Ich glaube, dass Frau Dr. Hüskens in der Lage ist, das Thema ernst aufzugreifen und ernsthaft zu behandeln.
Wir haben in dieser Hinsicht gewiss zum Teil unterschiedliche Vorstellungen gegenüber den Liberalen. Aber eine ernsthafte Behandlung ist erfolgt. - Sie ist bei Ihnen, meine Damen und Herren, jedoch nicht erfolgt. Auch darin, wie man seine Aufgaben als Opposition wahrnehmen kann, unterscheidet man sich.
Zur Sache selbst. Meine Damen und Herren! Es ist ein bitterernstes Thema. Kindstötungen sind schreckliche Ereignisse, aber sie sind - statistisch gesehen - zum Glück seltene Ereignisse. Das macht die Schwierigkeit in der wissenschaftlichen Behandlung aus.
Ich habe mir einmal die polizeiliche Kriminalstatistik angeschaut. Diese agglomeriert nur die Zahlen der Fälle der Tötungen von Kindern im Alter von null bis sechs Jahren. Eine genauere Fallgruppendifferenzierung wurde darin nicht vorgenommen. In solchen Fällen kann der Interpret schnell in Versuchung geraten, Statistiken so oder so zu interpretieren und daraus etwas abzulesen, was sie im Einzelfall vielleicht gar nicht aufzeigen.
Ich als jemand mit einer mathematischen Ausbildung kann es mir schon anmaßen, von mir zu behaupten, ein wenig über Statistiken urteilen zu können. Ich bin mir bisher nicht im Klaren darüber, ob sich aus den Fallzahlen, die in der erwähnten polizeilichen Kriminalstatistik veröffentlicht worden sind, tatsächlich signifikante Unterschiede ableiten lassen oder nicht.
Es sind sehr niedrige Zahlen, meine Damen und Herren. Ich denke, es ist deshalb falsch, daraus statistische Zusammenhänge ableiten zu wollen. Ich selbst würde es mir überhaupt nicht anmaßen, vielleicht noch andere weltanschauliche und ethische Agglomerationen in Deutschland zu erheben und sie in Korrelation zu diesen Fallzahlen zu setzen; das geht nicht. Wer das macht, meine Damen und Herren, der begibt sich ins Abseits und der wird unwissenschaftlich.
(Unruhe bei der LINKEN - Frau Bull, DIE LINKE: Wer war denn das? Wer hat denn damit ange- fangen? - Herr Gallert, DIE LINKE: Eigentlich ha- be ich damit angefangen!)
Meine Damen und Herren! Das heißt aber nicht, dass man die aufgeworfenen Fragen nicht stellen darf; das, meine Damen und Herren, heißt es am Ende dann nicht.
Das heißt auch nicht zu ignorieren, dass wir in Deutschland sehr unterschiedliche soziokulturelle Hintergründe haben, oder unberücksichtigt zu lassen, dass wir in den neuen Ländern und in den alten Ländern über 40 Jahre hinweg eine sehr unterschiedliche Geschichte erlebt haben und dass dadurch Prägungen entstanden sind, über die man nachdenken muss.
Aber, meine Damen und Herren, man wird wahrscheinlich bei Hypothesen stehen bleiben müssen. Ich habe auch in den verkürzt wiedergegebenen Interviews mit dem Herrn Ministerpräsidenten an keiner Stelle gelesen, dass er über die Form der Hypothese hinausgegangen ist.
Das, meine Damen und Herren, haben Sie ignoriert. Das ist eine unzulässige Vergröberung und das erschwert das Finden einer gemeinsamen Gesprächsgrundlage.
Lassen Sie mich einige Rechtsauffassungen, die in diesem Zusammenhang erörtert werden müssen, im Zusammenhang darstellen.
Die kriminologische Forschung bezüglich der Tötungsdelikte an Kindern deutet darauf hin, dass die betreffenden Mütter in einem außergewöhnlichen Erregungszustand handeln. Dies ist bis zum Jahr 1998 als eigenständiger Straftatbestand der Kindstötung gemäß § 217 des Strafgesetzbuches behandelt worden. Seit dem Jahr 1998 sind diese Tötungsdelikte unter dem Straftatbestand des minderschweren Falles des Totschlages nach den §§ 212 und 213 des Strafgesetzbuches zu finden.
Es ist aber ganz klar: Es sind Ausnahmesituationen, die hier rechtlich behandelt worden sind, die ganz eindeutig vom Straftatbestand des Mordes rechtlich abgegrenzt werden. Ich denke, der Gesetzgeber hat schon ein sehr genaues Gespür dafür entwickelt, dass diese besonderen Tatbestände auch einer besonderen Behandlung bedürfen, meine Damen und Herren.
Nun stellt sich die schwierige Frage - diese möchte ich im Parlament schon einmal stellen -: Ist es möglich, dieses Handeln in die allgemeine ethische Diskussion um den Wert menschlichen Lebens einzubetten, oder führt dieser Versuch in die Irre? - Ich denke, meine Damen und Herren, man sollte sich in einer ruhigen Stunde diese Frage ruhig einmal stellen und sie an sich herankommen lassen. Wer diese Frage nicht an sich herankommen lässt, der sollte sich fragen, warum er dies tut, meine Damen und Herren.
Ich denke aber, wir sollten bei diesem schwierigen Thema die eigene Unsicherheit ruhig zugeben und dazu stehen, dass wir mit vorläufigen Antworten leben müssen und viele dieser vorläufigen Antworten sehr unbefriedigend sind.
Ich möchte an dieser Stelle einige wenige Fragen aufzeigen, die meiner Auffassung nach dazugehören, ohne dass ich Ursache-Wirkung-Beziehungen darstelle. Ich möchte nur das thematische Umfeld klar machen.
Die Frage, wann das menschliche Leben beginnt, ist unter uns höchst strittig. Unter welchen Bedingungen darf der Mensch über beginnendes Leben verfügen? - Die Unverfügbarkeit des menschlichen Lebens gilt so nicht mehr. Unter welchen Bedingungen, meine Damen und Herren, darf der Mensch sich entwickelndes Leben auslöschen? Unter welchen Bedingungen ist menschliches Leben zu erhalten, das noch vor einigen Jahren mangels medizinischer Möglichkeiten keine Lebenschance gehabt hätte?
Ich denke in diesem Zusammenhang daran, dass sich der Bundestag mit einer Gesetzgebung zur Spätabtreibung quält. Er kommt dabei nicht voran. Dies nicht etwa, weil die Menschen, die darin sitzen, dumm sind, sondern weil es sich um ein Thema handelt, das die Menschen
innerlich zerreißt und bezüglich dessen die medizinischen Erkenntnisse zum Teil noch nicht auf einem solchen Niveau sind, wie es für eine sichere Entscheidung erforderlich wäre.
Wenn das Kind geboren ist, meine Damen und Herren, welche Kindesschutzbestimmungen brauchen wir, sodass Kindesgefährdungen rechtzeitig erkannt werden und, falls notwendig, rechtzeitig eingegriffen werden kann? Gibt es in unserer Gesellschaft einen hinreichenden Konsens über den Schutz des ungeborenen Lebens? Gibt es in unserer Gesellschaft einen hinreichenden Konsens über die Notwendigkeit einer kinderfreundlichen Gesellschaft? - Ich meine: Beides ist nur zum Teil zu bejahen. Das ist die Wirklichkeit.
Wir werden im Landtag übrigens in Kürze die Möglichkeit haben, uns mit einem Gesetz zur Weiterentwicklung und Verbesserung des Schutzes von Kindern zu profilieren und diesbezüglich das uns als Landesgesetzgeber Mögliche zu tun. Ich denke, so unerfreulich einige Aspekte der Debatte in den letzten Tagen gewesen sind, eines passiert jetzt vielleicht doch: Wir werden ein ordentliches Kinderschutzgesetz bekommen, weil das Thema hier sensibilisiert worden ist. Wir alle sind aufgerufen, an dieser Gesetzesberatung so engagiert wie möglich mitzuarbeiten, damit sich das Gesetz hinterher sehen und messen lassen kann.
Meine Damen und Herren! Ich möchte an dieser Stelle noch einige Sätze zum DDR-Abtreibungsrecht sagen.
Die Volkskammer der ehemaligen DDR hat am 9. März 1972 aufgrund eines Beschlusses des Politbüros des ZK der SED per Beschluss des Ministerrates mit 14 Gegenstimmen bei acht Stimmenthaltungen das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft verabschiedet. Darüber hat es meiner Erinnerung nach damals heftige öffentliche Diskussionen gegeben, obgleich diese vielleicht nicht die Breite der Öffentlichkeit erreicht haben. Aber in den Zirkeln, in denen ich damals als Student - ich will einmal sagen - groß geworden bin, haben wir schon heftig darüber diskutiert.
Ich habe mir in Vorbereitung meiner Rede einmal die Rede des damaligen Ministers für Gesundheitswesen Professor Mecklinger zu dem Gesetzentwurf durchgelesen. In der Begründung heißt es schon, dass mit dem Gesetz dem biologischen Zufall einer Schwangerschaft entgegengewirkt werden solle. Das führte der Minister für Gesundheitswesen der ehemaligen DDR damals aus.
Ich kann mich gut daran erinnern, dass weder zu DDRZeiten noch jetzt die Diskussion darüber, wann bzw. ob eventuell erst ab einem bestimmten Monat vollwertiges und deshalb zu schützendes Leben vorliegt, verstummt ist, meine Damen und Herren. Auch im geeinten Deutschland hatten wir dazu bis zum Jahr 1992 ein gespaltenes Recht.
Erst mit dem Schwangeren- und Familienhilfegesetz für die gesamte Bundesrepublik, zu dem es zwischenzeitlich zwei Gesetzesfassungen gegeben hat, trat am 1. Januar 1996 das heutige Abtreibungsrecht, das in ganz Deutschland gilt, in Kraft. Meiner Auffassung nach hat sich der Bundestag die Entscheidung darüber nicht leicht gemacht. Ich gehe davon aus, dass heute wahrscheinlich keine andere Entscheidung im Bundestag getroffen werden würde, weil andere meinungsbildende Mehrheiten in Deutschland im Moment nicht möglich sind.
Ich will auch sagen, dass ich die gegenwärtige Rechtslage durchaus für akzeptabel halte - zumal ich selbst auch keine bessere Regelung wüsste, meine Damen und Herren. Deshalb aber zu sagen, die Sache sei ethisch und rechtlich eigentlich schon zu Ende diskutiert, würde ich mir nicht anmaßen. Wir haben hierbei in einer ganz schwer zu lösenden Frage eine rechtliche Einigung gefunden und müssen uns, denke ich, der Problematik dieser rechtlichen Einigung auch bewusst sein.
Es ist jedoch - das steht für mich unzweifelhaft fest - in den letzten Jahren zu einer deutlichen Verschiebung im ethischen Koordinatensystem gekommen.
1972 war gewiss eine Zäsur in der DDR. Die alten Bundesländer haben wenige Jahre später eine ähnliche Diskussion nachgeholt. Letztlich haben wir uns in einem vereinten Deutschland zu einer einheitlichen rechtlichen Auffassung durchgerungen, aber die unterschiedlichen ethischen Auffassungen stehen schon noch dahinter.
Wir sollten an uns auch die Frage herankommen lassen, die ich nicht abschließend beantworte, ob diese ethische Verschiebung des Koordinatensystems tatsächlich Rückwirkungen auf das individuelle Verhalten der Einwohner eines Staates hat. - Ich denke einmal, das Recht folgt, wenn auch in großen Abständen, in gewissem Maße gesellschaftlichen Meinungsbildungsprozessen; das hängt schon miteinander zusammen.
Wenn diese Fragen, die ich nur angerissen habe, so ungemein schwierig zu behandeln sind, dann, meine Damen und Herren, hilft das Unterstellen schlechter Motive in dieser Debatte überhaupt nicht weiter.
Wenn diese am schwersten zu beantwortenden Fragen in der Gesellschaft mit der entsprechenden Ernsthaftigkeit diskutiert werden, was wir hoffen, dann haben wir im Parlament eine gewisse Vorbildwirkung. Wir können die Debatte hier vernünftig führen und können damit erreichen, dass die Debatte auch draußen vernünftig und ordentlich geführt wird.
Wir können es aber auch vergeigen. Wenn wir die Debatte hier vergeigen, wenn wir uns und unsere Motive nicht ernst nehmen und mit anderen Fragen in Zusammenhang bringen und dann vielleicht auch noch Machtfragen daran koppeln, nämlich dass der eine oder andere zurücktreten soll, dann, meine Damen und Herren, müssen wir uns nicht wundern, wenn die ethische Debatte in der Öffentlichkeit nicht mit der notwendigen Ernsthaftigkeit geführt werden wird und letztlich nicht vorankommt.
Ich hoffe, dass die Debatte wenigstens zu einem geführt hat, nämlich dazu, dass dieses Thema jetzt und in Zukunft in diesem Parlament und hier in Sachsen-Anhalt ordentlich und vernünftig diskutiert wird und wir in Kürze in Sachsen-Anhalt zu einem ordentlichen Gesetz kommen. - Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Scharf. Es gibt eine Nachfrage des Abgeordneten Herrn Tögel. Möchten Sie sie beantworten?