Protokoll der Sitzung vom 07.05.2009

Ich möchte noch auf den sechsten Komplex eingehen. Dieser betrifft die älteren Menschen mit Behinderungen. Das ist ein Komplex, mit dem wir uns in den nächsten

Jahren äußerst intensiv auseinandersetzen müssen. Aufgrund der demografischen Entwicklung und der Alterung der Bevölkerung sind natürlich auch die Belange der Menschen mit Behinderungen ganz besonders zu betrachten.

Gott sei Dank, sage ich an dieser Stelle, sind Menschen mit Behinderungen von den positiven demografischen Entwicklungen genauso betroffen wie nichtbehinderte Menschen. Das bedeutet aber, dass wir mit dem Blick auf den steigenden Anteil alt werdender Menschen mit Behinderungen, die auch leistungsberechtigt sind, eine systematische Lösung brauchen.

Schwerpunkt muss auch hierbei der Grundsatz der Gewährung ambulanter vor teilstationären und stationären Leistungen sein. Ziel ist es, in den nächsten Jahren den Ausbau weiterer abgestufter ambulanter Wohnformen voranzubringen einschließlich einer entsprechend abgestuften Tagesstruktur, um älteren und alt werdenden Menschen mit Behinderungen einen würdigen Lebensabend zu ermöglichen.

Das korrespondiert mit einem weiteren Komplex der Großen Anfrage, nämlich dem selbstbestimmten Leben und Wohnen. Insgesamt gilt es, die selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben in all ihren Fassetten bei allen Instrumenten, bei allen Abläufen, bei allen Prozessen in der Verwaltung und bei der Leistungsgewährung zugrunde zu legen. Diesem Ziel dient auch die Einführung des Gesamtplanverfahrens und des Entwicklungsberichtes im laufenden Jahr.

Zu Beginn des Jahres 2009 sind diese neuen Instrumente, die natürlich noch nicht wirken können, in Kraft getreten. Ich bin fest davon überzeugt, dass diese beiden Instrumente geeignet sind, einen guten Beitrag zur Steuerung im Einzelfall zu leisten. Es soll nämlich die ganzheitliche und umfassende Betrachtung eines Einzelfalles ermöglicht werden.

Zugleich soll dem Wunsch- und Wahlrecht durch eine frühzeitige Einbeziehung der Leistungsberechtigten bei der Ermittlung der Ziele, der Gestaltung und der Kooperation der Hilfen entsprochen werden. Hierbei werden wir den Einzelfall besser im Auge haben können und auch Hilfen viel besser organisieren können. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir damit richtige Instrumente auf den Weg gebracht haben.

(Beifall bei der SPD)

Ich möchte noch einige Sätze zu den Perspektiven sagen. Mit der Einführung des SGB IX wurde der Paradigmenwechsel hin zu einer umfassenden Teilhabe behinderter Menschen eingeleitet. In den vergangenen acht Jahren haben wir Erfahrungen gewonnen. Wir haben Veränderungen vorgenommen. Ich sehe für die Landesregierung einen großen Ansporn, diesen Weg weiterhin zu beschreiten, damit ein umfassendes Verständnis von Teilhabe zustande kommt, die Akzeptanz von behinderten Menschen in der Gesellschaft insgesamt vorankommt und die Inklusion weiter in die alltägliche Realität vordringt.

Das wird ein langfristiger Prozess bleiben. Das wird ein dauerhafter Prozess sein müssen, Herr Dr. Eckert. Davon gehe ich nicht ab. Aber die Landesregierung misst diesem Gesichtspunkt der vollen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben tatsächlich einen hohen Stellenwert bei.

Unterstützungsbedarfe von Menschen mit Behinderungen müssen möglichst in Regelsystemen vorangebracht werden. Hinsichtlich dieses Punktes befinden wir uns noch in einer heftigen Auseinandersetzung mit anderen Sozialleistungsträgern außerhalb der Eingliederungshilfe.

Die ersten ermutigenden Erfolge bei der Einführung des persönlichen Budgets sollen weiter ausgebaut werden, um die Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen zu verbessern. Das ist das erklärte Ziel der Landesregierung.

In diesem Zusammenhang bringen wir uns auch aktiv in die Diskussionen auf der Bundesebene ein. Zwischen dem Bund und den Ländern soll eine Vereinbarung darüber getroffen werden, wie die Modernisierung der Eingliederungshilfe zu erreichen ist. Die Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe wird seit nunmehr zwei bis drei Jahren intensiv zwischen dem Bund, den Ländern und den Verbänden erörtert.

Notwendige gesetzgeberische Veränderungen werden in diesem Zusammenhang vorbereitet und sollen auf der diesjährigen Konferenz der Arbeits- und Sozialminister erörtert werden. Dabei werden auch die entsprechenden Anhaltspunkte aus der UN-Konvention mit beachtet.

Die Vorstellungen bei der Weiterentwicklung der Eingliederungshilfe sind sehr, sehr weitgehend, nämlich weg von der einrichtungsbezogenen Betrachtung hin zu einer personenbezogenen Betrachtung. Damit haben Sie absolut Recht: Das ist ein Systemwandel. Ich würde gar nicht von einem Paradigmen-, sondern von einem Systemwandel sprechen.

Das heißt aber, wir müssen die vorhandenen Ängste - die kennen Sie genauso gut wie ich, Herr Dr. Eckert - bei vielen Verbänden, bei manchen Betroffenen ernst nehmen. Dazu gilt es, die entsprechenden Gespräche zu führen, damit wir diesen Systemwechsel solide und wahrscheinlich in einem Stufenprogramm hinbekommen.

Ähnlich sieht es beim Ausbau der integrativen Beschulung aus. Auch dort müssen wir die Bedenken, die zum Teil von Elternseite, zum Teil vonseiten der Lehrerinnen und Lehrer an Regel- und Förderschulen geäußert werden, ernst nehmen und die entsprechenden Lösungen entwickeln, und zwar gemeinsam. Der Bildungskonvent hat sich damit befasst und wir werden im Landtag als Ergebnis der Arbeit des Bildungskonventes entsprechende Beschlüsse fassen.

Zur Barrierefreiheit. Auch damit befassen wir uns im Landtag. Dabei haben wir schon eine ganze Menge erreicht, aber wir werden natürlich auf dem Gebiet weiter voranschreiten müssen. Im Konjunkturprogramm II wird auch dieser Punkt beachtet werden. Ich hatte alle Kolleginnen und Kollegen der Landesregierung angeschrieben, in den Projekten im K II den Aspekt der Barrierefreiheit mit zu beachten. Natürlich wird es nicht umzusetzen sein, wenn nur das Dach oder die Fenster oder die Fassade saniert werden sollen. Aber in anderen Bereichen ist es durchaus möglich.

Ich will als Allerletztes, Herr Dr. Eckert, - das kann ich mir wirklich nicht verkneifen - das Jahr 2009 und damit das Gedenken an den 20. Jahrestag des Mauerfalls zum Anlass nehmen, um zu rekapitulieren: Woher kommen wir in der Behindertenhilfe?

(Herr Gürth, CDU: Ganz wichtig!)

Wenn ich mir die Situation der Menschen mit Behinderungen vor dem Jahr 1989 anschaue und mir anschaue, was wir in den vergangenen 20 Jahren hier im Land Sachsen-Anhalt entwickelt haben, dann, meine Damen und Herren, ist das Glas mehr als halbvoll.

(Lebhafter Beifall im ganzen Hause)

Vielen Dank, Frau Ministerin. Frau Dr. Kuppe, es gibt eine Nachfrage der Abgeordneten Frau Bull. - Frau Bull, bitte, Sie haben das Wort.

Frau Ministerin, in dem zuletzt Gesagten - das haben Sie am Beifall meiner Fraktion gemerkt - stimmen wir Ihnen ausdrücklich zu.

Dennoch weitere Nachfragen: Worin sehen Sie die Ursachen dafür, dass in Sachsen-Anhalt relativ wenige Maßnahmen hinsichtlich der Teilhabe am Arbeitsleben gefördert werden, und zwar solche, die sich zwischen den traditionellen Maßnahmen, die in den Werkstätten angeboten werden, und dem „reinen“ - so sage ich es einmal - ersten Arbeitsmarkt ansiedeln? - Als Beispiel dafür möchte ich die CAP-Märkte nennen.

Die zweite Nachfrage: Wie steht die Landesregierung zu dem Grundsatz, dass auch ambulante Hilfemaßnahmen für Menschen mit sehr hohem Hilfebedarf zugänglich sein müssen?

Drittens. Was wird die Landesregierung unternehmen, um die von Herrn Dr. Eckert angesprochenen großen Einkommensunterschiede bei den Fachkräften, die in dem Bereich unterwegs sind, abzubauen?

Um mit Letzterem anzufangen: Wir werden in den entsprechenden Kommissionen mit den Verbänden und mit der Liga die Gespräche darüber führen, wie wir dort zu einer Harmonisierung bei den Einkünften kommen. Die Analyse liegt vor. Daraus werden wir im Dialog die entsprechenden Veränderungen - wahrscheinlich auch wieder schrittweise - zu erreichen versuchen.

Was Integrationsprojekte für Menschen mit Behinderungen auf den verschiedenen Sektoren des Arbeitsmarktes anbelangt, verfolgen wir insbesondere das Ziel, die Zugänge zum ersten Arbeitsmarkt zu erweitern. Wir wissen um die Hemmnisse - Herr Dr. Eckert hat sie noch einmal beschrieben -, und wir bemühen uns derzeit, über das Instrument der unterstützten Beschäftigung zusammen mit den Agenturen für Arbeit und natürlich unter Einbeziehung der Integrationsämter die Möglichkeiten zu erweitern, die Übergänge vor allem für die jungen Leute von Anfang an zu verbessern. Wir wollen durch das Zugehen auf konkrete Betriebe mit dem Grundsatz „Erst platzieren und dann qualifizieren“ die notwendigen Voraussetzungen schaffen, um dort zu sichtbaren Verbesserungen zu kommen.

Dabei sind die CAP-Märkte vielleicht nur ein wirkliches Spezialgebiet, das ein Zwischenglied zwischen einer Werkstatt und konkreten Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt darstellt. Nach meiner Kenntnis sind die Anträge, die bisher vorlagen, zum Teil wieder zurückgezo

gen worden. Darüber können wir uns im Einzelfall gern unterhalten.

Sie hatten noch eine Frage?

Menschen mit hohem Hilfebedarf.

Menschen mit hohem Hilfebedarf, insbesondere was die Gewährung des persönlichen Budgets bzw. eine Kombination von unterschiedlichen Hilfen in diesem Bereich anbelangt. Beim persönlichen Budget - auch das hat Herr Dr. Eckert dargestellt - gibt es in einer außerordentlich geringen Anzahl bisher das trägerübergreifende persönliche Budget, das in diesem Feld durchaus zur Unterstützung beitragen könnte, beispielsweise durch ergänzende Hilfe zur Pflege.

Auf der anderen Seite gibt es auch relativ wenige Anträge bzw. die Mehrzahl der Anträge betrifft „leichtere“ Fälle. Ich glaube, dass wir in diesem Feld durch die Entwicklung neuer Angebote und die Eröffnung von Kombinationsmöglichkeiten von Förderangeboten weiter vorankommen. Ich bin sehr daran interessiert, dass wir exemplarisch beweisen können, dass wir auch für Schwerstbehinderte die entsprechenden Hilfen in einer sinnvollen und notwendigen Kombination auf den Weg bringen. Aber dabei haben wir in der Tat noch Nachholbedarf.

(Zustimmung bei der SPD)

Vielen Dank. Weitere Fragen sehe ich nicht. - Wir kommen dann zu den Debattenbeiträgen der Fraktionen. Als Erster erhält für die CDU-Fraktion der Abgeordnete Herr Schwenke das Wort. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Wenige Tage nach dem Europäischen Protesttag für Menschen mit Behinderungen dürfen wir heute die Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage der LINKEN im Landtag diskutieren.

Erst einmal auch von mir der Landesregierung herzlichen Dank, vor allem natürlich den zuständigen Mitarbeitern, für die umfängliche Beantwortung der Fragen.

Die Antworten sind aus meiner Sicht sehr detailliert und spiegeln die kontinuierliche und erfolgreiche Arbeit der Landesregierung auf den Weg zur wirklichen Teilhabe von Menschen mit Behinderungen wider.

Wenn auch die Fragen und Antworten nur auf die Jahre seit dem Jahrtausendwechsel abzielen, gestatten Sie auch mir jetzt, im 20. Jahr nach dem Mauerfall, eine Anmerkung zu Situation Behinderter zu DDR-Zeiten. Damals ist den Betroffenen wirklich übel mitgespielt worden, wurden behinderte Menschen weggeschlossen und diskriminiert, wurden Menschen menschenunwürdig behandelt. Das war und ist für mich auch ein Beleg für in der DDR begangenes Unrecht. Gerade für die Menschen mit Behinderungen war auch deshalb die Wiedervereinigung Deutschlands ein Segen.

Seit der Wiedergründung Sachsen-Anhalts nach der Wende haben alle Landesregierungen, egal welcher Couleur, erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Lebenssituation benachteiligter und behinderter Menschen zu verbessern. Mit Gesetzen wurden Rahmenbedingungen wesentlich verbessert, zig Millionen Euro wurden in die Infrastruktur investiert.

Die Erfolge sind offenkundig. Allerdings bleibt nach wie vor noch viel zu tun. Dies ist auch eine Erkenntnis aus der Antwort der Landesregierung. Das merken wir in vielen kritischen Diskussionen im Ausschuss für Soziales und natürlich auch bei Gesprächen mit Betroffenen und den Akteuren vor Ort.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich will in meinem weiteren Redebeitrag versuchen, einige wenige Bereiche näher zu beleuchten.

Zu den großen Erfolgen der letzten Jahre gehört meines Erachtens neben der Einführung des SGB IX und den Behindertengleichstellungsgesetzen in Bund und Land die Ende des Jahres 2005 beschlossene Bauordnung Sachsen-Anhalts, die barrierefreies Bauen im Interesse von Menschen mit Behinderungen klar festschreibt - eine Erfolgsgeschichte, die vor allem in vielen Kommunen erhebliche positive Reaktionen ausgelöst hat und weiterhin auslöst. Das ist vor allen Dingen in dem Wettbewerb „Barrierefreie Kommune“ klar dokumentiert und nachzuvollziehen.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist unzweifelhaft die Einführung des trägerübergreifenden persönlichen Budgets. Sachsen-Anhalt konnte als Modellland zeitig Erfahrungen sammeln. Nach etwas zögerlichem Beginn entwickeln sich nun die Antragszahlen durchaus positiv. Auch die Bewilligungen lassen einen positiven Trend erkennen.

Allerdings muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass finanzielle Einsparungen nicht das Ziel dieses Modells sein dürfen. Hierbei geht es um die Verbesserung des selbstbestimmten Lebens der Betroffenen, um mehr Teilhabe und Integration.

(Zustimmung von Frau Weiß, CDU)

Ich bitte alle Beteiligten ausdrücklich darum, dies immer zu berücksichtigen. Ich bleibe optimistisch, dass das trägerübergreifende persönliche Budget eine Erfolgsgeschichte werden wird.

(Zustimmung bei der CDU)

Auf die Entwicklung bei der Eingliederungshilfe, auf die Frühförderung und auf den sicherlich noch verbesserungswürdigen gemeinsamen Unterricht für Kinder mit und ohne Behinderung möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.