Protokoll der Sitzung vom 07.07.2006

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Fußballbegeisterung hat sich weit über die Sportstadien, Vereine und Fanclubs hinaus im ganzen Land verbreitet, und zwar in einem Ausmaß, das wir bisher nicht kannten und in seiner positiven Form kaum zu hoffen wagten.

Kommen wir zunächst zum Fußball und dann zur Begeisterung. Ein Studienkollege von mir, selbst aus guten Gründen überzeugter Pazifist, vertrat die Ansicht, Fußball sei Kriegsersatz, und lehnte ihn deswegen ab. Nach kurzem Nachdenken muss man jedoch zu dem Schluss kommen: Gut so, wenn man den Krieg durch eine solche Sportart ersetzen kann.

(Frau Budde, SPD, lacht)

Emotionen können sich austoben. Es gibt Gegner, die man überwinden, aber nicht vernichten will. Vor allem aber gibt es Regeln: Wer im Abseits steht, darf nicht mehr weiterspielen, wodurch nicht nur er, sondern die ganze Mannschaft gestraft wird. Der erzieherische Wert ist unverkennbar.

Der Vergleich taugt sogar für die Erziehung zur Demokratie. Wer die Regeln nicht kennt oder anerkennt, verliert nicht nur, sondern darf schlichtweg nicht mitspielen. Wer sich in unserem Gemeinwesen nicht auskennt, wird

seine eigenen Angelegenheiten kaum durchsetzen können und schwerlich zu den Gewinnern zählen. Wer Fußball spielt, muss auch verlieren können, ohne die Hoffnung aufgeben zu müssen, irgendwann wieder einmal zu gewinnen - wie in der Demokratie.

Nun zur Begeisterung. Die Menschen identifizieren sich mit der deutschen Nationalmannschaft, und zwar auch nach deren Niederlage gegen Italien. Sie sagen mit ihren Flaggen zugleich ja zu ihrem Land und demonstrieren damit Identität. Gleichzeitig sind auch die Fahnen anderer Nationen zu sehen und werden von Hundertausenden Fans aus aller Welt geschwungen. Sie alle werden herzlich begrüßt und aufgenommen. Jeder drückt seiner Mannschaft die Daumen, jeder gesteht aber auch dem anderen für sein Land die gleiche Leidenschaft zu. Die Welt ist tatsächlich zu Gast bei Freunden.

Plötzlich nehmen wir auch zur Kenntnis, dass unser Land schlicht und einfach Deutschland heißt. Ich betone das deswegen, weil ich jahrelang erlebt habe, dass hierzulande das Wort Deutschland nahezu verboten war. In der alten Bundesrepublik sprachen viele nur von der Republik oder der Bundesrepublik und nahmen das Wort Deutschland nicht in den Mund. Diese Zeiten sind vorbei und ich freue mich darüber.

(Beifall im ganzen Hause)

Wir sprechen nun von Deutschland wie die Franzosen von Frankreich und die Italiener von Italien. Ich bin sicher, dass uns dies niemand als Nationalismus anrechnet, sondern als ganz normalen und selbstverständlichen Patriotismus.

Bertolt Brecht drückt dies in seiner Kinderhymne, die bekanntermaßen viele im Jahr 1990 zur neuen deutschen Nationalhymne machen wollten, mit den einfachen Worten aus: „Und nicht über und nicht unter anderen Völkern woll’n wir sein.“ Johannes Rau sagte, ein Patriot sei jemand, der sein Vaterland liebe; ein Nationalist sei dagegen jemand, der das Vaterland der anderen verachte oder gar hasse. So klar ist der Unterschied zwischen positiv und negativ.

Wir wissen, wovon wir sprechen, und können stolz darauf sein, dass wir nach schrecklichen Zeiten in unserer Geschichte auf der positiven Seite angekommen sind. Zu diesem Stolz können wir uns bekennen.

Ich persönlich halte nichts von dem Satz: „Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein“, weil ich zu diesem Zustand nichts beigetragen habe. Ich bin lediglich froh darüber, weil ich mir nichts anderes vorstellen kann. Aber der Zustand, den wir im Laufe der Jahrzehnte nun in Deutschland erreicht haben, ist uns nicht zugefallen. Es stecken eigene Anstrengungen dahinter. Deswegen halte ich einen gemeinschaftlichen Stolz darauf für durchaus berechtigt und nicht für ehrenrührig.

(Zustimmung bei der SPD, bei der CDU und bei der FDP)

Freilich muss uns auch klar sein, dass es kein Naturgesetz ist, dass dieser Zustand von Dauer ist, und dass wir deswegen stets an seiner Bewahrung arbeiten müssen.

Nun zu den Symbolen: Alle Länder haben Fahnen und Hymnen - so auch wir. Noch nie gab es auf den Straßen und Plätzen, an den Häusern, den Wohnungsfenstern, an unzähligen Autos und in ebenso vielen Händen so viele Fahnen in Schwarz-Rot-Gold.

Ein Bekannter sagte mir in diesen Tagen, wenn er noch vor wenigen Monaten seiner 13-jährigen Tochter vorhergesagt hätte, sie würde in Kürze Fahnen schwenkend und mit schwarz-rot-goldenen Farben auf den Wangen daher kommen, sie hätte ihn für verrückt erklärt. Nun ist dergleichen ganz normal. Diese Begeisterung ist gut; denn sie richtet sich nicht gegen jemanden.

So ist es auch mit der deutschen Nationalhymne. Der wunderbare Text der ehemals dritten Strophe wird nun selbst von den Fußballmillionären mitgesungen. Wer von uns wollte sich nicht zu diesen Zeilen bekennen?

Meine Damen und Herren! Wir haben es offenbar mit einem psychologischen Phänomen zu tun, und zwar mit einer gesunden, teils befreienden, teils Kräfte freisetzenden Reaktion. Das ist keine Massenpsychose, also nichts Krankhaftes, nichts Schädliches. Auch hierbei wissen wir, wovon wir sprechen; denn Deutschland hat Erfahrungen damit.

Es herrscht nun eine ehrliche Freude - eine Hochstimmung, der selbst nach der Niederlage vor drei Tagen kein traumatisches Tief folgte, weil es nämlich nicht nur um Fußball geht, sondern um eine öffentliche Angelegenheit, die das ganze Land erfasst hat.

Insofern ist es auch angemessen, im Landtag darüber zu diskutieren. Es geht nicht um die Frage, ob wir besser als andere sind, weil wir mehr Tore erzielen, sondern um die Frage, ob wir zunehmend besser mit anderen Ländern und Völkern ausgekommen, weil wir fair, sportlich und freundlich sind.

(Beifall im ganzen Hause)

Freundlichkeit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Gastgeberschaft. Ich habe gern Gäste und freue mich, wenn sie da sind. Wenn die Gäste diese Freude bemerken, geht es ihnen gut. Bricht jedoch unter den Gastgebern Streit aus, so tun sie damit ihren Gästen das Schlimmste an, was man ihnen zumuten kann. Es wird ungemütlich, niemand fühlt sich mehr wohl und keiner wird demnächst gern wiederkommen.

Wir haben in diesen Wochen den Streit im Lande, der unsere Gäste stören könnte, vermieden. Auch hat es keinen Wettbewerb zwischen den Parteien gegeben über die Frage, wer der Weltmeisterschaft nun näher stehe, sei es nun die SPD, weil Gerhard Schröder zusammen mit Franz Beckenbauer die Weltmeisterschaft nach Deutschland gebracht hat, oder sei es die CDU, weil Kanzlerin Angela Merkel auf der Tribüne Franz Beckenbauer umarmte und sich öffentlich freut, wenn Deutschland gewinnt.

Natürlich wollen wir besser sein als andere. Natürlich wollen wir jedes Spiel gewinnen, sonst brauchten wir keinen Sport zu treiben. Wir treiben Sport, um uns selbst zu beweisen, um uns zu steigern, um zu gewinnen. Das sind alles selbstverständliche Grundsätze, die auch für den Behindertensport gelten und sich auf weite Teile des übrigen Lebens in unserem Land übertragen lassen.

Die allgemeine Freude wird naturgemäß auch von der Furcht begleitet, dass nämlich die Freude zu schnell nachlassen oder gar in Trauer umschlagen könnte. Auch gibt es die Furcht, dass etwas passiert, was uns alle erschrecken würde. Natürlich lauern überall Gefahren. Selbstverständlich sind überall umfangreiche Sicherheitsvorkehrungen notwendig gewesen. Doch bis jetzt haben wir keinen Anlass, wie bei den Olympischen Spielen 1972 in München in Trauer zu verfallen.

Es gilt, parallel zu der Freude auch den Gefahren ins Auge zu sehen, sie nicht gering zu schätzen; aber wir sollten auf dem Seil bleiben, das heißt auf der Höhe, und uns nicht auf die eine oder andere Seite ziehen lassen und stürzen.

Meine Damen und Herren! Ganz offenkundig spüren und erleben wir Patriotismus während der Weltmeisterschaft in unserem Land. Die vielen schwarz-rot-goldenen Fahnen sind ein Signal dafür. Wir sollten uns diesen Patriotismus, der lange verschüttet gewesen ist, über die Weltmeisterschaft hinaus bewahren. Er bringt uns auch etwas mehr von dem dringend benötigten Optimismus. Das gilt für ganz Deutschland und folglich auch für Sachsen-Anhalt. Inwieweit sich dadurch unmittelbar die wirtschaftliche Lage verbessert, wird sich schwer beweisen lassen; verschlechtern wird sie sich deswegen jedenfalls nicht.

Wenn die Freunde bald von uns scheiden, werden sie vielleicht in anderen Angelegenheiten auch als Freunde wiederkommen. Der schöne Satz: „Die Welt zu Gast bei Freunden“, der übrigens von dem Österreicher André Heller stammen soll, war ein Versprechen. Angesichts unserer Geschichte war es ein gewagtes Versprechen; denn vor beinahe 60 Jahren stand fast die ganze Welt in Feindschaft zu Deutschland. Nun hat uns die Welt vertraut. Sie wurde nicht enttäuscht. Doch mit dem Vertrauen ist es im Privaten wie im Öffentlichen eine eigenartige Angelegenheit. Man kann es nur langsam erwerben, aber unter Umständen schlagartig verlieren. Sorgen wir dafür, dass uns das nicht passiert und wir unsere Freunde behalten.

Freundschaft braucht Pflege und macht gelegentlich Mühe. Brechts Kinderhymne beginnt sehr treffend mit den Worten „Anmut sparet nicht noch Mühe“. Wir müssen bereit sein, beides auch künftig und dauerhaft aufzubringen. - Danke schön.

(Beifall im ganzen Hause)

Für die Linkspartei.PDS spricht der Abgeordnete Herr Gallert. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen! Während der Fußball-WM wurden die Politiker Zeuge einer neuen deutschen Identität, die vielfach mit den Worten „friedlich“ und „unverkrampft“ beschrieben worden ist. Interessanterweise - darauf hat Herr Kosmehl schon hingewiesen - ist die politische Klasse in diesem Land nicht der Ausgangspunkt dieser neuen Entwicklung, sondern beobachtet diese ein Stück weit überrascht. Aber - wen sollte es wundern? - es gibt erste Versuche der politischen Klasse, dieses neue Phänomen zu definieren und zu instrumentalisieren.

Herr Stahlknecht, ich muss ganz ehrlich sagen, die Rede, die Sie heute gehalten haben, hätte ich bei diesem Thema in dieser Schärfe nicht erwartet.

(Beifall bei der Linkspartei PDS)

Überraschend ist diese Entwicklung an sich schon; denn bisher war das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nation schwierig, weil die Nation schwierig war. Die westeuropäische Mainstream-Diskussion in Geschichte und Politikwissenschaft fand den Begriff des deutschen Sonder

weges für die Herausbildung der deutschen Nation seit dem vorletzten Jahrhundert.

Im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Nationen entwickelte sich die deutsche Nation nicht im Ergebnis einer bürgerlichen Bewegung - manche würden sogar sagen: einer Revolution -, die sich gegen althierarchische und autoritäre Strukturen durchsetzte. Vielmehr waren strenge Hierarchien, eine Tendenz zum autoritären Staat und ein aggressiver Führungsanspruch nach außen wesentliche Elemente der Herausbildung der deutschen Nation, spätestens seit 1871.

Jetzt komme ich auf einen Gedanken, den Herr Stahlknecht heute sehr ausführlich dargestellt hat, zurück, und zwar auf das schwierige Verhältnis der Linken zur deutschen Nation. Das war erst einmal ein schwieriges Verhältnis der deutschen Nation zu seiner Linken. Spätestens 1871 - anders als in Frankreich, anders als in Italien, anders als in Spanien, anders als in England - hat man die Linke immer als wesensfremdes Element bezeichnet, als vaterlandslose Gesellen, als unzuverlässigen Teil, den man besonders beobachten müsse.

Wenn Sie das jetzt auch noch bestätigen, dann habe ich Ihre Vorurteile sehr wohl richtig verstanden, dann sage ich ausdrücklich: Genau aus dieser krankhaften Entwicklung heraus gab es eine Selbstisolation der Linken in ihrem Verhältnis zur deutschen Nation. Genau diese Tendenz der Ausgrenzung und Selbstausgrenzung haben Sie, Herr Stahlknecht, in Ihrer Rede heute wieder zu bedienen versucht. Dagegen wehren wir uns ganz heftig.

(Starker Beifall bei der Linkspartei.PDS - Frau Feußner, CDU: Warum reden Sie eigentlich alles kaputt?)

Das 20. Jahrhundert ist dadurch gekennzeichnet gewesen, dass diese Belastung der nationalen Identität der Deutschen und ein daraus resultierendes Staatsverständnis zu dem bisher einzigartigen Terrorregime des Nationalsozialismus geführt haben. Dies ist sicherlich nicht gesetzmäßig, nicht monokausal, aber es steht doch in einem unleugbaren Zusammenhang.

Autoritäre und antiliberale Traditionen haben durchaus einen wesentlichen Einfluss auch auf den Staatssozialismus der DDR gehabt und wurden darüber hinaus auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs als willkommene Instrumente im Kalten Krieg eingesetzt.

Das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Nationalität war und ist schwierig, weil eben diese Nation schwierig ist. Beim Besuch des Dessauer Bauhauses sagte mir dessen Direktor, dass die mehrfache Nichtwahl des Kandidaten der Linkspartei.PDS im Deutschen Bundestag zum Vizepräsidenten aus seiner Sicht nach wie vor Ausdruck mangelnder nationaler Identität gewesen sei; in Frankreich hätte man sich so etwas nicht vorstellen können.

Trotzdem erleben wir seit einigen Wochen massenhaft auf unseren Straßen ein Bekenntnis zur nationalen Identität, vor allem bei jungen Menschen, die nichts mit nationaler Überheblichkeit, mit autoritären Staatsvorstellungen oder mit strengen Hierarchien zu tun hat. Der neue Begriff des „Partyotismus“ mag da etwas despektierlich klingen; letztlich sollten wir jedoch nicht versuchen, daran etwas Negatives zu finden. Zumindest kommt darin zum Ausdruck, dass sich die nationale Identität und ein positives Lebensgefühl miteinander verbinden können. Das ist wohl nichts Schlechtes.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Aber, werte Kolleginnen und Kollegen, so vielschichtig die Geschichte der deutschen Nation ist, so differenziert sind auch nach wie vor die Bezüge der Deutschen zu ihrer Nation. Wenn vor nicht allzu langer Zeit der israelische Botschafter Simon Stein in Magdeburg ausführte, dass es zwischen Israel und Deutschland vor allem aufgrund der Geschichte keine „einfach normalen Beziehungen“ geben könne, so stimme ich ihm da ausdrücklich zu.

So bleibt letztlich zu konstatieren, dass es nach wie vor nicht wenige Menschen in diesem Land gibt, die aus emotionalen oder rationalen Gründen kein positives Verhältnis zur deutschen Nation haben können und wollen. Dass dies die Voraussetzung für das Erstarken nationalistischer oder extremistischer Kreise ist, das ist wirklich eine These aus dem Tollhaus.

Schauen Sie einmal: Man hat in Frankreich ein völlig ungebrochenes Verhältnis zur Nation, aber man hat dort eine unwahrscheinlich starke rechtsextreme Partei. Das nun als Voraussetzung dafür zu nehmen, dass dies nicht passiert, ist eigentlich durch die Politik und durch die Geschichte widerlegt.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS - Frau Feußner, CDU: Sie sind hier in der Gesellschaft noch nicht angekommen!)

Die interessante Frage, ob rechtsradikale Tendenzen durch eine starke nationale Identität eher gestärkt oder geschwächt werden, ist also, zumindest für mich, bis heute nicht entschieden. Zum einen gibt es die These, dass die fehlende Besetzung des Themas Nation - das ist ein wenig das, was Herr Stahlknecht heute gesagt hat - durch die Zivilgesellschaft ein Vakuum aufmacht, das es Nationalisten leicht macht, hier zu punkten.