Protokoll der Sitzung vom 07.05.2009

Auf die Entwicklung bei der Eingliederungshilfe, auf die Frühförderung und auf den sicherlich noch verbesserungswürdigen gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.

Ich möchte meinen Blick genauer auf die Werkstätten für Menschen mit Behinderungen richten. Die Zahl der Leistungsberechtigten steigt stetig an. Der demografische Wandel scheint hier keine Rolle zu spielen. Wurden im Jahr 2001 noch 6 876 Berechtigte gezählt, waren es zum Stichtag 30. Juni 2008 schon 8 974. Die Werkstätten sind schon längst an die Grenzen ihrer Kapazitäten gestoßen. Hierbei ist ein intensiver Prozess des Nachdenkens über die Perspektiven notwendig.

Es kann meines Erachtens nicht sein, dass der Weg aus Förderschulen fast ausschließlich in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung führt.

(Zustimmung bei der CDU)

Genauso wenig darf die WfbM eine Sackgasse sein. Sie darf nicht für eine so große Anzahl von Menschen mit Behinderung die einzige Lösung sein. Jeder Mensch hat Potenziale. Jeder Mensch hat Chancen verdient. Gerade vor dem Hintergrund des allgemein prognostizierten Fachkräftemangels in Deutschland müssen neue Wege zur Förderung aller jungen Menschen gegangen werden.

(Zustimmung von Herrn Rothe, SPD)

Ich weiß - das wurde auch schon erwähnt -: Die Diskussionsprozesse laufen, erste Aktivitäten laufen. So begrüße auch ich als ein Ergebnis ausdrücklich die Einführung der unterstützten Beschäftigung seit Anfang des Jahres. Sie gibt zukünftig hoffentlich mehr Menschen eine Chance auf einen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz auf dem ersten Arbeitsmarkt.

Die unterstützte Beschäftigung kann ein wichtiger Mosaikstein für mehr Teilhabechancen von Menschen mit Behinderungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt werden. Allerdings müssen über die unterstützte Beschäftigung hinaus weitere Verbesserungen im Bereich der Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Arbeitsleben entwickelt werden. Trotz der Wirtschaftskrise ist hierbei auch die Wirtschaft gefordert, sich auf neue Ideen einzulassen.

Natürlich sind auch WfbM wirtschaftlich handelnde Unternehmen, müssen sich um Aufträge kümmern. Bei den vielen Besuchen in Behindertenwerkstätten staunt man aber immer wieder, welche technisch hochwertigen Produkte in diesen Werkstätten hergestellt werden. Das spricht natürlich erst einmal für die Mitarbeiter. Andererseits fragt man sich, ob diese Mitarbeiter dann nicht zumindest zu einem gewissen Teil auch direkt beim beauftragenden Unternehmen versicherungspflichtig beschäftigt werden könnten. Also, wie gesagt: Da scheint mir doch noch einiger Diskussions-, Regelungs- bzw. Handlungsbedarf zu bestehen.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die zu Fragenkomplex V Frage 1 aufgeführten Beispiele zeigen, dass die durch das SGB IX möglichen Instrumente viele positive Wirkungen zeigen. Das betriebliche Eingliederungsmanagement hat sich in vielen Unternehmen und Dienststellen bewährt und ist gelebte Praxis. Die Schwerbehindertenvertretungen sind gestärkt. Die strukturelle Zuordnung der Integrationsfachdienste zu den Integrationsämtern erweist sich zunehmend als richtungsweisend.

Zur Förderung von Integrationsprojekten möchte ich anmerken - auch das Thema ist schon einmal angerissen worden -, dass ich sie, auch wenn bei einigen Integrationsunternehmen nicht alles problemlos läuft -, als ein gutes Instrument ansehe. Mir sind jedenfalls gut funktionierende und anerkannte Projekte bekannt. Man sollte an diesem Modell deshalb unbedingt festhalten.

Ich bitte die Landesregierung, auch weiterhin innovative Modelle zur Integration von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt zu entwickeln. Einige gute Ansätze sind der vorliegenden Drucksache zu entnehmen.

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein weiteres wichtiges Thema ist die Zunahme der Anzahl älter werdender Menschen mit Behinderungen; auch darüber hat Frau Ministerin kurz gesprochen. Diese Tatsache ist eine erfreuliche Entwicklung, zeigt sie doch, dass sich die medizinischen und sozialen Rahmenbedingungen positiv auf die Gesund

heit und die Lebenserwartung aller Menschen auswirken.

Die Statistiken weisen eine Steigerung der Zahl der Leistungsberechtigten ab 60 Jahre von 1 629 Personen im Jahr 2001 auf 1 808 Leistungsberechtigte zum Stichtag 30. Juni 2008 aus. Die Prognose geht sogar von 2 735 Leistungsberechtigten im Jahr 2014 aus. Damit stehen wir vor ganz neuen Herausforderungen.

Ziel muss es dabei sein, die Relation der Betreuung in stationären Wohnformen zugunsten des ambulant betreuten Wohnens oder anderer ambulanter Wohnformen zu verändern. Ich gestehe, dass ich persönlich auch nicht allzu viel Sympathie für ein Verbleiben der älteren Leistungsberechtigten in den Wohnheimen an den Werkstätten für Menschen mit Behinderungen hege;

(Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)

denn auch diesen Personen muss nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsleben ein wirkliches Loslösen von diesen ermöglicht werden. Ich begrüße deshalb ausdrücklich das Ziel der Landesregierung, verstärkt auf den Ausbau abgestufter ambulanter Wohnformen einschließlich einer abgestuften Tagesstruktur zu setzen, um eine stationäre Betreuung zu vermeiden.

Auch hierbei sollte das persönliche Budget ein wichtiges Instrument sein, um gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Betreuern eine Betreuung in der eigenen Häuslichkeit zu ermöglichen und den Trend dahin generell zu verstärken. Auch hierüber gibt es derzeit einen großen Diskussionsbedarf mit dem klaren Auftrag, schnellstens Lösungen zu präsentieren.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte an dieser Stelle nicht versäumen, auf die Bedeutung der Einbeziehung der Menschen mit Behinderungen in die Entscheidungsprozesse der Landesregierung hinzuweisen. Ich denke dabei an den runden Tisch für Behinderte und den Landesbehindertenbeirat - beides wichtige Gremien -, die in den Kreisen der Menschen mit Behinderungen großes Ansehen genießen. Für den Prozess der Integration von Menschen mit Behinderungen sind beide Gremien wichtig, ermöglichen sie doch die unmittelbare Einbeziehung der Interessen dieser Menschen in die Arbeit der Landesregierung.

Nicht vergessen werden darf in diesem Zusammenhang die Beteiligung des Beauftragten der Landesregierung für die Belange der Menschen mit Behinderungen, der eine gute Zusammenarbeit mit allen Beteiligten pflegt.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Besondere Aufmerksamkeit möchte ich zum Abschluss auf die zukünftige Entwicklung der Eingliederungshilfe legen. Bekanntermaßen wird auf Bundesebene auch unter Beteiligung der Länder an der Modernisierung der Eingliederungshilfe gearbeitet. Stichworte in diesem Zusammenhang sind die Einführung eines Bundesteilhabegeldes und die Frage, ob die Unterscheidung zwischen „ambulant“, „teilstationär“ und „stationär“ noch zeitgemäß ist.

Sicherlich ist es heute noch zu früh, auf Landesebene hierüber zu diskutieren. Ich bin mir aber sicher, dass wir uns, wenn sich die Überlegungen hierzu konkretisiert haben werden, im Landtag bzw. im zuständigen Ausschuss ausführlich mit diesen Überlegungen befassen werden.

Sehr geehrter Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zusammenfassend bleibt anzumerken, dass

bei allen noch vorhandenen Problemen, bei allen leider immer wieder auftretenden kritischen Einzelfällen, die zumeist nicht wirklich zu entschuldigen sind, in unserem Land enorm viel geleistet wurde, um Menschen mit Behinderung eine wirkliche Teilhabe zu ermöglichen.

Der Grundsatz „ambulant vor stationär“ ist und bleibt die Basis des gegenwärtigen und zukünftigen Handelns. Die Inklusion der Menschen mit Behinderung ist das vorrangige Ziel.

Allerdings - das möchte ich auch in diesem Zusammenhang wieder sagen - reichen Gesetze und Geld dazu allein nicht aus. Soziale Integration, Inklusion und wirkliche Teilhabe erreichen wir nur, wenn es gelingt, Vorurteile abzubauen, Verständigung zu suchen und Gedankenlosigkeit entgegenzuwirken, und dies in den Köpfen und in den Herzen aller Menschen. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU und von der Regierungs- bank)

Vielen Dank, Herr Schwenke, für Ihren Diskussionsbeitrag. - Jetzt kommen wir zum Beitrag der FDP. Frau Dr. Hüskens, Sie haben das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Über das Thema „Teilhabe von Menschen mit Behinderungen“ haben wir im Landtag schon mehr als einmal diskutiert. Wir haben dabei schon eine ganze Reihe von Aspekten ausgetauscht, sodass ich mich in den fünf Minuten Redezeit, die ich für meinen Beitrag gemäß der Redezeitstruktur C habe, auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren werde.

Wir haben mit der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der LINKEN umfangreiches Zahlenmaterial vorgelegt bekommen. Wir wissen nun, was wir schon vorher zu wissen glaubten, nämlich dass sich das Land Sachsen-Anhalt durchaus im bundesweiten Trend bewegt, dass wir vieles getan haben, aber mit dem Erreichten noch nicht zufrieden sein können.

Ein Grundproblem treibt uns Liberale dabei besonders um; denn die gegenwärtige Freiheitsbilanz des Sozialstaates ist gerade im Bereich der Behindertenpolitik an unserem Ideal gemessen negativ. Unser Sozialstaat ist noch immer ein konservativer Wohlfahrtsstaat, dem es vor allem um die Sicherung des materiellen Lebensstandards geht.

Der Sozialstaat hat dabei Menschen vielfach sehr fürsorglich vernachlässigt. Er degradiert sie zu Almosenempfängern. Er enthält ihnen immer noch wesentliche Anreize und Möglichkeiten vor, sich mit eigenen Leistungen um eine Verbesserung ihrer Lebenssituation zu kümmern.

Eine individuelle Lebensgestaltung bleibt vielen Personen vorenthalten, da sie aufgrund ihrer sozialen Lage durch staatliche Stellen, aber auch durch die Renten-, Gesundheits- oder Sozialhilfeträger in oft guter Absicht entmündigt werden. Die Vielzahl von Kostenträgern, insbesondere in diesem Bereich, schafft einen bürokratischen Dschungel, in dem sich Bürger in zunehmendem Maße verlieren.

Damit geraten Selbstbestimmung und Chancengleichheit als Grundzüge einer liberalen Gesellschaft in Gefahr, und zwar nicht durch einen repressiven Staat - meine Damen und Herren, ich glaube, das können wir uns alle vorstellen, damit kann man auch umgehen -, sondern durch die Hilfen eines vermeintlich fürsorglichen Staates, was viel unauffälliger, aber meiner Meinung nach allumfassender ist.

(Zustimmung bei der FDP)

Dies gilt heute für nahezu alle Bereiche der Sozialpolitik, in ganz besonderem Maße aber für den Bereich der Menschen mit Behinderungen, und zwar trotz der bundesgesetzlichen Änderungen im Jahr 2001. Wir geben in diesem Bereich sehr viel Geld aus, sind aber praktisch nach wie vor nicht in der Lage, zumindest jenen Menschen, die es - objektiv betrachtet - mit entsprechender Assistenz könnten, ein selbstbestimmtes Leben, etwa außerhalb stationärer Einrichtungen, zu gewährleisten.

Dies muss aber bei dem Menschenbild, das wir alle im Plenum haben, bei dem Menschenbild, das sich in unserer Verfassung niederschlägt und das sich in unserer Rechtslage niedergeschlagen hat, Ziel unserer Sozialpolitik sein. Ich bin mir ganz sicher, dass das auch Ziel aller Fraktionen hier im Landtag ist.

Seit einigen Jahren, also nicht erst seit der UN-Konvention, versuchen wir, uns diesem Ziel zu nähern. „Ambulant vor stationär“ oder „trägerübergreifendes persönliches Budget“ sind zwei Stichworte, die heute von den Kollegen, die eine etwas längere Redezeit haben als ich, schon genannt worden.

Dass wir noch nicht so weit sind, wie wir es uns wünschen, liegt sicherlich nicht an der Böswilligkeit Einzelner, auch nicht an gesetzlichen Vorgaben. Es liegt in unserem Bundesland etwa an den ökonomischen Rahmenbedingungen, an einer gesellschaftlichen Grundstimmung, die sich nach wie vor damit schwertut, Menschen mit Behinderungen als eigenverantwortliche Bürger zu betrachten. Es liegt an der Zersplitterung der Kostenträger, es liegt auch an dem, was wir in den letzten Jahren mit umfangreichen Fördermitteln aufgebaut haben, nämlich an großen stationären Einrichtungen.

An all diesen Baustellen ist in den letzten Jahren gearbeitet worden. Die Bauordnung von 2005 ist bereits genannt worden. Mein Eindruck ist, dass wir damit nicht schlechter dastehen als andere Bundesländer. Wir diskutieren heute also, ob das Glas halb leer ist, wie Dr. Eckert meint, oder ob das Glas halb voll ist, wie Frau Dr. Kuppe vorgetragen hat.

(Zuruf von der SPD: Mehr als halb voll!)

- Das ist mir egal, solange wir uns darüber einig sind, dass wir den Wasserstand nicht absenken wollen, sondern dafür sorgen wollen, dass das Glas zukünftig voll ist - dann brauchen wir die Diskussion auch nicht mehr - und dass wir den eingeschlagenen Weg weitergehen wollen.

Es schadet sicherlich auch nicht, Herr Dr. Eckert, dass wir als Parlamentarier dabei eher ungeduldig sind, dass wir eher unserer Unzufriedenheit, unserer Ungeduld Ausdruck verleihen. Ich denke, dass dies eine ganz normale Rollenverteilung ist, dass die Landesregierung dann schon darauf hinweisen wird, dass es natürlich viele positive Aspekte gibt.

Ich erinnere an eine Diskussion, die wir im Sozialausschuss geführt haben. Dabei ging es um die Frage: Können Kinder mit Behinderungen in allgemeinbildenden Schulen beschult werden? - Wir haben drei Anläufe gebraucht, ehe seitens der Landesverwaltung das Problem, das wir dort gesehen haben, überhaupt wahrgenommen wurde, nämlich dass man immer Kinder mit körperlichen Behinderungen im Fokus gehabt hat, sinnesbehinderte Kinder zum Beispiel aber völlig außen vor gelassen hat.

Als wir dann einen dritten Anlauf mit dem Kultusminister genommen haben, hieß es dann: Na, das ist doch ganz selbstverständlich, wir werden uns darum kümmern. - Allein der Vorgang zeigt aber, dass es eben nicht selbstverständlich ist. Wir müssen an diesem Punkt weiter arbeiten.

Deshalb müssen wir im Landtag auch weiter darüber diskutieren, immer wieder darüber diskutieren, immer wieder unserer Ungeduld Ausdruck verleihen, damit wir auf diesem Weg vorankommen. Denn wenn wir unserer Zufriedenheit Ausdruck verleihen würden, könnten wir davon ausgehen, dass sich alle Beteiligten hinsetzen und sagen würden: Das ist ja schön. - Dann würde sich in diesem Bereich nichts mehr bewegen.

Ich glaube, in einem Punkt sind wir uns alle einig: Wir müssen hier noch sehr viel tun. Wir müssen wirklich dicke Bretter bohren, um in unserer Gesellschaft auch das Verständnis durchzusetzen, dass Menschen mit Behinderungen ein Recht auf gesellschaftliche Teilhabe haben, ein Recht haben, einfach als Menschen behandelt zu werden; denn das sind sie. Sie sind niemand, der einer bevormundenden Fürsorge bedarf, über dessen Kopf hinweg wir entscheiden können.

Wenn wir uns das immer wieder klar machen, dann können wir - darin bin ich mir sicher - in einigen Jahren sagen: Wir haben hier ein Glas, das zumindest dreiviertel voll, wenn auch noch nicht ganz voll ist. Dann müssen wir nicht mehr darüber diskutieren, ob wir eher die negativen oder eher die positiven Seiten sehen wollen. - Ich danke Ihnen.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

Vielen Dank, Frau Dr. Hüskens. - Wir kommen zum Beitrag der SPD. Frau Dr. Späthe, Sie haben das Wort.