Protokoll der Sitzung vom 17.04.2008

(Unruhe bei der SPD)

Ich frage das vor dem Hintergrund, dass eines der wichtigsten Ziele der Hartz-IV-Reform war, Menschen für den Niedriglohnsektor bereit zu machen. Gemessen an diesem Ziel ist die Hartz-IV-Reform in der Tat erfolgreich.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Ich gehöre mit Sicherheit nicht zu den glühenden Verfechterinnen der Hartz-IV-Reform. Das habe ich hier oft genug gesagt. Aber das, was Sie gesagt haben, ist Quatsch. Der Inhalt der Hartz-IV-Reform war die Zusammenlegung der verschiedenen Systeme,

(Frau Dirlich, DIE LINKE: Nein!)

die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe in zwei Systeme, sodass es nur noch Arbeitslosengeld I und Arbeitslosengeld II gibt.

(Frau Bull, DIE LINKE: Sie hat nichts über die Höhe gesagt!)

Ob das gut gelungen ist, ist eine andere Debatte. Darin haben wir möglicherweise sehr viele Übereinstimmungen. Zu welchen Folgen das führt, halte ich für sehr kritisch. Trotzdem war der Grundansatz, diese Systeme neu zu strukturieren, richtig. Das war der Hintergrund für die Hartz-IV-Agenda.

Der Ursprung dafür, dass wir so viele Menschen in diesem System haben, ist in dem massiven industriellen Strukturwandel zu sehen und darin, dass wir es nicht geschafft haben, hier eine solide wirtschaftliche Basis aufzubauen. Das ist die eigentliche Ursache dafür, dass so viele in diesem System sind.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Budde. - Bevor ich Minister Herrn Dr. Haseloff das Wort erteile, begrüße ich Schülerinnen und Schüler der Diesterweg-Sekundarschule Burg auf der Südtribüne. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Herr Minister, Sie haben jetzt das Wort. Bitte.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Eine Vorbemerkung. Ich stehe nicht für die ungezügelte freie

Marktwirtschaft, sondern für die soziale Marktwirtschaft, um das gleich abzuräumen. Ich bin für die Koalitionsfreiheit, Vertragsfreiheit, Tarifautonomie, für innovative Gewerkschaften, aber auch Arbeitgeberverbände usw. usf., also für all das, was unsere Gesellschaft groß gemacht hat und weiterhin stark machen wird. Somit habe ich diese Dinge klargestellt.

Es ist durchaus normal und gut, dass innerhalb einer Koalition zu einem so wichtigen Thema, wo bisher nicht jedes Problem in der Gesellschaft gelöst werden konnte, innovativ miteinander diskutiert wird. Dass das Forum des Landtages dafür genutzt wird, sollte nicht dazu anregen, den Eindruck zu bekommen, wir arbeiteten gegeneinander; vielmehr ist es so, dass wir hier um gemeinsame Lösungen ringen.

Wir haben aber ein Urteil. Dieses Urteil wirft erst einmal zwei Fragestellungen auf, nämlich erstens wie wir als Landesregierung mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zum niedersächsischen Vergabegesetz umgehen und ob zweitens Mindestlöhne eine adäquate Antwort auf dieses Urteil sein können.

Der Fall, über den der Europäische Gerichtshof zu entscheiden hatte, lässt sich verkürzt folgendermaßen darstellen: Ein deutsches Bauunternehmen - das ist schon angedeutet worden - hatte vom Land Niedersachsen den Auftrag für Rohbauarbeiten beim Bau einer Justizvollzugsanstalt erhalten, nachdem es eine Tariftreueerklärung gemäß Landesvergabegesetz abgegeben hatte. Damit verpflichtete sich das Unternehmen, an seine Arbeitnehmer mindestens das am Ausführungsort tariflich festgelegte Arbeitsentgelt zu bezahlen.

Ein im Auftrag dieses Unternehmens tätiges Nachunternehmen aus Polen zahlte jedoch nicht den örtlichen Tariflohn. Daraufhin kam es zur Kündigung des Werkvertrages und zu einer vom Landgericht Hannover verhängten Vertragsstrafe. Das Oberlandesgericht in Celle hatte jedoch Bedenken dahin gehend, dass die Tariftreueverpflichtung eine nicht berechtigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach EG-Vertrag darstelle. Der Europäische Gerichtshof wurde daher um eine Vorabentscheidung gebeten. Der Europäische Gerichtshof wiederum bestätigte diese Bedenken und sieht hierin einen Verstoß gegen die Dienstleistungsfreiheit nach Artikel 49 des EG-Vertrages. - So viel zum Hintergrund des diskutierten Urteils.

Was bedeutet dies jedoch für Sachsen-Anhalt und welche Konsequenzen müssen wir daraus ziehen? Das ist die eigentliche Frage des Antrages.

Hierzu ist vorrangig festzustellen, dass es hierzulande eine derartige Tariftreueverpflichtung seit der Aufhebung des Vergabegesetzes Sachsen-Anhalt im Jahr 2002 nicht mehr gibt. Dieses erst im Juni 2001 eingeführte Gesetz wurde durch das Erste Investitionserleichterungsgesetz aus den folgenden Gründen aufgehoben:

So gab es schon damals Bedenken, ob das Vergabegesetz mit der darin enthaltenen Tariftreueverpflichtung europarechtlich tragbar war und inwieweit es möglicherweise gegen das Grundgesetz - möglicher Verstoß gegen die negative Koalitionsfreiheit nach Artikel 9 des Grundgesetzes - verstoße.

Ein weiterer Grund für die Gesetzesänderung war der unverhältnismäßig hohe Verwaltungsaufwand, den die gesetzlichen Vorschriften mit sich brachten. Dieser war vor allem für die mittelständischen Unternehmen des

Bauhaupt- und Baunebengewerbes, aber auch für andere Branchen und nicht zuletzt für die öffentliche Verwaltung eine enorme Belastung. Die zusätzlichen Prüfaufgaben für die diversen Vergabestellen führten zu großen Zeitverzögerungen bei den Ausschreibungsverfahren. Oft mussten auch Ausschreibungen wieder aufgehoben werden, weil die Bieter nicht alle Unterlagen, zum Beispiel die von Subunternehmen beizubringenden Papiere, vorlegen konnten.

Des Weiteren konnte das Vergabegesetz Sachsen-Anhalt sein Hauptanliegen, nämlich Dumpinglöhne auf Baustellen öffentlicher Auftraggeber zu verhindern, nicht erfüllen, da eine konsequente Überprüfung der Einhaltung der Tariftreue nicht gewährleistet werden konnte. Die Vergabestellen waren aufgrund knapper Personalressourcen und wegen der Vielzahl von Tarifverträgen - damals noch 168 - einfach nicht in der Lage, die eingeforderte Tariftreue zu überprüfen.

Als ob dies nicht genug wäre, bestätigte dies eine damals vom Wirtschaftsministerium in Auftrag gegebene Studie des ISW, die zur Wirkung des Vergabegesetzes Folgendes ausgesagt hat:

Sowohl für kleinere und mittlere Betriebe als auch für kleinere Kommunen hatte es schwerwiegende Auswirkungen. Die Beurteilung der Auskömmlichkeit der Angebote und der Tariftreue sei demnach nicht gegeben gewesen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass das damalige Vergabegesetz nicht geeignet war, die Grundprobleme des Baugewerbes zu lösen.

Eine Evaluation des MW zu den Auswirkungen der Aufhebung dieses Gesetzes aus dem Jahr 2005 zeigte bereits, dass öffentliche Aufträge zum einen wieder deutlich schneller abgewickelt werden konnten. Auch gab es danach keine Vergabeverfahren mehr, die aufgrund fehlender Bieter aufgehoben oder eingestellt werden mussten. Zum anderen hat sich der Verwaltungsaufwand danach deutlich reduziert und die Spaltung des Marktes in einen öffentlichen und einen privaten Markt wurde aufgehoben.

Darüber hinaus hat die danach deutlich bessere Rechtslage zu einem Rückgang der Vergabebeschwerden sowie der damit verbundenen Zeitverzögerungen geführt. Dies hatte zur Folge, dass die Clearingstelle kurz nach Inkrafttreten des Ersten Investitionserleichterungsgesetzes aufgelöst werden konnte.

Zwei Monate nachdem das Land Sachsen-Anhalt sein Vergabegesetz aus den beschriebenen Gründen aufgehoben hatte, wurde ein ähnliches Gesetz im SPD-regierten Niedersachsen verabschiedet. Ich kann dazu nur feststellen, dass dieses Gesetz nicht nur osteuropäischen Unternehmen den Markteintritt erschwert hat, sondern auch den ostdeutschen Betrieben, die nicht an den niedersächsischen Bautarif gebunden waren. - So viel zum Vergabegesetz und zur Tariftreueverpflichtung.

(Beifall bei der CDU)

Ich möchte jetzt die Diskussion dahin gehend aufzugreifen versuchen, dass ich nicht weitere Ausfaltungen und teilweise auch virtuelle Vergleiche dazu anstelle: Was wäre, wenn wir in den letzten Jahren versucht hätten, etwas Ähnliches modifiziert an den Markt zu stellen, bzw. was müssten wir in der Folge und in der Konsequenz nach dieser Rechtsprechung in Sachsen-Anhalt veranlassen?

Ich denke, wir sollten diese Diskussion in aller Sachlichkeit auch in den Fachgremien führen. Das ist opportun, weil es nach wie vor keine vernünftige Lösung dafür gibt, wie wir mit dem Niedriglohnbereich und wie wir mit einer opportunen Belastung des Steuerzahlers umgehen, der gegebenenfalls Aufstockbeträge zahlen muss, um erst einmal an das Hartz-IV-Niveau heranzuführen.

Dazu vielleicht eine kleine Ergänzung: Die Hartz-IV-Gesetze hatten sicherlich das Ziel, die steuerfinanzierten Systeme zusammenzuführen und Langzeitarbeitslose unter einem Dach zu betreuen. Das war aber auch verknüpft mit der Festlegung, dass die Zumutbarkeitsregelung, wie sie bis dahin existierte, aufgehoben wurde und formal, weil die Grundsicherungslinie eingezogen war, jede Arbeit erst einmal zumutbar wurde.

(Zuruf von der LINKEN: Na eben!)

Es gibt eine Verbindung mit dem Instrument der §§ 29 und 30 SGB II. Darin steht eindeutig, dass man in solchen Fällen über die Möglichkeit des Einstiegsgeldes einen Kombilohn entwickelt, damit derjenige, der arbeitet, wirklich über die Hartz-IV-Schwelle kommt und arbeiten sich damit wirklich lohnt.

Leider ist in den letzten Jahren dieser Kombilohnansatz aus Hartz IV, ein innovativer Ansatz, nicht fortentwickelt worden - erstens in Richtung einer Unbefristetheit der Gewährung solcher Zuschüsse. Es ist nach wie vor befristet und damit nur eine Einstiegsmöglichkeit, verbunden mit der Hoffnung, dass sich der Status von Arbeitsverhältnissen nach zwei Jahren deutlich verbessert und dann ein normales Arbeitsverhältnis daraus wird. Zweitens ist es auch nicht qualifiziert worden in Richtung einer echten Kombilohnvariante, die man regional bzw. tarifunabhängig überall anwenden kann.

Hierbei ist in der Bundesrepublik einfach mitten auf dem Weg ein Stoppschild aufgestellt worden. Wir sollten diese Diskussion produktiv aufnehmen, weil wir, um den Niedriglohnbereich auszuweiten, um damit auch niedrig qualifizierten Menschen eine Chance im ersten Arbeitsmarkt zu geben, weitere innovative Angebote benötigen, an denen sich der Staat gegebenenfalls dauerhaft beteiligt. Dabei bin ich übrigens gar nicht sehr weit weg von der FDP. Herr Paqué hat regelmäßig immer wieder gefordert, darüber nachzudenken, das amerikanische System der Negativsteuer nach Deutschland zu transportieren. Letztlich kommt das gleiche Ergebnis heraus: Menschen nehmen Arbeit an, so wie es ihr persönlicher Qualifikationsstatus zulässt, ein Aufstockbetrag wird gezahlt - entweder über die Steuer oder über einen unmittelbaren Zuschuss - und Arbeit lohnt sich, man kommt oberhalb der Hartz-IV-Schwelle an.

Das, denke ich, ist ein Thema, das wir uns gemeinsam vornehmen sollten. Deswegen würde ich dieses Urteil des Europäischen Gerichtshofes für mich persönlich nutzen, um in dieser Richtung weiter zu diskutieren. Das Thema eines gesetzlichen Mindestlohns würde ich damit nicht automatisch verbinden wollen. Ich gebe aber zu, dass an dieser Stelle ein Aufruf in Richtung der Tarifpartner notwendig wäre, sich noch besser zu formieren, damit man über die legitimen Instrumente des Arbeitnehmerentsendegesetzes, der Allgemeinverbindlichkeit usw. usf. in bestimmten Bereichen doch zu dringend erforderlichen Mindestlöhnen kommt, weil es da unsittliche Grauzonen gibt, die wir in unserer Gesellschaft nicht dulden sollten. Dann hätten wir einen gemeinsamen Arbeitsauftrag und sollten in den nächsten Monaten und

Jahren gemeinsam produktiv weiter diskutieren. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Vielen Dank, Herr Minister. - Wir kommen jetzt zu den Debattenbeiträgen. Als erster Debattenredner spricht Herr Abgeordneter Henke von der LINKEN. Bitte schön, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Dieser Antrag, sehr geehrte Frau Budde, löste Nachdenklichkeit in unserer Fraktion aus,

(Frau Budde, SPD: Immerhin! - Herr Miesterfeldt, SPD: Was? Ist ja unfassbar!)

zum einen wegen der Form der Debatte - also: wir reden mal darüber und brauchen dann nichts zu beschließen - und zum anderen auch wegen der Begründung, die von Auswirkungen auf Vergabegesetze und Mindestlöhne spricht. Auf das Thema Vergabegesetz werde ich noch eingehen. Zunächst noch einmal zum Thema Mindestlohn.

Noch einmal für alle: Die Fraktion DIE LINKE hat sich in diesem Landtag mehrfach vehement für verbindliche Entscheidungen zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes ausgesprochen.

(Beifall bei der LINKEN)

Meine Fraktionskollegin Edeltraud Rogée hat auch von dieser Stelle aus die Begründungen dafür umfassend und erschöpfend vorgetragen. Zu einer Mehrheit zur Beschlussfassung pro gesetzlichen Mindestlohn gelangte dieses Haus nie.

(Frau Dr. Hüskens, FDP: Gott sei Dank!)

Sehr geehrte Damen und Herren! Nach dem abschließenden Urteil des EuGH können die öffentlichen Auftraggeber die Einhaltung allgemeinverbindlicher oder gesetzlicher Mindestlöhne verlangen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Der EuGH bekräftigte sogar ausdrücklich die Anwendung eines Mindestlohnstandards. Auf dieser Ebene - das ist zu betonen - widerspricht er auch nicht der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2006, das unter anderem feststellte, dass bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Gemeinwohlziele überragende Bedeutung haben.

Für welchen Mindestlohnstandard spricht sich nun die gesamte SPD aus, liebe Frau Budde? Für einen gesetzlichen Mindestlohn, der branchenübergreifend ein Arbeitseinkommen sichert und somit ein Leben in Würde ohne staatliche Bedürftigkeitszuschüsse garantiert?