Protokoll der Sitzung vom 30.05.2008

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße Sie recht herzlich und eröffne die 40. Sitzung des Landtages der fünften Wahlperiode. Dazu begrüße ich alle anwesenden Damen und Herren. Herzlich willkommen!

Ich kann die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses feststellen.

Meine Damen und Herren! Wie bereits gestern bekannt gegeben, sind heute Minister Dr. Daehre und Staatsminister Rainer Robra ganztägig nicht anwesend. Minister Professor Dr. Olbertz wird unser Haus in der Zeit von 10 Uhr bis 11 Uhr verlassen. Er ist damit entschuldigt.

Wir setzen nunmehr die 21. Sitzungsperiode fort.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:

Aktuelle Debatte

Armutsberichte für Deutschland und Sachsen-Anhalt - deutliche Signale an Politik und Gesellschaft

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/1276

Für die Aktuelle Debatte ist im Ältestenrat eine Redezeit von zehn Minuten vereinbart worden. Die Reihenfolge wird folgende sein: DIE LINKE, SPD, FDP, CDU. Zunächst darf ich für den Antragsteller dem Abgeordneten Herrn Gallert das Wort erteilen. Bitte schön, Herr Gallert, Sie haben das Wort. Anschließend wird der Ministerpräsident das Wort nehmen.

Werte Abgeordnete! Herr Präsident! Wir haben in den letzten Wochen eine Menge an Materialien zur Verfügung gestellt bekommen, die sich mit dem Thema Armut und Reichtum in der Bundesrepublik Deutschland auseinandersetzen. Wir hatten zuerst den Bericht der Landesregierung zu diesem Thema, der eigentlich zwei Berichte ausmacht, nämlich den der Landesregierung und den des Verbandes der freien Wohlfahrtsverbände. Wir haben den Armuts- und Reichtumsbericht, inzwischen den dritten, der Bundesregierung bekommen. Wir haben in dieser Woche eine entsprechende Studie zur Frage der Situation der Kinder durch Unicef erhalten. Wir haben vor einigen Wochen unter anderem den Sozialreport der Volkssolidarität für Sachsen-Anhalt 2007 vorgestellt bekommen.

Wir haben eine Menge wichtiger Materialien, die uns zu der zentralen Frage der sozialen Verteilung, der sozialen Polarisation innerhalb unserer Gesellschaft eine Menge aufschlussreicher Daten geben und uns eine Menge wissenschaftlich belegter Aussagen auf den Tisch legen.

Insofern war es für uns nicht verwunderlich, als der Ministerpräsident darauf Bezug nehmend sagte, dass diese Berichte ein Signal an die Politik sind und insofern für uns wichtig wären. Wir haben dann darauf gewartet, dass es deswegen eine Regierungserklärung gibt. Zu unserer Verwirrung ist sie nicht gekommen. Aber weil wir eine konstruktive Opposition sind, haben wir gesagt: In Ordnung, wir machen eine Aktuelle Debatte, dann kann die Regierung zu diesen Dingen Stellung nehmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Man muss zu diesen Berichten, zumindest was die Armutsdebatte anbelangt, doch noch einmal auf Datengrundlagen und Bewertungen Bezug nehmen. Und siehe da, sie sind offensichtlich unwahrscheinlich kompliziert und widersprüchlich. Wir wissen, dass der von Herrn Scholz vorgestellte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung in Deutschland von 12 % der Kinder in Armut sprach. Eine Woche später stellt Frau von der Leyen einen Bericht vor, in dem es auf einmal 18 % sind.

Wir haben es bei diesen Analysen eigenartigerweise damit zu tun, dass es ein Wirrwarr von verschiedenen Erhebungsgrundlagen gibt und deswegen auch ein Wirrwarr von verschiedenen Ergebnissen.

Wer ein bisschen länger in der Politik ist, weiß meist, warum das gemacht wird, nämlich um Vergleichbarkeit zu verhindern und um bestimmte Entwicklungstrends nicht deutlich werden zu lassen. Es ist fast unvorstellbar, dass zum Beispiel bei solchen Geschichten wie der Erhebung des Bruttoinlandsproduktes solche Probleme auftauchen. Diesbezüglich wissen wir schon im folgenden Quartal, was vor drei Monaten passiert ist. Der Bericht der Landesregierung verweist dagegen auf Zahlen aus dem Jahr 2004. Dazu sage ich: ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Aber trotz alledem können wir darauf Bezug nehmen. Eine Aussage treffen all diese Berichte in gleicher Art und Weise, nämlich: Die Polarisierung der Gesellschaft nimmt zu. Die Ungleichverteilung der sozialen Situation ist gewachsen.

Das liest sich dann bei Herrn Scholz so:

„Die Ungleichverteilung der Einkommen nahm seit 2002 zu. Während der Anteil höherer Einkommen wuchs, sanken die Anteile der niedrigen Einkommensgruppen.“

Diese Aussage wird noch durch Zahlen ergänzt, die auf das Wachstum der Gruppe, die nach Europaratsdefinition arm ist, hinweisen. Gleiches trifft auch für die Gruppe zu, die als reich bezeichnet wird.

Diese Entwicklung, liebe Kolleginnen und Kollegen, beobachten wir seit Langem. Derjenige, der wach durch unser Land geht, hätte eine solche Bestätigung in diesen Berichten nicht gebraucht; denn er sieht es tagtäglich. Er sieht es an dem Bedarf an mit Lebensmitteln versorgenden Tafeln und Initiativen. Er sieht es an den Schlangen, die davor stehen. Er hört es in den Berichten, wenn er in Schulen oder Kindergärten auftaucht. Und man sieht es auf der Straße. All das dürfte inzwischen unstreitig sein.

Wir sehen, wie die Gesellschaft auseinanderdriftet. Wie sehen übrigens auch, wie sie regional in Regionen auseinanderdriftet. Wir sehen, wie diese Situation auf der einen Seite Ängste, Unsicherheiten und soziale Desintegration erzeugt und auf der anderen Seite Skrupellosigkeit und Zynismus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir sehen, all diese Entwicklungen sind auch das Ergebnis bewussten politischen Handels und keine Naturkatastrophe. Auch das muss an einem solchen Tag einmal gesagt werden.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Ich will mich diesbezüglich auf eine Situation bzw. eine Themenstellung konzentrieren, nämlich auf die Auswei-

tung des Niedriglohnsektors und die Auflösung bzw. Abschaffung von sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen, die wirklich existenzsichernd sind. Schauen wir uns einmal an, was in den letzten Jahren passiert ist: Die Ausweitung des Mini- und Midijobbereiches zuungunsten der Versicherungssysteme, die Ausweitung von Leiharbeit - übrigens jedes Mal mit gesetzlicher Unterstützung; das muss man mit aller Deutlichkeit sagen.

Wir haben die absolute Absenkung von Sozialtransfers im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, die Umstellung auf Hartz IV, also die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hin zu Sozialhilfeniveau. Wir haben die strukturelle Schwächung von Gewerkschaften. Wir haben die tendenzielle Auflösung von Arbeitgeberverbänden. Wir haben eine Situation, die überall eine entsprechende gesetzliche Begleitung erhalten hat. All diese Dinge sind nicht vom Himmel gefallen, sondern sie waren das Ergebnis politischen Handels.

Wenn wir uns heute hinstellen und uns darüber wundern, dass dadurch Armut erzeugt wurde, dann ist das entweder Sarkasmus oder der Beginn von tätiger Reue. An diesem Punkt befinden wir uns heute. Welchen Weg nimmt diese Gesellschaft? Sind wir in der Lage, diese Entwicklung zu korrigieren oder akzeptieren wir sie als gottgegeben? Sind wir in der Lage, die Dinge wieder umzukehren? - Diese politische Entscheidung, meine Damen und Herren, fällt auch in diesem Haus durch uns.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Herr Scholz schreibt weiter: Wir haben in den Jahren 2002 bis 2005 bei den Bruttolöhnen und -gehältern einen Rückgang um fast 5 %. - Wen wundert es da, dass nicht nur das Einkommen der Arbeitnehmer gesunken ist? Wen wundert es da, dass wir krisenhafte Situationen in sozialen Sicherungssystemen wie Renten und Gesundheit haben, die genau auf diesen Dingen aufbauen? - Das ist das Ergebnis dieser Entwicklung und das ist die Entwicklung, die es umzukehren gilt.

Wenn ich vorhin gesagt habe, es gibt den Scheideweg zwischen einem sarkastischen Akzeptieren dieser Entwicklung und tätiger Reue, dann gibt es für beide Dinge ein Zeichen. Ich will ausdrücklich noch einmal auf ein Papier aus dem Bereich des Wirtschaftsminister Glos zu sprechen kommen, der vor etwa zwei Wochen ein Konzept vorgestellt hat, Bezug nehmend auf ein Institut für die Zukunft der Arbeit. Darin ging es darum, alle Hartz-IV-Empfänger mit einer Arbeitspflicht zu versehen, diese auch arbeiten zu lassen, und zwar ausschließlich für dieses Geld, welches sie als Existenzminimum im Bereich von Hartz IV bekommen. Eine Mehraufwandsentschädigung sollte es überhaupt nur dann geben, wenn sie detailliert per Rechnung nachgewiesen wird. All diejenigen, die Hartz IV bekommen, sollen definitiv diese Arbeit ausführen.

Jetzt lese ich Ihnen vor, was dieses Institut schreibt, warum das passieren soll und warum auf keinen Fall im öffentlichen Bereich, im Bereich der öffentlich Beschäftigten Tariflöhne gezahlt werden dürfen oder auch nur ortsübliche Löhne:

„Mit einer tariflichen oder ortsüblichen Entlohnung und der Etablierung eines sozialversicherungspflichtigen dauerhaften Arbeitsverhältnisses suggeriert Bürgerarbeit“

- man nimmt hierin durchaus Bezug auf Sachsen-Anhalt -

„einen regulären Arbeitsplatz. Dies macht andere Angebote im Niedriglohnsektor für die Zielgruppe unattraktiv und lädt dazu ein, langfristig im Transferbezug und in öffentlicher Beschäftigung zu verharren. Auch stellt die tariflich entlohnte Ersatzbeschäftigung einen Mindestlohn für Langzeitarbeitslose dar, sodass die Lohnflexibilität am unteren Ende der Entgeltskala begrenzt wird.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen, welche Katastrophe! Durch solche Dinge wird die Lohnflexibilität am unteren Ende begrenzt. Das muss natürlich verhindert werden. Wir haben noch nicht genug Niedriglöhne. Es müssen statt 3,50 € 3 € gezahlt werden, damit der Laden brummt!

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist ein Papier, welches Glos vorstellt, und zwar in einer Zeit, in der wir über das Existenzminimum und Mindestlöhne diskutieren. Ich sage Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wer das vertritt und sich dann über Armut beschwert, der ist nicht mehr sarkastisch, sondern der ist nur noch zynisch. Dagegen gilt es vorzugehen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Allerdings sage ich ganz deutlich: Die Kollegen haben den Grundgedanken von Hartz IV ganz gut verstanden. Das will ich ihnen schon bescheinigen.

Ich will ganz am Ende trotzdem noch sagen, dass wir natürlich auch noch Alternativen haben. Wir sehen, wie sich die Mindestlohndebatte in der Gesellschaft deutlich durchgesetzt hat. Wir sehen, dass nicht nur wir, wie im Bundestagswahlkampf 2005, uns mit diesen Dingen auseinandergesetzt haben. Nein, wir sehen auch, dass die SPD sogar in der Lage war, damit fast eine Wahl zu gewinnen. Wir sehen auch, dass es inzwischen gesellschaftliche Mehrheiten gibt, die sich gegen diese Trends wehren. Es gibt gesellschaftliche Mehrheiten, die in der Lage sind, diese Entwicklung zu verändern. Ich glaube, wir sind als Politiker gut beraten, diese Dinge zu erkennen und endlich zu umzusetzen.

Am Ende nur noch eines: Eine der schwierigsten und katastrophalsten Situationen, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, ist nach wie vor die Kinderarmut. Sie ist deswegen so katastrophal, weil es in dieser Gesellschaft die Gruppe ist, die von Armut am stärksten betroffen ist, und gleichzeitig die Gruppe, die am wenigsten dafür kann.

Es ist eine moralische Belastung für diese Bundesrepublik Deutschland, wenn sie nicht in der Lage ist, diese Dinge zu ändern. Es ist ein Fingerzeig für uns, diese Dinge zu ändern. Wir sehen auch, dass der Aufschwung in den letzten Jahren genau bei dieser Gruppe nicht angekommen ist. Sie stagniert auf einem extrem hohen Niveau. Etwa ein Drittel aller Kinder befinden sich bei uns in Hartz-IV-Haushalten und sind faktisch arm. Dagegen gilt es vorzugehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Vorschläge liegen auf der Hand: Ganztagsbetreuung, Versorgung mit Mittagsessen, freie Schülerbeförderung auch in der Sekundarstufe II, die Auflösung des gegliederten Schulsystems. All diese Dinge werden diskutiert.

Diese Reform brauchen wir in diesem Land, um dieses Problem anzugehen. Und diese Landesregierung hat sie nicht angegangen. An dieser Stelle besteht ein wirklicher Reformstau, der muss aufgelöst werden. Diese Landesregierung und dieses Parlament können darüber entscheiden, ob sie Reformblockierer sein wollen, ob sie diesen Reformstau beibehalten wollen oder ob wir endlich in der Lage sind, auf diese skandalöse Situation zu reagieren und sie zu ändern. Sie können sich gewiss sein, meine Damen und Herren, wir werden an dem Ball dran bleiben und wir werden Sie weiter treiben. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN)

Vielen Dank für die Einbringung und für Ihren Beitrag. - Bevor ich dem Herrn Ministerpräsidenten das Wort erteile, begrüße ich Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums Weferlingen auf der Südtribüne. Herzlich willkommen!

(Beifall im ganzen Hause)

Nun erteile ich dem Herrn Ministerpräsidenten das Wort. Bitte schön, Herr Professor Böhmer.