Protokoll der Sitzung vom 30.05.2008

Nun erteile ich dem Herrn Ministerpräsidenten das Wort. Bitte schön, Herr Professor Böhmer.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Gallert hat mit dem Angebot der konstruktiven Opposition begonnen. Ich würde den Ball insofern gern aufnehmen, als ich sagen möchte: Wenn dieser Bericht des Sozialministeriums, der auf Beschluss des Landtages erstellt und Ihnen zugeleitet worden ist, nicht hier diskutiert worden wäre, dann hätte ich das auch als Defizit empfunden. Insofern bin ich für diese Diskussion dankbar.

Geschlossen haben Sie mit einem Kurzvortrag über Ihr Parteiprogramm.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Das kann man an dieser Stelle auch machen. Aber das war nicht unmittelbar der Anlass, weswegen wir diesen Bericht vorgelegt und zur Diskussion gestellt haben.

In einer Frage haben Sie natürlich Recht. Darüber sind und bleiben wir unterschiedlicher Meinung, nämlich darüber, wie das Zusammenleben in einer Leistungsgesellschaft organisiert werden muss und zukünftig organisiert werden soll, dass jeder an seinem Platz in dieser Leistungsgesellschaft gleichberechtigt teilhaben kann, dass niemand durch irgendein Netz rutscht und dass wir trotzdem die Leistungsmotivation erhalten. Darüber haben schon frühere Generationen diskutiert und darüber werden auch zukünftige Generationen noch kontrovers diskutieren müssen.

Ich teile ausdrücklich nicht Ihre Meinung, dass die unterschiedlichen Begriffe von Einkommen und Armut nur gemacht worden sind, um das Thema zu verschleiern, die Öffentlichkeit zu verwirren und die Tatsachen nicht ernsthaft zur Kenntnis zu nehmen.

Der Bericht der Mitarbeiter aus dem Sozialministerium, für den ich mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bedanken möchte, ist ein sozialwissenschaftlich sehr sauberer Bericht mit exakten Definitionen, exakter Verwendung der Begriffe, wie sie von der EU-SILC vorgegeben sind, und einem ausgiebigen Quellen- und Literaturverzeichnis, wie es für seriöse wissenschaftliche Arbeiten

üblich ist. Bei solchen öffentlichen Stellungnahmen ist das im Grunde genommen eher selten. Ich kann jedem nur empfehlen, sich diesen Bericht zu besorgen, um sachgerecht argumentieren zu können.

Es ist auch wahr, dass wir in unserer Gesellschaft eine zunehmende Einkommensasymmetrie haben. Das ist uns allen schon aufgefallen. Es reicht nicht, das zu beklagen; es muss auch gegengesteuert werden. Das wird aber auch schon gemacht. Jeder von Ihnen kennt doch die Tarifkurve der Einkommensteuer. Die Bezieher niedriger Einkommen - ein großer Bereich - müssen überhaupt keine Einkommensteuer zahlen. Die 10 % mit den höchsten Einkommen müssen etwa 50 % des gesamten Einkommensteueraufkommens aufbringen. Das ist eine Asymmetrie der Steuerbelastung, mit der dieser Entwicklung gegengesteuert werden kann.

Sie wie wir beklagen die regionale Asymmetrie der Verteilung. Auch ich würde mir wünschen, dass SachsenAnhalt so hohe Steuereinnahmen wie Hessen oder Baden-Württemberg hätte. Aber dagegen gibt es seit Jahrzehnten den innerdeutschen Finanzausgleich, von dem wir leben.

Nur zu klagen und Polemik zu machen und nicht die Instrumente zu nennen, mit denen seit Jahren gegengesteuert wird, ist wenigstens unredlich. Deswegen muss auch auf diese Dinge hingewiesen werden.

Trotzdem haben wir Probleme, auch in Sachsen-Anhalt. Das wissen wir. Ich beziehe mich auf die Zahlen unserer Statistik von unserem Sozialministerium, weil darin das in Sachsen-Anhalt ermittelte mediane Äquivalenzeinkommen zugrunde gelegt wird. Das wird nicht getan, um zu täuschen und zu verwirren, sondern um die Vergleichbarkeit zwischen unterschiedlichen Regionen mit sonst nicht vergleichbaren Strukturen herzustellen.

Nur wenn man alles durcheinander bringt und die Begriffe nicht sauber trennt, entsteht das Chaos, von dem Sie gesprochen haben. Deswegen ist die saubere Bezugnahme auf Begriffe die Grundvoraussetzung für eine ehrliche und saubere Diskussion auf diesem Gebiet.

Natürlich wissen wir, wo die Armutsrisiken liegen. Sie liegen bei uns zunächst einmal in der hohen Arbeitslosigkeit. Wenn Sie sich die Zahlen anschauen, dann stellen Sie fest, dass auch bei der Armutsgefährdung der Jugendlichen die Arbeitslosigkeit der Eltern die erste und wichtigste Ursache ist.

Deswegen gibt es für uns nur ein Gegeninstrument: Arbeitsplätze zu schaffen und die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. Wir sind auf diesem Wege wirklich nicht erfolglos. Wir haben es aber noch lange nicht geschafft. Das wissen wir.

Wir wissen auch, dass wir, wenn wir Arbeitsplätze schaffen wollen, Existenzgründer brauchen. Ich sage das deswegen, weil ich die gestrige Diskussion über dieses Thema wenigstens am Fernseher verfolgen konnte. Das heißt, wir brauchen die Ermutigung zur Betriebsgründung. Wir brauchen die Ermutigung, Arbeitgeber zu werden und für andere Arbeitsplätze zu schaffen.

Weil das so ist, habe ich im Gegensatz zu Ihnen Verständnis dafür, dass nicht von Anfang an die Löhne gezahlt werden können, die wir uns wünschen würden. Ihr Problem mit dem Niedriglohnsektor kenne ich. Ich halte das für eine Maßnahme, die nur für eine Übergangszeit hinnehmbar ist und aus der wir herauswachsen müssen.

Zurzeit versuchen wir, mit Zusatz- und Aufstockungsbeträgen den Betroffenen zu helfen. Aber das kann keine Dauerlösung sein.

Die Frage, wie wir dann zu anderen Löhnen kommen, beantworten wir unterschiedlich. Ich kenne die Mindestlohndiskussion lange; wir haben sie in diesem Hause mehrfach geführt.

Ich sage Ihnen ganz freimütig: Wenn ich wüsste, dass die Arbeitgeber in Sachsen-Anhalt auf dem Geld sitzen und es nur aus Geiz nicht herausgeben, oder wenn ich wüsste, dass sie selbst das Geld akkumulieren, in die Schweiz schaffen oder goldene Türklinken anschaffen und dabei ihre Arbeitnehmer schlecht bezahlen, wäre ich derjenige, der für ein Gesetz kämpfen würde, um dies abzuschaffen. Aber das ist nicht so.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Unser Problem ist doch, dass die das noch gar nicht können, dass sie sich betriebswirtschaftlich erst einmal stabilisieren müssen. Manche Handwerker sagen mir: Ich kann größere Aufträge nicht annehmen, weil ich die Kosten nicht vorschießen kann, um das Material einzukaufen. Andere Handwerker sagen mir: Es gibt Monate - das sind nicht alle -, in denen für mich weniger übrig bleibt als das, was ich meinen Mitarbeitern auszahle.

Das müssen wir in einer solchen Aufbauphase, in einem solchen Übergangszeitraum schlucken. Ich sage: Es ist besser, mit Hilfsmaßnahmen, Zusatzeinkommen und staatlichen Sozialleistungen zu helfen, als diese Betriebe flach zu machen.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Ich habe gestern, als Sie hier über Existenzgründer diskutiert haben, den Redebeitrag von Herrn Thiel gehört. Ich hatte den Eindruck, er weiß, wovon er spricht, und kennt die Problematik.

Für die Existenzgründer müssen wir besondere Umstände zulassen. Wenn wir sagen würden, wer nicht in der Lage ist, die von uns gewünschte Lohnsumme zu zahlen, sollte überhaupt keine Existenz gründen und zu Hause bleiben, dann kämen wir mit der Entwicklung überhaupt nicht weiter. Das heißt, wir müssen solche Übergangszeiten hinnehmen. Das ist nicht unsere Zielvorstellung; da müssen wir herauswachsen. Aber da können wir nur herauswachsen, wenn die Betriebe mehr Umsatz generieren und Gewinne machen und dies dann auch leisten können.

(Zuruf von Frau Penndorf, DIE LINKE)

- Sie können sich gerne melden.

In diesem Jahr werden wir wahrscheinlich das erste Mal kaum noch oder jedenfalls weniger Probleme als bisher haben, junge Leute in Lehrstellen zu vermitteln. Ich vermute, spätestens in ein bis zwei Jahren werden die Betriebe um junge Leute werben. Eine solche Entwicklung bahnt sich auch bei den Facharbeitern an. Die Arbeitsverwaltung wendet sich an die Auspendler und sagt: Wir haben jetzt auch in Sachsen-Anhalt Arbeitsplätze; ihr müsst nicht mehr so weit fahren.

Natürlich wird niemand hier einen Arbeitsplatz suchen, wenn er nicht ordentlich bezahlt wird. Wir werden in den nächsten Jahren auch im Bereich der Facharbeiter eine Tarifentwicklung bekommen, und zwar aus demografischen Gründen und wegen der Arbeitsmarktsituation.

Ich sage ganz deutlich: Diese Form der Anpassung durch Wirtschaftswachstum und staatliche Übergangshilfen ist mir lieber als eine gesetzliche Regelung, mit der wir einen Teil der Arbeitnehmer beglücken und einen anderen Teil zur Arbeitslosigkeit verurteilen. Das sind die Unterschiede.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)

Sie haben zu Recht das Problem der Kinderarmut angesprochen. Das kennen wir. Ich habe mir gestern von den Mitarbeitern des Sozialministeriums noch einmal die Dinge erklären lassen, um hier nichts Falsches zu sagen. Hauptursachen der Kinderarmut sind erstens das Fehlen von Arbeit bei den Eltern und zweitens das Fehlen eines Elternteils.

Sie müssen sich die Zahlen einmal angucken. Kinder von Alleinerziehenden sind in einem viel höheren Maße armutsgefährdet. Das ist statistisch belegbar. Tatsache ist auch, dass in Hessen und in Baden-Württemberg etwa 20 % der Neugeborenen von einer nicht verheirateten Mutter entbunden werden und in Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 62 %. Das heißt, schon am Tage der Geburt besteht ein unterschiedliches statistisches Armutsrisiko.

Das sind Dinge, die man nun beim besten Willen nicht bei der Landesregierung abladen kann. Aber ich weiß auch, dass wir sie nicht tolerieren können und dass wir etwas dagegen tun müssen.

Gerade die Probleme, die Sie angesprochen haben, hat auch der Bundesrat in seiner letzten Sitzung aufgegriffen. Der Bundesrat hat - entweder einstimmig oder mit ganz großer Mehrheit - eine Entschließung gefasst, in der die Bundesregierung aufgefordert wird, bis Ende des Jahres die Regelleistung für Kinder nach dem SGB II sowie die Regelsätze nach dem SGB XII neu zu bemessen, auch unter Einbeziehung der Mittagsverpflegung in Ganztagsschulen usw. Das heißt, das Problem ist erkannt.

Es ist wahr - das kann man nicht abstreiten -, dass die Sätze für Kinder bei der Hartz-IV-Regelung anders sind, als sie früher in der Sozialhilferegelung waren. Damals waren die Sätze vom Alter der Kinder abhängig, während in der Hartz-IV-Regelung der gleiche Durchschnittssatz für 1- bis 13-Jährige festgeschrieben wurde. Das ist nicht sachgerecht.

Deswegen haben die allermeisten Länder die Bundesregierung einvernehmlich aufgefordert, diese Probleme zu lösen. Denn wir sind natürlich der Meinung, dass dies - Föderalismus hin oder her - eine Sache des Bundes ist, der diese Regelsätze festgelegt hat. Ich hoffe, dass dies auch geschieht. Der Bundesrat hat die Bundesregierung mit deutlichen Formulierungen beauftragt, bis zum Ende dieses Jahres diese Regelung vorzulegen.

Wir in Sachsen-Anhalt - Sie haben am Ende fast gesagt, dass die Landesregierung an diesem Elend schuld sei, weil sie nichts dagegen tue - haben das, was wir mit unseren Möglichkeiten und mit unseren Gesetzgebungskompetenzen tun konnten, schon getan. Wir werden uns auch weiterhin darum bemühen, dass die Leistung im Wirtschaftsbereich so wächst, dass die Möglichkeiten wachsen, denen in unserer Gesellschaft zu helfen, die durch eigenes oder fremdes Verschulden - das ist nicht unsere Diskussion - gegenwärtig gehindert sind, sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Das wird für dauernd eine Aufgabe bleiben.

Dass dabei der Bildungsbereich eine große Rolle spielt, können wir uns immer wieder sagen; aber das wissen wir. Eines will ich dazu noch sagen: Ich bitte, nicht davon auszugehen, dass dies alles nur eine finanzielle Frage ist. Das will ich einmal ganz deutlich sagen. Mit Geld kann man Leistungsmotivation nirgends ersetzen, auch nicht im Schulkindalter. Wir haben noch eine ganze Reihe anderer Probleme, über die wir reden müssen. Aber das ist vielleicht ein anderes Thema. - Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU, bei der SPD und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident, für Ihren Beitrag. Es gibt jetzt, wie nicht anders zu erwarten, drei Fragen, und zwar von Herrn Gallert, von Frau Bull und von Frau von Angern. Wollen Sie die beantworten? - Jawohl. Dann bitte schön, Herr Gallert.

Herr Böhmer, Sie können selbst entscheiden, ob das eine Frage oder eine Zwischenbemerkung ist. - Ich muss Sie doch noch einmal über einen Ihrer Grundirrtümer bei dieser Mindestlohndebatte aufklären.

(Oh! bei der CDU)

Solange wir eine hohe Sockelarbeitslosigkeit haben, werden wir ohne gesetzliche Regelung keinen selbstregulierenden Mechanismus auf dem Arbeitsmarkt haben, der höhere Löhne erzeugt. Solange wir eine solche Situation haben, ist jeder Unternehmer, der vernünftige Löhne zahlt, auf dem Markt völlig platt. Er ist nicht konkurrenzfähig. Er geht kaputt, wenn er vernünftige Löhne zahlt, solange andere die Möglichkeit haben, Dumpinglöhne zu zahlen. Dann verschwindet er vom Markt und ist nicht mehr da. Am Markt sind dann überhaupt nur noch diejenigen, die Dumpinglöhne zahlen.

Deswegen hat der Unternehmer das Geld nicht, einen Mindestlohn zu zahlen. Denn der Arbeitsmarkt ist ein Markt. Wenn ich diesen Markt nicht reguliere, dann regelt er sich nach Angebot und Nachfrage, und jeder, der versucht, seinen Leuten vernünftiges Geld zu geben, geht bankrott. Das ist die Situation.

(Unruhe bei der CDU)

Bitte schön, Herr Ministerpräsident.

Ich bin für jede Belehrung dankbar, auch wenn sie mich nicht überzeugt. Aber Sie hätten wenigstens dazusagen können, dass dieses System - wenn wir schon von Markt sprechen - nur funktioniert, wenn man neben Mindestlöhnen auch Mindestpreise einführt. Dann kriegen wir das hin. Darin haben wir auch Erfahrung. Wir wissen, wie man das macht, nicht wahr? Deswegen ist das ein bisschen schwierig.

(Beifall bei der CDU und bei der FDP)