Vielen Dank, Frau Dr. Hüskens. - Wir kommen zum Beitrag der SPD. Frau Dr. Späthe, Sie haben das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich möchte an allererster Stelle meine Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass es gelungen ist, ein behindertenpolitisches Thema als ersten Punkt auf die Tagesordnung zu setzen, ein behindertenpolitisches Thema, das, wie die Debatte zeigt, sehr viel Zündstoff in sich birgt und das vor allem von außerordentlich unterschiedlichen Wahrnehmungen geprägt ist.
Ich gebe zu, die Antwort auf die Große Anfrage der LINKEN hat auch mich schwer beschäftigt, hat viel Zeit und viel eigene Recherche erfordert. Vor allen Dingen fiel es mir sehr schwer, eine Auswahl von Schwerpunkten zu setzen, anhand deren ich Ihnen heute die Dinge nahebringen möchte. Ich habe mich schließlich entschlossen, zu folgenden Bereichen Überlegungen vorzubringen:
Das Thema Frühforderung muss uns weiterhin beschäftigen; das Thema Gleichstellung der seelisch und geistig Behinderten in Sachen Betreuungsschlüssel muss uns weiter beschäftigen.
Die Ergebnisse der 85. Konferenz der Arbeits- und Sozialminister Ende 2008 müssen wir auswerten. Diese Konferenz hat beschlossen, dass alle Länder die gesetzlichen Grundlagen dafür zu schaffen haben, um Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte und selbstbestimmte Teilhabe am Leben zu ermöglichen. Ich wollte Sie über die konstruktive Rolle informieren, die Sachsen-Anhalt in diesem Prozess spielt.
Nicht zuletzt wollte ich über die verbindliche Anwendung der Steuerungsinstrumente Gesamtplan und standardisierter Entwicklungsbericht sprechen, die in der Tat zwar in den Sozialämtern zurzeit viel Arbeit machen, aber eben auch schon Ergebnisse in Bezug auf die Gewährung personenzentrierter Hilfen zeigen.
Das hatte ich also vor - bis ich die Pressemitteilung der LINKEN zur heutigen Debatte bekam. Diese veranlasst mich, Ihnen die eben genannten Punkte vorzuenthalten. Meine Damen und Herren, ich möchte auf den Inhalt der Pressemitteilung und die hier gemachten Ausführungen reagieren, weil ich der festen Überzeugung bin: So kann und darf das nicht stehen bleiben.
Ich denke auch, so kann man mit den Beschäftigten auf der Landes- und der Kreisebene, die auch an der Antwort mitgearbeitet haben, nicht umgehen.
Lieber Dr. Eckert, lieber Detlef, ich schätze dich als Vorsitzenden des Sozialausschusses und als engagierten Streiter für die Belange der Behinderten im Land sehr. Man kann im Eifer des Gefechts durchaus einmal über das Ziel hinausschießen, aber das war zu weit.
Zur Pressemitteilung. Darin heißt es: Erstens. Wesentlich für ein selbstbestimmtes Leben ist die eigene Wohnung. - Keine Frage!
Sie kritisieren die Landesregierung für ihre Aussage, es sei seit der Leistungserbringung aus einer Hand zu einem signifikanten Anstieg der Fallzahlen im betreuten Wohnen gekommen. Sie nennen einen Zuwachs von 478 Personen im Zeitraum von 2001 bis 2004 und von weiteren 350 Personen im Zeitraum von 2005 bis 2008. Sie sagen, das sei mäßig und entspreche gerade einmal dem Bundestrend.
Meine Damen und Herren! Nicht erwähnt wird allerdings, dass allein im Jahr 2004, in dem am 1. Juli die Leistungserbringung aus einer Hand für alle Formen der Behindertenhilfe eingeführt wurde - das war sozusagen die Geburtsstunde der Sozialagentur -, 564 Personen eine ambulante Betreuung neu bewilligt bekamen. Das sind mehr Fälle, als in allen Jahren zuvor insgesamt bewilligt wurden. Das bedeutet, dass sich nach der Übernahme aller Leistungen durch das Land allein die Anzahl der Bezieher dieser ambulanten Leistungen um 914 Personen erhöht hat. Das entspricht dem Dreifachen - und das ist signifikant.
Beachten Sie bitte auch, dass sich seit dem Jahr 2001 der Anteil der Personen, die ambulante Leistungen der
Eingliederungshilfe erhalten und in ihren Wohnungen leben, von 5,9 % aller Leistungsempfänger auf 15,9 % aller Leistungsempfänger erhöht hat.
Man kann ambulante Hilfe nicht nur auf die Hilfeart „ambulant betreutes Wohnen“ reduzieren, bei der seelisch behinderte Menschen oder infolge von Sucht seelisch behinderte Menschen in der Regel zwei- bis dreimal pro Woche von Sozialarbeitern oder Therapeuten in ihrer Häuslichkeit aufgesucht werden. Zur ambulanten Hilfe gehören auch die Leistungen der Frühförderung, die ambulanten Gruppenmaßnahmen, der ganze Katalog der Einzelfallhilfen und nicht zuletzt natürlich das persönliche Budget.
Zweitens. Ein weiterer Kritikpunkt in Ihrer Pressemitteilung gilt der unzureichenden Vergütung, insbesondere den Steigerungsraten der Vergütung für die Hilfeart „ambulant betreutes Wohnen“ im Vergleich zur stationären Betreuung. Tatsache ist jedoch, dass in den letzten Jahren in Sachsen-Anhalt Entgeltverhandlungen zwischen der Liga der Freien Wohlfahrtspflege und dem Ministerium geführt wurden, die regelmäßig eine lineare prozentuale Steigerung aller Entgelte zum Inhalt hatten. Stationäre Einrichtungen haben naturgemäß einen höheren Kostensatz, der bei einer gleich hohen prozentualen Steigerung absolut zu höheren Zuwächsen führt.
Drittens. Ihre Kritik an der Praxis der Bewilligung des persönlichen Budgets für Behinderte mit einem sehr hohen Hilfebedarf teile ich natürlich. Jeder dieser sechs Fälle ist einer zu viel. Es ist in der Tat unsäglich, dass diese Anträge unter dem Druck von Abgeordneten erst auf dem Tisch der Ministerin landen mussten, um einer Lösung zugeführt zu werden.
Die Aussage, Selbstbestimmung und Teilhabe seien in den Mittelpunkt der Fachpolitik gerückt, hat aber auch ihre Berechtigung. Denn es sind auf der Ebene der Bundespolitik Prozesse in Gang gekommen, die den Paradigmenwechsel auch in der Praxis einleiten werden, zum Beispiel der notwendige Umbau der Sozialgesetzbücher. Das sind Arbeiten, die letztendlich die Umsetzung der UN-Konvention zum Inhalt haben. Das sind Arbeiten, an denen auch das Land Sachsen-Anhalt konstruktiv teilnimmt und die es auf Landesebene fortsetzt.
Viertens. Sie teilen mit, dass Konzepte und Umbauszenarien, die aufzeigen, wie alle Menschen mit Behinderungen, die dies wünschen, ein selbstbestimmtes Leben erreichen können, ohne dass der Umfang des Sozialhaushalts ins Unermessliche steigt, nicht dargestellt würden. - Damit haben Sie Recht; denn die Anfänge von Umbauszenarien findet man in der Antwort leider nur versteckt und auch dann nur, wenn man weiß, dass es sie gibt.
Eines ist in der Tat ein Mangel der Antwort der Landesregierung: Es wird kaum interpretiert, es wird nichts ausgewertet; Probleme bei der praktischen Umsetzung und Erfahrungen werden selten ausgewertet. Insbesondere die Statistiken machen es einem an vielen Stellen schwer, Zusammenhänge zu erkennen oder Schlussfolgerungen zu ziehen.
Ich hätte mir eine Darstellung der Ziele der laufenden Aktivitäten und eine systematischere Darstellung gewünscht. Ich fordere, dass wir diese Informationen im Ausschuss zeitnah nachgereicht bekommen.
Meine Damen und Herren! Von einem vollzogenen Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe in unserer Ge
sellschaft allgemein kann noch nicht die Rede sein. Wir haben noch zu viele Barrieren abzubauen, auf der Straße und vor allem in den Köpfen. Wir haben dabei noch genug Arbeit zu leisten. Diese sollten wir gemeinsam sachlich und konstruktiv angehen. - Vielen Dank.
Herzlichen Dank, Frau Dr. Späthe. - Wir hören jetzt noch einmal einen Beitrag der Fraktion DIE LINKE, das Schlusswort von Herrn Dr. Eckert. Bitte schön, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Ministerin, es ist erstens, so glaube ich, unstrittig, dass der Umbau der Systeme ein langfristiger und auch ein sehr komplizierter Prozess ist und dass wahrscheinlich immer wieder, alle drei, vier, fünf Jahre, neue Anstöße nötig sind, um diesen Prozess nach vorn zu bringen. Insofern freue ich mich, dass alle Fraktionen gesagt haben, dass sie für Teilhabe und Chancengleichheit eintreten werden. Notwendig sind Ideen und gemeinsame Anstrengungen.
Zweitens. Sie sagen, die Hilfeerbringung aus einer Hand sei ein Fortschritt. Das kann von größerer Bedeutung sein; das will ich gar nicht in Abrede stellen. Aber wir haben gerade wieder im Ausschuss gehört: Eine Kombination von Leistungen gibt es laut Anweisung oder Orientierung der Sozialagentur anscheinend nicht.
Die wenigen Anträge von schwerstbehinderten Menschen auf Gewährung eines persönlichen Budgets werden - so kann man fast sagen - grundsätzlich abgelehnt, gehen vor Gericht. Es kann doch nicht sein, dass ich meine Rechte vor Gericht einklagen muss. Das geht einfach nicht.
Genau an dieser Stelle - das sage ich deutlich - ist das Prinzip der Leistungserbringung aus einer Hand nicht unbedingt hilfreich.
Frau Ministerin, Sie sagten, ich würde die Quote der ambulanten Hilfeleistung kleinreden. - Das stimmt nicht, das muss ich noch einmal sagen. Die ambulante Hilfeleistung, die Entwicklung von entsprechenden Dienstleistungen ist ein sehr komplizierter Prozess und eine große Herausforderung. Es geht mir vielmehr um eine kritische Analyse des bisher Erreichten. Diese Analyse liegt nicht vor.
Die Tabellen sind zum Teil nicht miteinander vergleichbar. Ich habe versucht, die einzelnen Zahlen gegeneinander aufzurechnen; es ist nicht möglich. Insofern ist es ein Problem. Aber kleinreden wollte ich es nicht; ich wollte vielmehr eine ehrliche, eine kritische Analyse.
Zu den Entgelten. Ich glaube, die Fragen der Steigerungsraten und dessen, was dort passiert ist, sehen die Beteiligten in diesem Fall ein wenig anders. Aber auch hier ist die Sozialagentur federführend. An dieser Stelle habe ich immer wieder Kritik, insbesondere an der Art und Weise, wie dabei vorgegangen wird.
Drittens. Frau Ministerin, Sie haben in der Antwort auf die Große Anfrage und auch jetzt in Ihrem Redebeitrag auf die Arbeit des Landesbehindertenbeirates hingewiesen. Es ist gut, dass es ihn gibt. Es ist sehr gut, dass er
gesetzlich verankert ist. Wir treffen uns regelmäßig in den Gremien, in den Arbeitsgruppen. Der Landesbehindertenbeirat fasst auch Beschlüsse.
Nun frage ich Sie: Hat die Landesregierung jemals Beschlüsse des Landesbehindertenbeirates in der Beratung aufgegriffen? In welchen Fällen hat sie sich daran gehalten oder überhaupt über die Anregungen diskutiert, die der Landesbehindertenbeirat als beratendes Gremium gegeben hat?
Seit Februar 2009 gibt es einen Entwurf zur Novellierung des Landesgleichstellungsgesetzes. Ich bin gespannt, wann und vor allen Dingen in welcher Form die Landesregierung diesen Entwurf einbringt, ob sie diesen Vorschlag des Landesbehindertenbeirates aufgreift und was davon übrig bleibt. Darauf bin ich wirklich gespannt. Gespannt bin ich auch darauf, ob das noch in diesem Jahr passiert.
Viertens. Sie sprachen als Problem, als große Herausforderung das Thema der älteren behinderten Menschen an. Wir müssen erreichen, dass behinderte Menschen über 60 Jahre betreut werden und dass dafür entsprechende Konzepte und Angebote entwickelt werden.
Aber es geht auch um die Menschen, deren Eltern jetzt 65 oder 70 Jahre alt sind. Viele der Menschen mit Behinderungen in diesem Alter leben noch in den Familien. Für diese muss ein ambulantes Angebot mit den entsprechenden Dienstleistungen entwickelt werden.
Dazu muss ich fragen: Welches Konzept hat die Landesregierung? Welche Mechanismen sollen installiert werden, damit diesen Menschen eben nicht als einziges akzeptables Angebot das Heim bleibt? - Hierbei geht es tatsächlich darum, gemeinsam darüber zu diskutieren, und natürlich auch um die Vorlage des Konzeptes. Wir haben nachgefragt. Es gab keine Antwort auf diese Frage.
Fünftens. Sie sprachen von den Verhandlungen in der Arbeitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz zur Reform der Eingliederungshilfe und führten auch Ängste an. Die Ängste der Eltern, der Schüler, der Kollegen usw. in der Schule sind das eine. Aber ich muss Ihnen sagen, die Ängste, die die Behindertenverbände in den Arbeitsgruppen vortragen, kommen doch nicht von ungefähr. Sie sind doch auch durch die Praxis unserer Sozialagentur begründet. Diese Ängste sind der Grund dafür, dass man sich auf bestimmte Fragestellungen nicht einlassen kann oder dass man bestimmte Fragestellungen wirklich sehr kritisch betrachtet. Ich bin schon gespannt - -
- Ja. Ich wollte nur darauf hinweisen, dass sie berechtigt sind und dass es ganz wichtig ist, dass man diese Ängste beachtet und natürlich in den Schlussfolgerungen auch berücksichtigt.
Sechstens. Barrierefreiheit als wichtiger Aspekt. Das ist richtig; das ist unser Antrag, den wir vor eineinhalb oder zwei Jahren gestellt haben. Er ist jetzt in der Diskussion. Ich bin auf die vorläufige Beschlussempfehlung wirklich gespannt; denn ich bin schon ein bisschen sauer, dass wir darüber während der letzten Beratung im Ausschuss nicht beraten konnten.
Siebentens. Der letzte Punkt: 20 Jahre Mauerfall. An die Frau Ministerin und auch die anderen Fraktionen: Die
Fortschritte sind nicht nur sichtbar; sie sind deutlich sichtbar, sie sind unbestreitbar. Aber ich muss Sie fragen:
Warum beanspruchen Sie allein für sich, dass Sie daran beteiligt waren? Ich war im November 1989 mit meinen Leuten auf der Straße. Wir sind gerollt und gehumpelt und haben mit protestiert. Wir waren dabei.