Protokoll der Sitzung vom 18.06.2009

Meine Damen und Herren! Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 1 b:

Aussprache zur Regierungserklärung

Es wurden folgende Redezeiten für die Fraktionen vereinbart: DIE LINKE 24 Minuten, CDU 37 Minuten, FDP zehn Minuten und SPD 23 Minuten. - Als erstem Redner erteile ich dem Fraktionsvorsitzenden der LINKEN, Herrn Gallert, das Wort. Bitte schön, Herr Gallert, Sie haben das Wort.

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die Ankündigung des Themas „Perspektiven zukünftiger Haushaltspolitik“ in dieser Woche hat bei uns erst einmal einige Fragen aufgeworfen. Im Grunde genommen gab es zwei mögliche Anlässe, zu diesen Dingen zu sprechen. Der eine war das vorgelegte Strategiepapier des Finanzministers, der einige radikale Vorschläge für die Haushaltsaufstellung für die nächsten beiden Jahre veröffentlich hat, der andere war die Bundesratsentscheidung in der letzten Woche bezüglich der so genannten Schuldenbremse.

Nun war das Rätseln an dieser Stelle durchaus Gegenstand intensiven Nachdenkens, denn es lässt sich Folgendes festhalten: Zu beiden Dingen muss man unterschiedlich Stellung nehmen. Denn eines funktioniert in der Logik nicht: Man kann nicht in ein und derselben Woche ein solches Strategiepapier vorlegen und gleichzeitig im Bundesrat einer Schuldenbremse zustimmen. Das ist das erste Problem.

(Beifall bei der LINKEN)

Das sehen Sie ausdrücklich anders. Aber, Herr Böhmer, selbst wenn nach dieser Neupositionierung ein solcher Notfall festgestellt worden wäre, ein Problem haben Sie immer: Niemand von uns weiß, wie lange diese Krise dauert, aber die Schuldenbremse verlangt, dass jetzt dafür ein Tilgungsplan festgelegt wird. Dazu sage ich ausdrücklich: Das funktioniert beides nicht. Aber gut, wir sind flexibel.

Sie haben heute über die Bundesratsentscheidung gesprochen. Dieses Themas sollten wir uns annehmen, weil das ein anderes Thema ist als die eigentliche Haushaltsaufstellung, die uns im zweiten Halbjahr beherrschen wird. Es stellt sich die Frage nach externen Rahmenbedingungen für die Aufstellung des Haushaltsplans des Landes Sachsen-Anhalt für die nächsten zehn, 15 oder 20 Jahre. Über diese externen Rahmenbedingungen muss man sprechen. Ich will das gern tun.

Ich gehe noch einmal auf die Entscheidung zur Schuldenbremse ein. Die Entscheidung zur Schuldenbremse - Sie haben das in der Chronologie noch einmal aufgezählt - diagnostiziert eine strukturelle Überschuldung öffentlicher Haushalte. Dies dürfte auch in diesem Raum unstrittig sein. Der Bund, die Länder und die Kommunen in ihrer Gesamtheit leiden an einer strukturellen Überschuldung ihrer Haushalte, sie leiden an der extremen Zinslast, die sie deshalb zu tragen haben. Diesbezüglich dürfte zwischen dem Bund, den Ländern und den Kommunen Einigkeit bestehen, vor allem aber im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Die Frage ist allerdings - dazu gibt es unterschiedliche Antworten -, woher diese strukturelle Unterfinanzierung der öffentlichen Haushalte und deren strukturelles Defizit kommt.

Für die Schuldenbremse gibt es einfache Aussagen, die man auf folgende Begriffe herunterbrechen kann: Die öffentlichen Haushälter waren bisher zu verschwenderisch, sie haben keine ordentliche Haushaltsdisziplin gehabt, sie haben immer viel zu viel Geld für irgendwelche Dinge ausgegeben - die typische FDP-Argumentation -, und um ihnen endlich mal ordentlich auf die Finger zu klopfen, verbieten wir ihnen jetzt, Schulden aufzunehmen. - Das ist die Logik der Schuldenbremse. Das ist die Logik, die auch diejenigen vertreten, die der Schuldenbremse zugestimmt haben.

Unsere Position ist ausdrücklich eine andere. Dies ist nicht die Ursache dafür, dass wir ein strukturelles Defizit in allen öffentlichen Haushalten zumindest in der Summe haben, nein, dies ist ausdrücklich eine Fehldiagnose.

Diesbezüglich gibt es die Möglichkeit, sich die Geschichte des Landes Sachsen-Anhalt anzuschauen. Dass Anfang der 90er-Jahre - übrigens in der ersten Legislaturperiode wie auch in der zweiten Legislaturperiode - große Kredite aufgenommen wurden, erklärt sich ganz einfach aus den Kosten der Transformation. Das kann man

weder der ersten noch der zweiten Landesregierung vorwerfen.

Aber ich will auf einen Fakt hinweisen: Wir waren Ende der 90er-Jahre schon kurz davor, einen ausgeglichenen Landeshaushalt zu haben, wir waren kurz davor, Ende der 90er-Jahre eine schwarze Null zu schreiben. Wir haben eine Nettoneuverschuldung gehabt, die sich bei ca. 2 bis 3 % des Haushaltsvolumens bewegt hat, und es war absehbar, dass dies beendet werden konnte.

(Frau Dr. Hüskens, FDP: Aber nur in der Pla- nung, nicht in der Umsetzung!)

Dann kam der entscheidende Punkt, dass es 1999/2000 mit der Eichel’schen Steuerreform zu einer massiven Reduzierung des Steueraufkommens in der Bundesrepublik Deutschland kam. Innerhalb von zwei Jahren hat die Bundesrepublik Deutschland auf 10 % ihrer Steuereinnahmen verzichtet - im Bund, im Land, in den Kommunen. Ab dieser Zeit ging das strukturelle Defizit der öffentlichen Haushalte los. Seitdem haben wir dieses Problem, und darin liegt die Ursache.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU)

Sie liegt nicht in den verschwenderischen Haushältern, sondern sie liegt in dem freiwilligen Verzicht auf diese Steuereinnahmen. Seitdem befindet sich die Bundesrepublik Deutschland im OECD-Vergleich, was die Steuerquote anbelangt, am untersten Ende aller entwickelten Industrienationen. Die Bundesrepublik Deutschland ist das Land, das am meisten auf Steuereinnahmen verzichtet und die Steuern bei denjenigen belässt, die sie zahlen könnten.

Diesbezüglich gibt es aber auch Unterschiede. Der größte Unterschied besteht nicht in der Mehrwertsteuer, er besteht nicht in den Verbrauchssteuern - das können wir sehr wohl bei den Tankstellen sehen -, sondern der größte Unterschied im OECD-Vergleich besteht bei der Besteuerung von Kapital, von Vermögen, von Einkommen und von Börsenumsätzen.

(Zurufe von der CDU und von der FDP)

Das sind die Ursachen und das ist das, was mit der Eichel’schen Steuerreform in den Jahren 1999 und 2000 radikal durchgesetzt worden ist. Das hat zu den strukturellen Defiziten in allen öffentlichen Haushalten geführt. Das ist die Ursache, die man bekämpfen muss; denn die Ursache ist bis heute im Wesentlichen nicht aufgehoben worden. Das ist der Unterschied im Herangehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Was war eigentlich die Grundlage für dieses Herangehen? Was war das ideologische Fundament? - Das ideologische Fundament lässt sich ganz einfach beschreiben: Wir benötigen einen schlanken Staat, weil der Markt es richten wird. Am besten ist, der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung und aus seiner Regelungsfunktion in der Gesellschaft immer weiter zurück; denn der Markt wird es richten.

Eine ganz klassische Aussage aus dieser Zeit ist: Die Gewinne, die nicht besteuert werden, sind die Investitionen von morgen und die Arbeitsplätze von übermorgen. Das war damals die zentrale Logik. Diese ging bis zur Internet-Seite des Bundesfinanzministers, der genau diese Logik angewendet hat: Das, was wir an Steuern nicht einnehmen, sind die Arbeitsplätze von morgen.

Wir wissen heute, dass diese Logik strukturell und substanziell falsch war. Die Steuern, die wir nicht aus Gewinnen und Vermögen eingenommen haben, haben eine Finanzmarktblase erzeugt, die uns die Krise beschert hat, über die wir jetzt zu reden haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Das ist das Problem, mit dem wir uns hier auseinanderzusetzen haben. Das ist die Situation, die uns in Sachsen-Anhalt im nächsten Jahr Steuermindereinnahmen in Höhe von 1,5 Milliarden € beschert. Das ist das Problem, um das es geht.

(Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

- Herr Tullner, das müssen Sie sich an dieser Stelle einmal anhören; es ist vielleicht ganz lehrreich für Sie.

Im Grunde genommen ist es so, dass es in vielfacher Betrachtung der Situation längst Konsens ist. Wenn ich mir die Reden von SPD und CDU zur aktuellen Finanzmarktkrise auf der Bundesebene anhöre, dann sagen die fast nichts anderes mehr. An dieser Stelle sage ich ausdrücklich: Darüber kann man sich jetzt aufregen, die Wahrheit tut immer weh, aber es ist völlig zutreffend, dass die Dinge genau so gelaufen sind.

Mit diesem Problem müssen wird uns auseinandersetzen, weil der jetzt ärmer gewordene Staat, der auf 10 % seiner Steuereinnahmen verzichtet hat, in dieser Situation ursprünglich die Prognose hatte, er könnte auf dieses Geld verzichten, weil durch eine solche Politik die Wirtschaft in einem Maße angekurbelt werden wird, dass er zumindest im Bereich des sozialen Ausgleichs sehr viel weniger investieren müsste, als er es bisher tat.

Aber genau das trat nicht ein. Die Arbeitslosigkeit stieg. Wir haben die Situation in den sozialen Sicherungssystemen, beispielsweise durch Minijobs, immer weiter verstärkt. Die Anforderungen an den Staat, an diesen Stellen zu finanzieren, wurden immer größer.

Das strukturelle Problem der Bundesrepublik ist: Auf der einen Seite hat man strukturell auf Einnahmen verzichtet und auf der anderen Seite wurden die sozialen Ausgleichsfunktionen, die der Staat zu tragen hatte, immer größer. Das ist die Zange, in der sich die öffentlichen Haushalte befinden. Diese Zange muss man beseitigen. Eine Schuldenbremse hilft dabei überhaupt nichts. Man muss an die Ursachen herangehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt haben wir in der Bundesrepublik Deutschland die Situation, dass sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass sich der Rückzug des Staates aus der Regulierung und aus seiner gestalterischen Verantwortung nicht gelohnt hat. Vielmehr ist es inzwischen - etwa seit sechs Monaten; zumindest wenn ich mir die Sonntagsreden anhöre - Konsens, dass der Staat wieder aktiv eingreifen muss, dass er wieder Verantwortung übernehmen muss, dass er in einer Art und Weise in wirtschaftliche Prozesse eingreifen soll, die man sich vor zwei Jahren noch nicht hätte vorstellen können.

Schlagartig - innerhalb von Wochen - stehen sage und schreibe 600 Milliarden € - 600 Milliarden €! - für diese Dinge zur Verfügung: für den Bankenrettungsfonds 480 Milliarden €, für die Zukunftsinvestitionen 100 Milliarden €, für verschiedene Konjunkturprogramme 30 Milliarden €, 50 Milliarden € oder 60 Milliarden €, je nachdem. Wir kommen auf mehr als 600 Milliarden €.

Das Problem, vor dem wir jetzt stehen, verschärft die Situation der letzten zehn Jahre noch einmal, und zwar in Folgendem: Wir haben zwar einen Staat, der ca. 600 Milliarden € für die Bekämpfung dieser Krisenerscheinungen bereitgestellt hat, aber dieser Staat nimmt sie nicht ein. Vielmehr haben wir einen Staat, der sie im Wesentlichen auf Kredit finanziert. Er hat also Geld bereitgestellt, das er eigentlich nicht hat, und dies vor dem Hintergrund, dass es ohnehin schon ein strukturelles Defizit in den Staatsfinanzen gibt. Das ist das Problem, vor dem wir stehen.

Ich sage hier mit aller Deutlichkeit: Diese Blase hält genau noch drei Monate, nämlich bis zum 27. September. Dann wird darüber diskutiert werden, wie diese extreme Divergenz zwischen dem Ausgabeverhalten auf der einen Seite und dem Einnahmeverhalten auf der anderen Seite wieder ausgeglichen wird. Es gibt im Wesentlichen zwei Wege, die sich sehr gut auf der Rechts-Links-Skala in der politischen Landschaft definieren lassen.

Die eine Variante wird jetzt von Wissenschaftlern - aber noch nicht von Politikern; genau bis zum 27. September - diskutiert, nämlich die massive Erhöhung der Mehrwertsteuer, die nachher dieses Defizit wieder ausgleichen soll. Die andere Alternative ist, die Defizite der Bundesrepublik Deutschland bei der Kapitalgewinnbesteuerung endlich wieder zurückzuholen und zumindest auf das OECD-Mittelmaß zu bringen. Das würde uns wirklich Einnahmen - man kann unterschiedliche Berechnungen anstellen - von mindestens 50 Milliarden € oder 60 Milliarden € im Jahr bescheren. Das sind die beiden politischen Wege, die man gehen kann.

Ich sage ausdrücklich - das ist eine ganz klare Ansage -: Wenn Schwarz-Gelb die Mehrheit in der Bundesrepublik Deutschland bekommt, dann werden wir es mit einer Mehrwertsteuererhöhung zu tun haben. Ich würde die SPD an dieser Stelle gern herausnehmen; ich kann es leider nicht, da die Erfahrungen in letzter Zeit andere waren.

Wir sagen ganz deutlich: Wir werden für die andere Alternative kämpfen. Es ist nicht mehr die Frage, ob es nach dem 27. September Steuererhöhungen geben wird, sondern die Frage wird sein, welche Steuern erhöht werden und wen ich damit treffe. Treffe ich die breite Masse, die ohnehin schon durch die Krise und die Arbeitslosigkeit bedroht ist, oder treffe ich diejenigen, die jahrelang an diesem politischen ökonomischen System verdient haben, nämlich diejenigen mit den großen Vermögen, diejenigen mit den großen Kapitalzuwächsen, diejenigen mit den großen Einkommen? Das ist die politische Alternative, die auch vor Sachsen-Anhalt steht.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen zweiten Entwicklungsweg, der in den öffentlichen Haushalten gegangen werden wird. Diesbezüglich stellt sich die Frage, ob die öffentliche Daseinsvorsorge in ihrem Finanzierungssystem bedroht wird. Dafür muss man nicht viel Phantasie haben. Diese Phantasie hatte der Finanzminister bereits. Er hat ein Strategiepapier vorgelegt, in dem die Dinge im Wesentlichen aufgeschrieben sind.

Ich sage ganz deutlich, dass die Schuldenbremse keine Antwort auf diese Situation, auf die gesellschaftlichen Herausforderungen, die wir hier haben, ist. Sie wird ihre Funktion auch nicht erfüllen.

Herr Böhmer, ich finde es schön, dass Sie sagen: Ja, wir versuchen diese Schuldenlast, die es dann möglicher

weise immer noch gibt, nicht auf die Kommunen umzuwälzen, sondern sie dort über Entschuldungsprogramme, über Unterstützungen zu entlasten. Man hätte Ihnen das Strategiepapier von Herrn Bullerjahn zeigen müssen. Dieses Teilentschuldungsprogramm ist gestrichen, und zwar für die nächsten Jahre.

(Minister Herr Bullerjahn: Das stimmt nicht!)

- Gut: von 74 Millionen € auf 4 Millionen € reduziert. Klar: Es ist nicht gestrichen worden; es existiert noch.

Die FAG-Zuweisungen sind schon bei dem Anhörungstext aus dem April - unterschiedliche Berechungen - entweder um 94 Millionen € - im Strategiepapier - oder um 120 Millionen € - Berechnung des Städte- und Gemeindebundes - reduziert worden. Im Strategiepapier sollen sie jetzt noch einmal um 34 Millionen € bzw. um 47 Millionen € reduziert werden.

Es wird klar aufgezeigt, wo es hingehen soll. Das alles geschieht unter der Bedingung, dass wir in den nächsten beiden Jahren über eine 1 Milliarde € Schulden aufnehmen. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, dass dieses Geld in absehbarer Zeit auch nicht zur Verfügung steht. Wie reagieren wir dann in einer solchen Situation, was kommt dann auf die Kommunen und andere zu?