noch immer geringe Maß an Einsicht und Bedauern, das vielen damals Verantwortlichen zu eigen ist und das sich leider auch bei Frau Tiedge in der Gleichsetzung der Tätigkeit des Staatsanwalts im Rechtsstaat und im Unrechtsstaat gezeigt hat.

Diese Erkenntnisse verlangen eine Neueinschätzung der Lage und diese heißt: Eine fruchtbringende Zusammenarbeit im Stiftungsrat ist nur möglich, wenn Frau Tiedge auf ihre Mitgliedschaft verzichtet und DIE LINKE einen anderen, allgemein akzeptablen Personalvorschlag für den Stiftungsrat macht. Nur so können wir vernünftig weiterarbeiten - im Interesse aller Opfer der beiden deutschen Diktaturen.

Sehr geehrter Herr Gallert, ich möchte Sie und Ihre Fraktion und vor allem auch Frau Kollegin Tiedge selbst an dieser Stelle nochmals eindringlich bitten, den Weg für eine solche Lösung freizumachen. Noch immer ist Zeit für eine noble Geste, die deutlich macht, wie ernst es auch Ihnen ist, sich um alle Opfer von Diktaturen auf deutschem Boden mit ihren Sorgen und Nöten zu kümmern, und nicht nur um die Opfer der Nationalsozialismus.

Dabei ist mir völlig klar, dass die Opfer und ihre Verbände sich nicht immer nüchtern, vernünftig und abgewogen verhalten, auch der Verband der Opfer des Stalinismus nicht, der sich in den letzten Monaten bei seiner Kritik des Öfteren im Ton vergriffen hat.

Aber ist das nicht das gute Recht von Opfern? Sind wir als Politiker nicht dazu verpflichtet, für die Verletzlichkeit der Opfer Verständnis aufzubringen? Sind wir als Politiker nicht auch dazu verpflichtet, mit kühlem Kopf nach Lösungen zu suchen, die auf Dauer eine vernünftige Stiftungsarbeit im Interesse aller Opfer und der Gesellschaft gewährleisten?

Deshalb nochmals meine herzliche Bitte an die Fraktion DIE LINKE: Werden Sie bitte Ihrer Gesamtverantwortung als Landespolitiker gerecht und machen Sie den Weg frei für eine vernünftige Lösung mit unbelasteten Mitgliedern des Stiftungsrates.

Meine Damen und Herren! Um ein Signal auf diesem Weg zu setzen, haben wir als FDP-Fraktion am vergangenen Dienstag beschlossen, unsere Mitarbeit im Stiftungsrat auszusetzen. Wir haben auch die Fraktionen der CDU und der SPD sowie die Landesregierung aufgefordert, genauso zu verfahren und damit politisch deutlich zu machen, dass der Stiftungsrat in seiner derzeitigen personellen Zusammensetzung außerstande ist, die anliegenden Aufgaben zu bewältigen.

Nur der gemeinsame Rückzug aus dem Rat würde deutlich machen, dass an einer Neuwahl kein vernünftiger Weg vorbeiführt. Wir sind, was die Handlungsfähigkeit des Stiftungsrates betrifft, in gewissem Sinne in einem politischen Notstand, und dieser Notstand muss auch politisch behoben werden.

Meine Damen und Herren! Ein Gesetz braucht es dazu nicht. Im Gegenteil: Ein Gesetz wie das jetzt vorgelegte trägt unweigerlich den schlechten Geschmack eines Einzelfallgesetzes, das allein deshalb verabschiedet werden soll, um im Nachhinein ein einzelnes politisches Problem zu lösen, das mit einem einzelnen Stiftungsratsmitglied zusammenhängt. Ob dies noch rechtlich zulässig ist, sei dahingestellt. Wir können das zu diesem Zeitpunkt auch nicht beurteilen. Moralisch ist es sicherlich nicht der richtige Weg, den die CDU- und die SPDFraktion wählen wollen.

Ich kann deshalb an dieser Stelle nur nochmals eindringlich an die Fraktionen der CDU und der SPD und an die Landesregierung appellieren, zusammen mit der FDPFraktion über das Aussetzen der Arbeit im Stiftungsrat eine Neubesetzung zu erzwingen. Nicht der Gesetzgeber, wohl aber die Politik ist gefordert.

Eines muss allerdings an dieser Stelle nochmals klar ausgesprochen werden: Wir verdanken die missliche Situation der bisherigen Härte, um nicht zu sagen Sturheit der Fraktion DIE LINKE. Bisher hat DIE LINKE wenig Interesse daran gezeigt, einen Beitrag zur Lösung des Problems zu liefern, obwohl Gespräche - auch meinerseits - dazu geführt worden sind. Es macht bisher fast ein wenig den Eindruck, als lasse es DIE LINKE gezielt darauf ankommen, per Gesetz über die Ziellinie geschoben zu werden, um anschließend genug Munition zu haben, publikumswirksam über eine erpresserische Gesetzgebung zu klagen.

Sehr geehrter Herr Kollege Gallert, sollte dies ein Hintergedanke sein, dann wäre dies eine Verfahrensweise, die Ihrem eigenen Anspruch als demokratische Partei und Fraktion nicht gerecht wird. Denn Demokratie ist nicht nur eine Ansammlung von Verfahrensregeln mit Mehrheitsentscheidungen. Demokratie ist auch und gerade eine geistige Haltung, die auch in schwieriger Lage konstruktive Lösungen im Konsens möglich macht, wenn sie im allgemeinen Interesse liegen. Dies ist hier klar der Fall, da es um die Zukunft der Gedenkstättenstiftung geht.

Allerdings haben Ihre jüngsten Forderungen, Herr Gallert, nach einer Auflösung der Gedenkstättenstiftung Zweifel aufkommen lassen, ob DIE LINKE an dieser Zukunft überhaupt interessiert ist. Anscheinend will DIE LINKE die Gelegenheit nutzen, die Stiftung selbst zu zerschlagen, um organisatorisch jene größtmögliche Distanz zwischen den beiden Diktaturen auf deutschem Boden herzustellen, die ihr ideologisch zusagt: auf der einen Seite Faschismus und Nationalsozialismus, auf der anderen Seite Kommunismus und DDR-Sozialismus.

Meine Damen und Herren! Eine solche Trennung wäre fatal für die Kultur des Gedenkens an die Opfer der Diktaturen auf deutschem Boden.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Zustim- mung von Herrn Bischoff, SPD, und von Herrn Felke, SPD)

Sie würde unser Land spalten, und zwar sowohl in der mahnenden Erinnerung als auch in der historischen In

terpretation der Ereignisse. Gerade das wollen wir Liberale nicht. Ich hoffe, dass alle in diesem Hohen Hause diese Spaltung nicht wollen. Wir wollen doch in Deutschland zusammenwachsen und uns gemeinsam um unsere gemeinsame Geschichte kümmern, einschließlich ihrer dunklen Kapitel.

Deshalb muss die Gedenkstättenstiftung in diesem Land eine Zukunft haben, trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie derzeit zu kämpfen hat. Lassen Sie uns diese Schwierigkeiten gemeinsam lösen, und zwar ohne Gesetzesänderung.

(Beifall bei der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir als FDPFraktion werden für eine Überweisung des Gesetzentwurfs an den Innenausschuss zur näheren Prüfung stimmen. Wir werden aber weiterhin für eine politische Lösung des Notstands der Gedenkstättenstiftung arbeiten, also für eine Lösung, die ohne eine Gesetzesänderung auskommt. - Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP - Zustimmung von Herrn Zim- mer, CDU)

Vielen Dank, Herr Professor Paqué. - Für die SPD-Fraktion spricht nun Herr Bischoff.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich zu meinem Redebeitrag komme, will ich zumindest ganz kurz auf Sie, Herr Professor Paqué, eingehen, weil ich nachher einfach ungestört weitermachen will.

Nachdem wir den Gesetzentwurf vor wenigen Tagen eingebracht hatten, haben Sie zwei Tage später so reagiert. Ich finde das ein bisschen billig. Denn das, was Sie jetzt vorschlagen, jemanden zurückzuziehen, hätten wir vor einem halben Jahr auch machen können. Wir haben darüber längst hin und her überlegt.

Wir sind allerdings zu der Frage gelangt: Was haben wir davon? Welche Lösung haben wir erreicht, wenn alle drei Vertreter zurücktreten und eine Person bleibt? - Sie haben jetzt keine Lösung vorgeschlagen, sondern haben an alle appelliert, dass es politisch-moralisch eine Lösung geben müsse. Darüber würden wir uns auch freuen, aber wenn diese nicht möglich ist, muss es eine andere Lösung geben. Und an dieser Lösung haben Sie bis jetzt nicht mitgewirkt.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU - Zustim- mung von der Regierungsbank)

Deshalb finde ich es etwas unredlich, wenn Sie den Anschein erwecken, Sie würden eine Lösung parat haben oder mit Ihrem Schritt eine Lösung präferieren. Darüber, ob man diesen Weg gehen kann, haben wir längst nachgedacht. Das wissen Sie auch. Es ist kein gangbarer Weg.

(Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: Warum nicht?)

- Wenn eine Person sagt, dass sie es nicht tun will, kommen wir keinen Schritt weiter. Sie haben das noch nicht gesagt, ich komme nachher noch dazu. Wir sind mittlerweile aufgefordert worden, auch von den Opferverbänden, eine gesetzliche Regelung zu schaffen, wenn es nicht anders geht. Darauf haben Sie noch keine

Antwort gegeben. Ich versuche es nachher und stehe Ihnen, wenn Sie eine Frage stellen wollen, am Ende meiner Rede gern zur Verfügung.

Mit dieser Gesetzesänderung wollen wir den Weg frei machen, der Gedenkstättenstiftung eine vernünftige Weiterarbeit zu ermöglichen. Das ist der einzige Grund, warum wir gemeinsam mit dem Koalitionspartner mit dieser Gesetzesänderung die Mitglieder des Stiftungsrates abberufen wollen.

Ich glaube, es ist müßig zu beklagen - jedenfalls sehe ich das so -, dass der Landtag, also alle Abgeordneten, die Vertreterinnen und Vertreter der Fraktionen in den Stiftungsrat gewählt hat und nun wieder zurückzieht. Auf jeden Fall war uns damals nicht klar - das ist sicherlich ein Mangel -, dass unsere Entscheidung dazu führen würde, dass die Arbeit des Stiftungsrates blockiert und behindert würde.

Auch die Frage, ob einem Mitglied des Beirates, also dem Opferverband, ein Vetorecht eingeräumt wird - das mag juristisch interessant sein -, steht für uns nicht im Vordergrund. Derjenige, der in diesem Land unmenschliches Leid erfahren hat und für den es eine unüberwindliche Hürde ist, mit jemandem an einem Tisch zu sitzen, weil er in diesem einen Vertreter oder eine Vertreterin seiner einstigen Peiniger sieht, der darf eine solche Haltung haben. Wir sollten und dürfen uns nicht anmaßen, über dessen Gründe zu urteilen.

(Beifall bei der SPD, bei der CDU und von der Regierungsbank)

Allein den Umstand, dass die Opfer eine Grenze setzen, müssen wir respektieren.

Wir haben die E-Mails bekommen. Aus diesen Mails spricht nicht nur Verletzung, sondern manchmal auch Hass. Aus ihnen spricht auch, dass einige tatsächlich so gelitten haben, dass sie davon krank geworden sind. Trotzdem geht es uns um die Perspektive der Opfer.

Es geht nicht darum, wie wir oder wie ich Frau Tiedge heute beurteilen, sondern es geht um die Opfer. Es geht nicht darum, ob sie ein Recht haben, ob sie Einspruchsrechte haben oder ob nur sie die Geschichte richtig beurteilen können. Für uns hat einfach ihre Perspektive den Vorrang.

Hätten wir das vor einem Jahr voraussehen können oder müssen? Für unsere Fraktion kann ich sagen, dass wir das damals vielleicht nicht genügend thematisiert haben. Wir haben uns vielmehr damit auseinander gesetzt, wie das möglich ist - wer in den Protokollen nachgelesen hat, wird das wissen - und ob das zusammengehen kann, sozusagen beide Diktaturen unter einem Dach zusammenzuführen und zu schauen, wie das die Verbände sehen. Dazu gab es damals schon unterschiedliche Sichtweisen.

Wir haben die Personalien nicht thematisiert. Und wir werden auch heute in der Fraktion zur Person von Frau Tiedge sicherlich unterschiedliche Sichtweisen haben. Das wird sich auch in der Abstimmung widerspiegeln. Unbestritten ist, dass es keine grundsätzlichen Bedenken in Bezug auf die Arbeit von Frau Tiedge im Parlament gibt. Ich habe jedenfalls, solange ich im Parlament bin, noch keine gehört. Das betrifft auch die Einschätzung des Ausschusses zur Überprüfung auf Stasi-Mitarbeit, der nicht die Empfehlung abgegeben hat, dass sie ihr Mandat aufgeben müsste.

Aber, sehr geehrte Frau Tiedge, Sie hätten uns diese Prozedur heute ersparen sollen bzw. müssen. In einem so sensiblen Bereich wie der Aufarbeitung unserer jüngsten Vergangenheit wäre es meines Erachtens der richtige Schritt gewesen, die Stelle für eine Neubesetzung freizumachen.

(Zustimmung bei der SPD)

Es geht nicht darum, Ihre persönliche Entwicklung - schon gar nicht nach der Wende - oder Ihre Seriosität in Zweifel zu ziehen. Es geht auch nicht darum, der LINKEN - zumindest nicht in diesem Land - zu unterstellen, sie würde sich nicht mit ihrer Vergangenheit auseinander setzen. Ob dies ausreichend ist oder von allen so vertreten wird, wird sicherlich unterschiedlich beurteilt.

Es bleibt übrigens eine Aufgabe der gesamten Gesellschaft, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen und alles zu tun, damit solche undemokratischen und diktatorischen Systeme keine Chance mehr haben. Dazu gehören sicherlich die Vermittlung von Wissen um die DDR, ihre Strukturen und Machtinstrumente, ihre totalitären Handlungsweisen und ihre menschenfeindlichen Entscheidungen, aber auch die Vermittlung von Wissen um Opposition, um Zivilcourage, um die Opfer, aber auch um Anpassung und Nischenflucht sowie um das ehrliche Bemühen, innerhalb eines undemokratischen Systems Menschlichkeit und soziales Verhalten zu leben und zu vermitteln.

Welche Motive und welche Einstellungen jeden Einzelnen bewogen haben, sich so oder so zu verhalten, sich mehr oder weniger in das System einzubinden, bewusst oder aus Opportunität innerhalb der Partei und damit innerhalb der Blockparteien, der Nationalen Front und der Organisationen mitzumachen, das entzieht sich meines Erachtens einer objektiven Betrachtung. Das muss jeder Einzelne ein Stück weit mit sich selbst ausmachen.

Aber jeder Einzelne - damit meine ich auch Frau Tiedge - hat dafür zu sorgen, ein Klima zu schaffen, das eine Aufarbeitung ermöglicht, das ein Schuldeingeständnis und einen Neuanfang ermöglicht, das Biografien nicht entwertet bzw. abwertet und das ein differenziertes Miteinander-Umgehen ermöglicht.

(Zustimmung bei der SPD)