Meine Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 58. Sitzung des Landtages der fünften Wahlperiode. Dazu möchte ich Sie alle recht herzlich begrüßen. Besonders begrüße ich auf der Tribüne die Gäste von der Landeszentrale für politische Bildung. Meine Damen und Herren, seien Sie uns herzlich willkommen!
Ich komme zu den Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung. Für die 31. Sitzungsperiode liegen folgende Entschuldigungen vor:
Herr Staatsminister Robra fehlt heute ganztägig. Er nimmt an der CdS-Konferenz sowie an der anschließenden Sitzung der Rundfunkkommission der Länder in Berlin teil.
Herr Ministerpräsident Professor Böhmer und Frau Ministerin Professor Kolb werden die heutige Sitzung aufgrund der Verleihung des Kaiser-Otto-Preises im Magdeburger Dom um 16.30 Uhr verlassen.
Ich komme zur Tagesordnung für die 31. Sitzungsperiode des Landtages. Die Tagesordnung soll um die Tagesordnungspunkte 17 a und 17 b erweitert werden. Dazu liegen zwei Anträge auf Aktuelle Debatten zu folgenden Themen vor: a) Zukunft der Jobcenter sichern - Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 5/1945 - und b) 60 Jahre Grundgesetz - 20 Jahre friedliche Revolution - Antrag der Fraktion der CDU - Drs. 5/1958.
Herr Präsident, ich würde zu der Tagesordnung gern beantragen, die Reihenfolge der beiden Themen der Aktuellen Debatte zu tauschen, sodass wir mit dem Thema „60 Jahre Grundgesetz - 20 Jahre friedliche Revolution“ beginnen und dann das Thema „Zukunft der Jobcenter sichern“ behandeln.
Herzlichen Dank, Herr Gürth. Ich hätte Ihnen den Vorschlag noch selbst unterbreitet, das so zu machen. Aber herzlichen Dank dafür, dass der Vorschlag aus Ihrer Mitte kommt. Die Themen für die Aktuelle Debatte am Freitag werden also in der eben beantragten Reihenfolge behandelt werden.
Vonseiten der Fraktionen gibt es den Vorschlag, die Tagesordnungspunkte 11, 12 und 13 noch in der heutigen Sitzung zu beraten. Darüber bestand Übereinstimmung, sodass wir den heutigen Tag etwas länger gemeinsam verbringen. Das ist möglich, weil wir heute keinen parlamentarischen Abend haben.
Für die Fragestunde haben wir zwölf Fragen vorliegen. In § 45 der Geschäftsordnung ist festgelegt, dass die Fragestunde nicht länger als 60 Minuten dauert. Ich schlage Ihnen aber vor, diese zwölf Fragen zuzulassen, und bitte Sie um Ihre Zustimmung dazu. Wir werden sehen, wie das vonstatten geht.
Das sind die Dinge, die zur Tagesordnung zu sagen sind. Gibt es noch Bemerkungen? - Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich um Abstimmung über die Tagesordnung. Wer der Tagesordnung zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Zustimmung bei allen Fraktionen. Damit ist die Tagesordnung so beschlossen worden.
Im Ältestenrat ist die Redezeitstruktur C mit einer Debattendauer von 45 Minuten vereinbart worden. Die Redezeit beträgt für die CDU-Fraktion zwölf Minuten, für die FDP-Fraktion fünf Minuten, für die SPD-Fraktion acht Minuten und für die Fraktion DIE LINKE ebenfalls acht Minuten.
Gemäß § 43 unserer Geschäftsordnung erteile ich zunächst der Fragestellerin, der Fraktion DIE LINKE, das Wort. Herr Dr. Eckert, Sie haben das Wort. Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Anlass für die beinahe zeitnahe Beratung der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage ist der in dieser Woche in sehr vielfältigen Formen durchgeführte Europaweite Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. An diesem Tag, so die Intention im Jahr 1993, sollen behinderte Menschen und ihre Organisationen auf Fortschritte, aber auch auf Hemmnisse und Probleme bei der Gleichstellung behinderter Menschen aufmerksam machen. Die nun vorliegende Antwort der Landesregierung auf unsere Große Anfrage gibt uns hierzu die Gelegenheit im Landtag.
Vorweg einen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf 78 Textseiten und in einem etwa gleich starken Anhang die vielen Zahlen und Fakten zu den neun Fragekomplexen zusammengetragen haben. Zusammen mit der Antwort auf die Große Anfrage unserer Fraktion zur integrativen Beschulung verfügen wir damit seit dem Jahr 2001 erstmals wieder über umfangreiche konkrete Fakten und Entwicklungstendenzen im Bereich der Teilhabe - oder besser: im Bereich der Nichtteilhabe - behinderter Menschen in der Gesellschaft.
In anderen Bundesländern ist es Tradition und auch Ausdruck der damit bekundeten Bedeutsamkeit dieses Politikfeldes, einmal in jeder Legislaturperiode einen Teilhabebericht oder auch einen Bericht zur Lebenssituation behinderter Menschen zu geben. In unserem Land ist es anscheinend Aufgabe der Opposition, die entsprechenden Fakten und Entwicklungslinien mit Großen Anfragen öffentlich zu machen.
Wie sind wir an die Fragestellung herangegangen? - Wir haben aus dem letzten Bericht der Landesregierung über die Lebenssituation behinderter Menschen aus dem Jahr 2001 die von der Landesregierung selbst - ich
betone: selbst - formulierten Aufgabenstellungen für wichtige Bereiche aufgegriffen und als Ausgangspunkt genommen. Das heißt, wir haben nicht unsere Vorstellungen, nicht unsere Aufgabenstellungen genommen, sondern die Aufgaben, die die Landesregierung für sich selbst formuliert hat.
Im Ergebnis ist festzustellen: In sehr vielen Bereichen hat die Landesregierung ihre eigene Aufgabenstellung nicht oder nur sehr ungenügend umgesetzt. Wichtige Fragen, beispielsweise Vergleiche mit anderen Bundesländern, sind nicht beantwortet worden, andere Fragen sind sehr tendenziös beantwortet worden. Insbesondere die Beantwortung der Frage nach Hemmnissen in Form von Gesetzen, in Form von Verordnungen und Richtlinien lässt sehr zu wünschen übrig.
Eine Reihe von Daten und Fakten, die wir nachfragten, sind - natürlich auch in anderen Zusammenhängen - beispielsweise in der Consens-Studie enthalten. An dieser beteiligt sich nach meiner Kenntnis auch das Land Sachsen-Anhalt. Dass die Landesregierung mit ihrer Antwort eigentlich öffentlich bekundet, diese Studie nicht zu kennen, ist schon sehr verwunderlich. Die Heimaufsicht hat, denke ich, beste Verbindungen zur Landesregierung, sodass ich davon ausgehe, dass Aussagen über das Personal in den Einrichtungen - natürlich anonymisiert - möglich gewesen wären, wenn die Landesregierung das gewollt hätte.
Zu einigen Grundaussagen. Erstens: Paradigmenwechsel. Die Landesregierung wollte - so im Jahr 2001 formuliert - die traditionelle, von Fürsorge und Fremdbestimmung geprägte Behindertenpolitik durch eine Politik ablösen, die Menschen mit Behinderungen vollständig und chancengleich in alle Bereiche des politischen, wirtschaftlichen und sozialen Lebens einbezieht. Oder anders gesagt: Die Landesregierung wollte von der Fremdbestimmung weg auf Selbstbestimmung hin orientieren.
Behauptet wird nun in der Antwort, dass die Grundsätze von Selbstbestimmung und Teilhabe in den Mittelpunkt der Fachpolitik getreten seien. Angeführt werden als Nachweis die Landesbauordnung aus dem Jahr 2005, der Rechtsanspruch auf ein trägerübergreifendes persönliches Budget, die Zusammenführung der Zuständigkeit für alle Maßnahmen der Eingliederungshilfe in der Sozialagentur und abschließend die Übernahme der Zuständigkeit für die Frühförderung seitens des Landes.
Meine Damen und Herren! Das ist sehr mager, wenn ich das unter dem Aspekt der Teilhabe und Selbstbestimmung betrachte. Nicht dazu gehören demnach Fragen der gesundheitlichen Versorgung, der Kommunikation und der Information sowie der Freizeit und des Tourismus, um nur einiges zu benennen.
Ich möchte zudem anmerken, dass barrierefreies Bauen seit dem Jahr 2001 in der Landesbauordnung verankert ist. Im Jahr 2005 wurden die Ausnahmetatbestände, um nicht barrierefrei bauen zu müssen, wesentlich erweitert. Aus meiner Sicht und mit Blick auf künftige Erfordernisse wurde die Landesbauordnung dadurch verschlechtert.
Beim persönlichen Budget gibt es auf den ersten Blick, wenn man die Tabelle betrachtet, eine positive Entwicklung. Beim zweiten Blick wird deutlich, dass es nach wie vor lange Bearbeitungszeiten und eine hohe Zahl von Ablehnungen gibt. In Sachsen-Anhalt wurden - mir sind zumindest keine anderen Zahlen bekannt - zwei träger
übergreifende Budgets bewilligt. Fast klagend wird festgestellt, dass nur Menschen mit einem relativ geringen Hilfebedarf das persönliche Budget beantragten.
Aber, meine Damen und Herren, wir kennen einige wenige mutige schwerst- und mehrfach behinderte Menschen, die sich über Gerichte in das persönliche Budget einklagen müssen. Meine Damen und Herren, an dieser Stelle sind Sie unehrlich. Bedauern Sie nicht, was Sie selbst verursacht haben!
Mit Verweis auf die aus meiner Sicht absolut bescheidenen Fortschritte meint die Landesregierung, dass das Ziel einer allumfassenden Integration und Teilhabe noch lange nicht erreicht sei.
Dieser Bewertung möchten wir uneingeschränkt zustimmen. Dazu gehört aber auch die Feststellung, dass Selbstbestimmung und Teilhabe noch lange nicht - noch lange nicht! - in den Mittelpunkt der Fachpolitik getreten sind. Die Entscheidungen und Argumentationen der Exekutive - sie liegen im Ausschuss für Petitionen in vielen anderen Formen vor - laufen dieser anzustrebenden Grundhaltung entgegen.
Unsere Auffassung wird außerdem durch die beinahe generelle Verweigerung der Landesregierung gestützt darzulegen, wie diese Ziele, Selbstbestimmung und Teilhabe durchzusetzen, durch die Landesregierung erreicht werden sollen.
Zweitens: Beschäftigung und Arbeit. Als Aufgabe wurde im Jahr 2001 formuliert, die Aus- und Fortbildungsangebote in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen zu verbessern und Erschwernisse, die den Übergang aus den Werkstätten in den ersten Arbeitsmarkt behindern, zu beseitigen.
Von der Landesregierung wurde in der Vergangenheit mehrfach behauptet, dass ca. 30 % der Mitarbeiter in den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen fehlplatziert seien. Seitens der Werkstattträger wird eine Vermittlungsquote von ca. 5 % für möglich gehalten. Die reale Vermittlungsquote liegt seit Jahrzehnten, obwohl der gesetzliche Auftrag der Werkstätten eine Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt ist, unter 1 %.
Voraussetzungen für eine Vermittlung auf den ersten Arbeitsmarkt sind, wenn man unterstellt, dass eine nennenswerte Zahl von Beschäftigten in den Werkstätten tatsächlich eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt hätten, wovon ich überzeugt bin, besondere Fortbildungsmaßnahmen und begleitende Maßnahmen. Aber unsere Frage nach diesen Aus- und Fortbildungsangeboten in den Werkstätten wurde nicht beantwortet. Vielmehr wurde erklärt, welche Fortbildungsmaßnahmen für die Angestellten und Betreuer der Werkstätten durchgeführt wurden.
Andere wichtige Hemmnisse für den Übergang aus einer Werkstatt auf den ersten Arbeitsmarkt wurden benannt, nämlich die geringe Beschäftigungsbereitschaft der Unternehmer, das Fehlen vorrangiger beruflicher Eingliederungsmaßnahmen und die mangelnden Alternativen für Grenzfälle.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Angabe der Landesregierung, dass seit dem Jahr 2005 in jedem Jahr mehr als 700 Menschen neu in die Werkstätten aufgenommen worden seien, ohne - das ist dazu anzumerken - dass das Land eine investive Unterstützung zur Schaffung neuer Plätze gewährte.
Zugleich wird deutlich - das zeigt die entsprechende Aufzählung in der Großen Anfrage -, dass die Landesregierung in diesem wichtigen Lebensbereich keine eigenen Anstrengungen und Initiativen entwickelt hat. Anstöße gaben die Bundesregierung mit der Aktion „Job 4000“ oder mit der „Unterstützten Beschäftigung“ seit dem 1. Januar 2009 sowie meine Fraktion hier im Landtag mit einem entsprechenden Antrag.
In Sachsen-Anhalt gibt es keine Budgets für Arbeit, wie in Rheinland-Pfalz, wo es 3 000 Budgets für Arbeit gibt. Mögliche Integrationsbetriebe oder CAP-Märkte sind im Land Marginalien, und Aktivitäten auf Bundesebene, um für neue Formen wie Außenarbeitsgruppen bessere Rahmenbedingungen zu schaffen, unterblieben - also Fehlanzeige.
Drittens: förderrechtliche und finanzielle Hemmnisse. Für die Landesregierung bestehen bei der Umsetzung der Prinzipien von Gleichstellung und Selbstbestimmung keinerlei Hemmnisse. Geradezu ängstlich vermeidet sie jegliche Analyse in diese Richtung. Hemmnisse würden eher nicht gesehen. Vielmehr stehe, so die Landesregierung, mit der Eingliederungshilfe ein Instrument zur Verfügung, um die Einbeziehung der Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft wesentlich zu unterstützen. Werden Hemmnisse benannt, so sind diese in jedem Fall nur außerhalb der Verwaltung, nur außerhalb der Landesregierung zu identifizieren.
Großes Lob erhält in jedem Fall die Bildung und das Wirken der Sozialagentur im Jahr 2004. Dabei muss klar gesagt werden, dass die Landesregierung die Richtlinien für die Arbeit der Sozialagentur vorgibt. Eine einzige Tabelle in der Großen Anfrage soll belegen, dass ambulante Angebote rasch angewachsen seien. So sei die Zahl der Leistungsberechtigten im stationären Bereich von 8 719 im Jahr 2001 auf 9 222 im Jahr 2008 moderat angewachsen, während die Zahl der Leistungsberechtigten im ambulanten Bereich im gleichen Zeitraum um etwa 2 500 auf 3 338 angestiegen sei. Wenn ich aber die Angaben zur Frühförderung als ambulante Maßnahme in diese Statistik einbeziehe, dann zeigt sich, weil ich dann 1 500 Personen wieder abziehen muss, dass die Fortschritte doch nicht so überragend sind.
Beachte ich, dass die Zahl der Leistungsberechtigten im stationären Wohnen fast gleich blieb, die Ausgaben pro Leistungsberechtigten trotz höherer Preise für Energie und Nahrung aber um beinahe 10 % sanken, so lässt das auf den ersten Blick mehr Effizienz vermuten. Dem ist aber nicht so; denn die Kostenreduzierung ist zu einem Großteil auf den Rückgriff auf die Renten der Betroffenen zurückzuführen.
Zu beachten ist weiter, dass der Anteil der Leistungsberechtigten im ambulant betreuten Wohnen von 2004 bis 2008 um nur 3,6 % stieg. In absoluten Zahlen: Während bis zum Jahr 2004 genau 478 Leistungsberechtigte mehr im ambulant betreuten Wohnen untergebracht wurden, erhöhte sich die Zahl in dem Zeitraum von 2005 bis 2008 nur noch um 350 Personen. Das Tempo der Ambulantisierung verlangsamte sich also.
Interessant sind auch die Angaben zu den Entgelten im stationären Bereich, die ohne jegliche Analyse oder Wertung erfolgten. Festzustellen ist an dieser Stelle, dass die Entgelte nach dieser Tabelle - eine Quelle für diese Tabelle fehlt - um mehr als 10 % stiegen, während andere Wohnformen finanziell benachteiligt wurden, bei denen es Steigerungsraten von 4 % gab.
Noch eine Anmerkung, die vielleicht erklärt, weshalb die Consens-Studie bei der Landesregierung „unbekannt“ ist. Die durchschnittlichen Ausgaben pro Leistungsberechtigten betrugen in Sachsen-Anhalt pro Jahr ca. 26 900 €, in den alten Bundesländern aber 36 000 €. Die Angleichung der östlichen an die westlichen Verhältnisse macht also in der Behindertenhilfe einen sehr großen Bogen um Sachsen-Anhalt. Wenn sich diesbezüglich nichts ändert, steuern wir neben den anderen Problemen auf einen Fachkräftemangel zu. Möchte ich wirklich Heimeinweisungen vermeiden, sind in diesem Bereich insgesamt Änderungen unumgänglich.